Im 17. Jahrhundert unternahmen viele junge Männer aus dem deutschen Hochadel einen (!) "Grand Tour", d.h. eine höfische Bildungsreise ins europäische Ausland, um wesentliche Adelstechniken zu erlernen und Kontakte zu anderen Höfen herzustellen. Antje Stannek stellt in ihrer Studie den "Grand Tour" vor, wobei sie die Reise nicht aus der Perspektive der bildungsbürgerlichen Leistungsgesellschaft beschreibt, also nicht Nutzen und Funktion der Reise in den Mittelpunkt stellt, sondern die jungen Männer selbst und damit die Lebenswelt mobiler Jugendlicher. Stanneks Arbeit stellt damit auch für die historische Bildungsforschung einen interessanten Beitrag zur bislang noch wenig erforschten jugendlichen Lebensphase in der höfischen Umgebung dar. In diesem Zusammenhang deutet Stannek die Reise im Anschluss an den Initiationsansatz des französischen Anthropologen Arnold v. Gennep als ein Initiationsritual der frühneuzeitlichen Adelsgesellschaft.
Im ersten Teil der Studie wendet sich die Autorin der "Theorie und Verbreitung des Grand Tour" zu, wobei sie zunächst die Prinzenerziehung in den Blick nimmt. Nach den ersten sieben Jahren in weiblicher Erziehungsobhut begann für die Söhne, nicht selten schon in Vorbereitung für den "Grand Tour", der geregelte Unterricht durch männliche Ausbilder. Dieses Ritual – die "passage – aux – hommes" markiert für die Autorin einen ersten Übergang vom Kleinkind- zum Kinderstatus. Stannek arbeitet heraus, dass für Katholiken und Protestanten die Stärkung des Glaubens erstes zentrales Erziehungs- und Unterrichtsziel war und die Wahl der weiteren Fächer sich nach den Wünschen und der Konfession der Familien richteten. Welche moderne Fremdsprache unterrichtet wurde, richtete sich in der Regel nach den Herrschaftsgebieten der Familie. Als Vorbereitung für den "Grand Tour" lernten die Prinzen auch die Geographie der Länder kennen, die sie später bereisen sollten. Neben "exempla" (Vorbild) und "imitatio" (Nachahmung) stellt die Autorin das Memorieren als wichtige - aber nicht einzige - Methode der höfischen Standeserziehung heraus, denn insbesondere der Hochadel war auch zeitgenössischen pädagogischen Ideen gegenüber aufgeschlossen, so dass zum Beispiel Comenius an zahlreichen deutschen Höfen rezipiert wurde.
Im weiteren Verlauf reflektiert Stannek die zeitgenössische Debatte um den "Grand Tour" anhand zeitgenössischer apodemischer (reisewisssenschaftler) Texte. Während Befürworter wie Johann Henner, Justus Lipsius, Christian Möler und Georg Christoph von Neitzschitz den Nutzen der lebenspraktischen Erfahrung betonten, warnten Kritiker wie Christoph von Marenholz, Christian Thomasius und Christan Wolff vor den moralischen Gefahren dieser Reise. Aus Stanneks Ausführungen geht hervor, dass die in der Reiseliteratur empfohlene empirische Erkenntnis immer bedeutsamer wurde und somit auch die Lehrmethoden und pädagogischen Empfehlungen der höfischen Standeserziehung einem Paradigmenwechsel unterlagen.
Im folgenden Abschnitt stehen zeitgenössische Hofmannstraktate im Mittelpunkt, in denen die Verhaltensregeln für den Aufenthalt im Ausland zusammengefasst waren. Die Autorin arbeitet heraus, dass Ende des 17. Jahrhunderts "Les Aventures de Télemaque" von Francois Salignac de la Mothe Fénelon zur Standardlektüre für deutsche Hofmeister und Prinzen wurde. Der "Telemach" war so beliebt, dass er an deutschen Höfen bis ins 18. Jahrhundert hinein eine regelrechte "Telemacomanie" auslöste.
Im Schllusskapitel des ersten Teils kann Stannek durch die Auswertung von Immatrikualtionslisten und Stammbüchern zeigen, dass die Universitätsstädte Parma, Turin und, für katholische Familien, Rom beliebte Aufenthaltsstätten waren. Zu den wichtigsten Reiseländern gehörten neben Italien Frankreich und die Niederlande.
Im zweiten Teil der Studie "Unterwegs im höfischen Europa" rekonstruiert die Autorin anhand von Einzelfallstudien der Familie Fugger, der Grafen von Hohenlohe, der Grafen von Lamberg, der Prinzen von Braunschweig–Lüneburg, der Prinzen von Mecklenburg-Schwerin und der Grafen von Dernath die Praxis der höfischen Bildungsreise. Da die Qualität des Adels der ausgewählten Familien vom Hochadel bis zum Dienstadel reicht, gelingt Stannek eine sehr differenzierte Darstellung des Reisealltags. Sie vollzieht hier die verschiedenen Reiserouten nach, rechnet akribisch die zum Teil sehr üppigen Reisekosten nach, gibt Einblicke in die Stundenpläne der adeligen Schüler und schildert die Autoritätskonflikte zwischen den Jugendlichen und ihren Eltern oder Reisehofmeistern. Im dritten Teil des Buches "Junge Kavaliere" beschreibt die Autorin den Verhaltenskodex und die Kleiderordnungen der Prinzen im Ausland.
Die Reise war vor allem durch die Finanzierung von Transport, Unterkunft und Verpflegung, durch die Ausbildung der Jugendlichen und die Zahlung der Gehälter der Reisebediensteten eine äußerst kostspielige Angelegenheit. Damit der Jugendliche das elterliche Geld nicht verschwendete oder auf moralische Abwege geriet, wurde er von einem Reisehofmeister begleitet. Seiner schwierigen Aufgabe, die immer von Autoritätskonflikten begleitet war, ist das Kapitel "Tutor zwischen Vater und Sohn. Eine ungeregelte Beziehung" gewidmet. Zu den mehr oder weniger ritualisierten Übertretungen des höfischen Verhaltens gehörten während der Reise das gesellige Trinken und gewalttätige Auseinandersetzungen. Der Abschnitt "Ehre, Spiel & Trunk. Altershomogene Gruppenbeziehungen" gibt einen Einblick über die Praxis der Trinkgelage und Schlägereien und ihre Bedeutung im Kontext höfischer Sozialisation. Unter der Überschrift "Fremde Frauen. Geschlechtsspezifische Begegnungen im Ausland" thematisiert Stannek schließlich die Beziehungen zu ausländischen Frauen im Kontext geschlechtsspezifischer Sozialisation.
Die Autorin hat umfangreiches Quellenmaterial, wie Briefe, Statistiken, Hofmannstraktate u.a. ausgewertet und so lebendig beschrieben, dass das Buch ein nicht nur informativer, sondern auch spannender Beitrag zur frühneuzeitlichen Erfahrungs- und Jugendgeschichte ist. Die Erlebnisse der adeligen Jugendlichen sind unmittelbar nachvollziehbar: frustierte Hofmeister kommen zu Wort, Eltern machen sich Sorgen um die standesgemäße Erziehung ihrer Söhne und pubertierende Jugendliche beschweren sich in Briefen an ihre Eltern über zu wenig Geld und zu wenig Freiheit. Alles in allem ist "Telemachs Brüder" daher sowohl für Historiker als auch für Pädagogen eine anregende und kurzweilige Lektüre.
Die Lektüre wird schnell zum Lesevergnügen, denn die Autorin reichert ihre durch umfassendes Quellenmaterial gestützte Schilderung durch zahlreiche zeitgenössische Beispiele und Erfahrungsberichte an, so dass die Erlebnisse der Jugendlichen unmittelbar präsent sind.
EWR 1 (2002), Nr. 2 (April/Mai 2002)
Telemachs BrĂĽder
Die höfische Bildungsreise des 17. Jahrhunderts
Frankfurt/M. u.a.: Campus Verlag 2001
(302 Seiten; ISBN 3-593-36726-2; 34,90 EUR)
Christiane Ruberg (Dortmund)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christiane Ruberg: Rezension von: Stannek, Antje: Telemachs BrĂĽder, Die höfische Bildungsreise des 17. Jahrhunderts, Frankfurt/M. u.a.: Campus Verlag 2001. In: EWR 1 (2002), Nr. 2 (Veröffentlicht am 00.04.2002), URL: http://klinkhardt.de/ewr/59336726.html
Christiane Ruberg: Rezension von: Stannek, Antje: Telemachs BrĂĽder, Die höfische Bildungsreise des 17. Jahrhunderts, Frankfurt/M. u.a.: Campus Verlag 2001. In: EWR 1 (2002), Nr. 2 (Veröffentlicht am 00.04.2002), URL: http://klinkhardt.de/ewr/59336726.html