Mit dem Buch „Leistungsmessung und -bewertung“ wollen die Autoren ein theoretisch begründetes Sammelwerk für neuere Formen der Leistungsbewertung als komplementäres Erfordernis zu neueren Unterrichtsformen vorlegen. So wird bereits im Vorwort bemerkt, dass „Leistungsüberprüfung ... – wenn sie zu den neuen Unterrichtsformen passen soll – prozessorientiert und schülerbezogen sein (muss)!“ (9) Die genauen Vorstellungen darüber, was das bedeutet, sollen in dem Buch vorgestellt werden.
Wären die Autoren bei dieser Zielsetzung geblieben, hätte ihnen dies mit der im Praxiskapitel kurz kommentierten Sammlung von Kopiervorlagen mit Bewertungs- und Beobachtungsbögen auch gelingen können. Hier – im praktischen Bereich – sind sie offensichtlich zu Hause und bieten dem Leser mit einer Vielzahl unterschiedlicher Vorschläge praktisch umsetzbare Ideen für die Schaffung von mehr Transparenz bei der Bewertung verschiedenster, systematisch erfasster Unterrichtarrangements (47). Ob damit wirklich die interschulische Objektivität der Bewertung erhöht werden kann, bleibt an vielen Stellen mangels klar spezifizierter Bewertungskriterien allerdings fraglich.
Auf diesen Praxisteil mit 72 Seiten allein wollten sich die Autoren aber nicht „beschränken“, sondern sie setzten ihrem Ideenpool zwei gewichtige Theoriekapitel zu „Chancen und Grenzen der Leistungsbeurteilung“ mit 36 und „Anforderungen an eine transparente und gerechte Leistungsbeurteilung“ mit 59 Seiten voran, denen es an einem übersichtlichen, überzeugenden Aufbau fehlt. Alle für das Thema relevanten Aspekte werden zwar im Gesamtwerk angeschnitten, allerdings in widersprüchlichen Kontexten, was häufig verwirrend wirkt.
Theoretisch wird in diesem Buch ein unhaltbarer Widerspruch zu der aus der PISA-Diskussion abgeleiteten Forderung nach mehr Vergleichbarkeit der Schülerleistungen und der Orientierung an nationalen Bildungsstandards aufgemacht. Diese sollen den neu zu fördernden „Handlungskompetenzen“ (die „nur in komplexen Lernumgebungen“ (10) gelingen können) und den daraus selbstverständlich zu fordernden, neuen und anderen Bewertungsverfahren entgegenstehen. Dabei wird behauptet, dass durch das Ziel einer Erfüllung von Kriterien des jeweiligen Faches alle Bewertungen auf Standards abgestellt und damit schülerorientierte Bewertungsverfahren vernachlässigt werden müssen.
Übersehen wird dabei, dass die gescholtene schulische Praxis mit den „alten“ Verfahren auch schon stärker die Lehr- und Lernprozesse begleitete, als sich an einer kriteriumsorientierten, vergleichbaren Bewertung zu orientieren. Es wird hier besonders deutlich, dass ein geforderter Umschwung von der sozialen Norm über die individuelle hin zu einer kriteriumsorientierten [1], wie sie die Erfüllung nationaler Standards impliziert, aus „pädagogischen“ Gründen a priori abgelehnt wird. Immer wieder verwickeln sich die Autoren dabei auch in verschiedenen Normbezügen, die zwar postuliert, dann aber unklar umgesetzt werden. Dabei passiert es eben auch, dass eine Orientierung an der im Vorfeld abgelehnten „Sozialnorm“ (67) propagiert wird. Beispielhaft für diese Konfusionen sind folgende zwei Sätze: „Als Erstes gilt es, die Leistungen auf vorher benannte und klar abgrenzbare Kriterien zu beziehen, eventuell im Vergleich mit den Leistungen anderer Schüler. Zum Zweiten wird die Leistung in dem Kontext der individuellen Leistungsentwicklung eingeordnet“ (82). Die jeweilige pädagogische Funktion der Beurteilung bleibt dabei unberücksichtigt.
Die offensichtliche, aus den beschriebenen multiperspektivischen Beurteilungsbedingungen abzuleitende Forderung wird leider nur am Rande aufgegriffen (erstmals auf Seite 60): Mehr Transparenz in der Bewertung mit einem „Sich-Vorher-Überlegen“, was wie bewertet wird, damit die Schülerinnen und Schüler wissen, was sie lernen bzw. können müssen. Hierin liegt die eigentliche Stärke des Ansinnens: Unter der Forderung nach einer kommunikativen Validierung der Bewertungsverfahren innerhalb der Schule zwischen den Lehrern und zwischen den Lehrern und Schülern soll eine gemeinsame transparente Basis für die Leistungsbeurteilung gefunden werden, die dann Ausgangspunkt für weitere Lernaktivitäten ist. Unter dieser Zielsetzung bietet der Praxisanhang interessantes Material zur eigenaktiven Auseinandersetzung und zur Weiterentwicklung.
Hinsichtlich der zu erhöhenden Objektivität der Beurteilungen scheint allerdings Skepsis angebracht. Die entwickelten Kriterienraster, die sich lt. Autoren auch auf evaluative Verfahren stützen, sind in den meisten Fällen eine Sammlung von Leitfragen, erst auf Seite 95 wird erwähnt, dass deren Erfüllung an bestimmte Indikatoren geknüpft sein muss. Die Frage, woran gemessen wird, ob ein Kriterium erfüllt wurde, wie sich die einzelnen Abstufungen auf der im Anhang empfohlenen 4-stufigen Skala beschreiben lassen, wird an keiner Stelle problematisiert. Hier allerdings läge eine große Chance, die die intra- und auf längere Sicht auch die interschulische Vergleichbarkeit von Ergebnissen zu erhöhen. Gerade hier aber bleibt dieses Buch einer globalen Beschreibung verhaftet.
Insgesamt wirken sowohl der theoretische als auch der praktische Teil eher wie zusammengestellte Gedankensplitter bzw. Sammelwerke von in der Praxis bewährten Bewertungsrastern, ohne dass diese im aktuellen Kontext der Förderung diagnostischer Kompetenz von Lehrkräften problematisiert werden. Wesentliche Teile des Buches stützen sich ohne Kommentierung auf Zitate aus der „älteren“ Literatur, wobei ohnehin die Arbeit mit der Forschungssituation häufig nicht nachvollziehbar postuliert wird (vgl. Kap. 1.4 Fehlerquellen bei der Leistungsbeurteilung). Darüber hinaus erscheinen unvermittelt zwei Einschübe zu den Methoden Experiment und Gruppenpuzzle, ohne einen Bezug zu abgeleiteten Kriterien der Bewertung zu finden.
Wer praktische Ideen für die Entwicklung von Bewertungsrastern in verschiedenen Unterrichtssituationen zur weiteren Spezifikation sucht, wird in diesem Buch sicher fündig. Aus dem Titel abzuleitende Erwartungen einer allgemeinen, systematischen Darstellung der Problematik der Leistungsmessung und -beurteilung werden dagegen nicht erfüllt. Dazu verbleiben die Autoren zu sehr in ihrer Sicht einer „pädagogischen“ Zensurengebung verhangen, die einer subjektiven Bewertung weiterhin Tür und Tor offen hält. Für eine objektivere Bewertung in der Schule wäre eine genauere Definition der Anwendungssituationen und eine klarere Festlegung der Indikatoren für die Erfüllung der genannten Kriterien von Nöten gewesen.
[1] Lehmann, R. H. (2001): Systembeobachtung: Lernausgangslage und Lernentwicklung in der Sekundarstufe I. In: Tillmann, K. J./Vollstädt, W. (Hrsg.): Politikberatung durch Bildungsforschung. Opladen.
EWR 4 (2005), Nr. 5 (September/Oktober 2005)
Leistungsmessung und -bewertung
Berlin: Cornelsen Scriptor 2005
(191 S.; ISBN 3-589-22171-2; 14,95 EUR)
Astrid Neumann (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Astrid Neumann: Rezension von: Paradies, Liane / Wester, Franz / Greving, Johannes: Leistungsmessung und -bewertung, Berlin: Cornelsen Scriptor 2005. In: EWR 4 (2005), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/58922171.html
Astrid Neumann: Rezension von: Paradies, Liane / Wester, Franz / Greving, Johannes: Leistungsmessung und -bewertung, Berlin: Cornelsen Scriptor 2005. In: EWR 4 (2005), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/58922171.html