So beliebt Hilbert Meyers Bücher etwa über "Unterrichtsmethoden", "Didaktische Modelle" oder zur Unterrichtsvorbereitung bei den Studierenden sind und so gern auch Teile daraus in universitären Lehrveranstaltungen genutzt werden, so kritisch werden sie oft gleichzeitig von Fachkollegen betrachtet. Egal ob als Unterrichtsforscher oder als kritisch denkender und theoretisch reflektierender Erziehungswissenschaftler: Gegenüber einem Konzept des "Handlungsorientierten Unterrichts", wie es Meyer lange Jahre propagiert hat, scheint Distanz angebracht, könnte man Ergebnisse der Lehr-Lern-Forschung interpretieren [1] oder einer kritischen Lektüre der in Meyers Büchern abgedruckten Unterrichtsbeispiele entnehmen: Im Arrangement des handlungsorientierten Unterrichts als einer "möglichst kunstvolle(n) Präparation des Scheins natürlicher Lernanlässe" [2] werde systematisch verpasst, jenseits des Vollzugs der Tätigkeiten über die Sache etwas zu lehren. Von einem "pragmatischen Eklektizismus", der eher Orientierungshilfe als historisch-systematische Reflexion bieten wolle [3], wird gesprochen und der Verdacht stellt sich ein, dass Meyers Texte, unter der Perspektive der "Vermittlung" konstruierte Vereinfachungen ihres Gegenstandes "Unterricht" seien und diesen so eher zu verfehlen drohen.
Angesichts der gut begründeten, einer "Praxis" gegenüber skeptischen, aber manchmal an ihr auch uninteressierten und gegenüber dem Erfolg des Buchautors Meyer neidvoll vorgetragenen Kritik, widmet man sich gespannt der Lektüre eines neueren Werkes von Meyer. Schon auf den ersten beiden Seiten wird vom Autor ein Sinneswandel, werden mindestens aber Veränderungen, ein "Umlernen", angekündigt: Ich "war (…) überrascht eine ganze Reihe lieb gewordener Vorurteile über die Merkmale guten Unterrichts aufgeben zu müssen" (7). Meyer gesteht: "Ich muss auf meine alten Tage umlernen" (8). Schließlich habe sich in der empirischen Unterrichtsforschung gezeigt, dass die "eher offenen oder schülerzentrierten" "Unterrichtskonzepte", anders als von ihm bisher angenommen, keine Ãœberlegenheit hinsichtlich ihrer Vermittlungsleistungen zeigen: Kein empirisch eindeutiger Nachweis besserer Lernergebnisse in diesem Unterricht! Allerdings ist dies nun für Meyer kein Grund, den favorisierten Konzepten, seinen "Idealen eines schülerorientierten (…) und die Selbständigkeit stärkenden Unterrichts" "abzuschwören" (9). Es komme, so sieht Meyer sich durch die Forschung bestätigt, auf Methodenmischung und die im Konkreten unterschiedliche Gestaltung des Unterrichts an, der einem bestimmten Konzept zuzurechnen ist. Ob Unterricht gut oder schlecht sei, entscheide sich nicht bei der Wahl eines "Unterrichtskonzeptes" – ungeklärt und sogar undiskutiert bleibt hier, ob genau solche Entscheidungen in der "Praxis" überhaupt getroffen werden –, sondern in der Durchführung oder Gestaltung desselben. Das ist einerseits überzeugend, andererseits eine bekannte Immunisierungsstrategie gegen – natürlich auch immer bezweifelbare – Ergebnisse empirischer Lehr-Lern- oder Unterrichtsforschung. Man nimmt sie zur Kenntnis und kann sie doch mit dem Habitus des Praktikers – oder desjenigen, der die Erfahrungen der Praktiker ernst nimmt – ein wenig belächeln: "Dass das genaue Diagnostizieren für sich allein keinen Lernerfolg garantiert, wird berufserfahrene Lehrer nicht überraschen. Aber es beruhigt zu wissen, dass dieser Sachverhalt nun auch empirisch bestätigt ist" (130).
Selbstverständlich ist Meyer zuzustimmen, dass aus empirischer Forschung nicht abzuleiten ist, was guter Unterricht sein solle, weil durch jene nicht Normen zu legitimieren sind. Mit seiner Definition "guten Unterrichts" passt Meyer sich neuen Diskussionen und terminologischen Entwicklungen an, redet von einem "Beitrag zur nachhaltigen Kompetenzentwicklung" (13) und scheint sich gleichzeitig treu bleiben zu können: guter Unterricht sei zunächst gekennzeichnet durch eine "demokratische Unterrichtskultur". Unterricht kann nur so demokratisch sein, wie es die Organisationsform "Unterricht" erlaubt – könnte man lesen und eine Absage an "reformpädagogisch" inspirierte Auffassungen, Unterricht sei dann gut, wenn er kein Unterricht mehr sei, erkennen. Wie fließend Ãœbergänge zwischen den frühen Demokratisierungsbestrebungen einer "Schülerorientierung", ihren notwendigen Desillusionierungen und modernem Neoliberalismus sein können, erweisen die weiteren, von Meyer angeführten Kriterien guten Unterrichts: das Bekenntnis zu einem "Erziehungsauftrag", ein gelingendes "Arbeitsbündnis", für Meyer ein "didaktisch-sozialer Vertrag zwischen dem Lehrer und seinen Schülern über die im Unterricht geltenden Rechte und Pflichten und die zu erbringenden Leistungen" (130) und eine "sinnstiftende Orientierung" durch den Unterricht. Es geht darum, den Schüler zu beteiligen am Unterricht – nun nicht mit Tricks, nicht indem man Unterricht so gestaltet, als sei er etwas anderes als Unterricht, sondern indem die Schüler zu Verbündeten des Lehrers werden (müssen), indem sie verantwortlich für den Unterricht und für ihren eigenen Lernprozess gemacht werden: "Die unterrichtsbezogene Erziehungsarbeit ist dann zum vorläufigen Abschluss gebracht, wenn Lehrende und Lernende gemeinsam die Verantwortung für den Lehr-Lern-Prozess übernehmen. Dass die Lehrer Verantwortung haben, ist klar. Dass auch die Schüler Verantwortung haben, wird manchmal aus den Augen verloren" (13,14). Gelingt dieses – in einem den nachfolgend erläuterten Gütekriterien entsprechenden Unterricht – ist nach Hilbert Meyer von gutem Unterricht zu sprechen und auch davon auszugehen, dass Kompetenzentwicklung nachhaltig sein kann, dass die Schüler lernen.
Hilbert Meyer schreibt ein Buch für Praktiker – und das muss wohl wie eine Fortbildungsveranstaltung aufgebaut werden. Der Autor bietet ein Lern-Arrangement, dem man sich nur bei angedrohter Strafe des Nichtlernens entziehen darf. Die Leserin als Unterrichtende ist direkt angesprochen und soll erst einmal mitarbeiten; Fragen beantworten, was für sie guter Unterricht, was ihre pädagogischen Annahmen und Vorurteile seien, andernfalls droht der Autor: "Ãœberspringen Sie diese Aufgabe nicht! Erstens verschenken Sie damit die Chance auf ein oder zwei Aha-Erlebnisse bei der weiteren Lektüre dieses Buches. Zweitens hätten Sie ein Reflexionsdefizit bei der Erledigung der Ãœbungsaufgabe von S. 139" (11).
Die Leserin kann sich (so etwas hat man ja schon in der Schule gelernt) der ersten Arbeitsaufforderung aber auch erfolgreich widersetzen, gleich weiter lesen und erfährt im zweiten Kapitel die in "gründlichen Absprachen mit Theoretikern und Praktikern", "übrig gebliebenen" und also wohl deshalb überzeugenden "zehn Merkmale guten Unterrichts": Klare Strukturierung des Unterrichts, hoher Anteil echter Lernzeit, lernförderliches Klima, inhaltliche Klarheit, sinnstiftendes Kommunizieren, Methodenvielfalt, individuelles Fördern, intelligentes Ãœben, transparente Leistungserwartungen und zuletzt die vorbereitete Umgebung (17/18). Im Kernstück des Buches, dem folgenden Kapitel werden diese nun einzeln erläutert, indem jeweils zunächst das "Gütekriterium" definiert und "Indikatoren" dafür angeführt, Forschungsergebnisse skizziert und unterschiedlich konkrete Ratschläge und Beispiele zur Verbesserung des Unterrichts im Hinblick auf das jeweils verhandelte Kriterium gegeben werden. In diesem Kapitel kann die Leserin einiges aus der Sicht und Lektüre Meyers über empirische Forschungsergebnisse erfahren – aber keine strukturierte und kritische Ãœberblicksdarstellung zur Entwicklung, zu den Richtungen und Ergebnisse der Lehr-Lern- und der Unterrichtsforschung lesen – (wie etwa der Text von Rauin und Lüders sie bieten) – das konnte in diesem Rahmen wohl auch nicht angestrebt werden. Nicht immer wird so in Meyers Text unterschieden, welche Aussagen – mit welchen Einschränkungen – aufgrund der Ergebnisse empirischer Forschung getroffen werden können und welche man – wohl in Kenntnis der Erfahrung der Praktiker – banalisierend daraus machen darf: "Ohne inhaltliche Klarheit verstehen die Schüler ‚nur Bahnhof’" (55). Nach ersten Irritationen kann empirische Forschung nun bestätigend und legitimierend für eigene Meinungen zum Unterricht genutzt werden – auch und gerade dann, wenn man die Begrenzungen und Probleme der empirischen Forschung anführt, um einen schleichenden Ãœbergang zu präskriptiven Aussagen zu vollziehen. Das wird deutlich, wo Meyer fragt, ob "fachliche Korrektheit" ein Gütemerkmal sei. Er verweist darauf, dass dieses empirisch nicht belegt sei – so haben Fehler in Lehrbüchern nicht zu einem "Zusammenbruch der Zivilisation geführt" (65) und der fachfremd erteilte Matheunterricht habe nicht schlechtere Ergebnisse als der nichtfachfremde erzielt. Nun kann natürlich aus beidem nicht geschlossen werden, dass ein jeweils erteilter Unterricht fachlich nicht korrekt war – aber über solche Spitzfindigkeiten muss man hinweg sehen, um die abschließende Aussage zu treffen: "Tiefes Fachwissen schadet aber nicht" – schaffe nämlich "Beweglichkeit" im Eingehen auf Schüleräußerungen; wichtiger als tiefes Fachwissen sei jedoch die Orientierung an Lehrplänen und Büchern, auf deren möglichst hohe fachliche Richtigkeit, sich der Lehrer verlassen können muss. Der Lehrer als Praktiker muss jedenfalls nicht so eigenständig sein, dass er alles selbst auf fachliche Richtigkeit überprüfen kann!
Nach dieser Lektüre, der Zuwendung zu dem von Meyer so genannten "Theoriewissen", wird man nun im dritten Kapitel zu Reflexionsübungen angeleitet: Nun geht es darum, eine "persönliche Theorie guten Unterrichts" (133, 136) auszubauen. Aus den hier gemachten Aufgabenvorschlägen zur Reflexion von Unterrichtsbeobachtung und Unterricht sind sicher Anregungen zu ziehen – auch wenn die Qualität von Aufgabenstellungen in Seminaren und Fortbildungsveranstaltungen nach Auffassung der Leserin mit "tiefem Fachwissen" und fachlicher Korrektheit etwas zu tun haben könnte!
Zu guter Letzt wird ein "Theorierahmen" angeboten. Wer nach dem im 2. Kapitel unterbreiteten "Theoriewissen" doch noch etwas vermisst – z.B. ein konsistentes Verständnis dessen, was überhaupt Theorie ist – könnte nun auf seine Rechnung kommen. Er kann einen Seitenblick auf die empirische Unterrichtsforschung und ihre Arbeitsweise werfen, kann sich – Theorie kann eben unterschiedliche Formen annehmen – in eine "Landkarte", ein Schema, vertiefen, das unterschiedliche Formen des Wissens und der Reflexion über Unterricht und schulisches Lernen auf "Etagen" ordnet und so veranschaulichen will, wie es zu gutem Unterricht kommt – oder auch zu dem, was für guten Unterricht gehalten wird (man könnte das theoretisch ja unterscheiden!). Und schließlich kann die Leserin hier auch noch erfahren, welche Handlungsprobleme, in der Tradition eines handlungstheoretischen Professionalisierungsverständnisses, welche "Balancierungsaufgaben" ein Lehrer hat und welche Lernkompetenzen eine Schülerin entwickeln muss. Das ist thematisch wahrlich viel und deckt das Spektrum der modernen schulpädagogischen Diskurse – auch die "Zauberformeln", wie Meyer kritisch sagt (166) – doch ein wenig vereinfacht und etwa um Entstehungskontexte und Probleme verkürzt (so etwa beim "Arbeitsbündnis") auf wenigen Seiten ab. Es drängt sich der Eindruck auf: Die Didaktik (dieses Buches) ist eben doch Reduktion und nicht Strukturierung eines Gegenstandes!
Die Gestaltung der Bücher Hilbert Meyers, die eingekästelten oder grau unterlegten unzähligen Definitionen und Thesen, die fett oder kursiv gedruckten Hervorhebungen, die Grafiken, Zeichnungen und Bilder – etwa die Didaktischen Landkarten – tragen vielleicht zur Skepsis manches Fachkollegen (übrigens ebenso mancher Studierender) bei. Ist der Leserin nicht zu zutrauen, dass sie die in ihrem Lektüreprozess wichtigen Zeilen unterstreicht und auch die eine oder andere These erkennt? Zugegeben – wahrscheinlich hätte sie sich nicht getraut, die vom Autor als "These 1.1" gekennzeichnete Aussage zur notwendigen Konzept- und Methodenvarianz "Mischwald ist besser als Monokultur" (9) selbst als solche auszumachen und der "These 2.4" zur Seite zu stellen: "Die Mischung macht’s"! Und auch wenn "Visualisieren" heute zu den gefragten Techniken des Präsentierens gehört, scheinen die Grafiken des Buches – wie in diesem Falle die didaktische Landkarte – nicht in jedem Falle instruktiv. Vielleicht symbolisieren die Illustrationen in einer spielerischen, Widersprüche und Mehrdeutigkeiten repräsentierenden Annäherung an die Sache den Verzicht darauf, die Dinge zu (einem sowieso immer nur vorläufigen) Ende zu denken und reproduzieren so die Verachtung, die dem Pädagogischen als der "Verkleinerung" der Sache entgegen gebracht wird?
[1] Lüders, Manfred/Rauin, Udo (2004): Unterrichts- und Lehr-Lernforschung. In: Helsper, Werner/Böhme, Jeanette (Hrsg.): Handbuch der Schulforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 691-719.
[2] Gruschka, Andreas (2002): Didaktik. Das Kreuz mit der Vermittlung. Elf Einsprüche gegen den didaktischen Betrieb. Wetzlar: Büchse der Pandora, S. 286.
[3] Wigger, Lothar (2004): Didaktik. In: Benner, Dietrich/Oelkers, Jürgen (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Pädagogik. Weinheim/Basel: Beltz, S. 276.
EWR 4 (2005), Nr. 3 (Mai/Juni 2005)
Was ist guter Unterricht?
Berlin: Cornelsen Verlag Scriptor 2004
(192 S.; ISBN -589-22047-3; 12,95 )
Sabine Reh (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sabine Reh: Rezension von: Meyer, Hilbert: Was ist guter Unterricht?, : Cornelsen Verlag Scriptor 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 3 (Veröffentlicht am 20.05.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/58922047.html
Sabine Reh: Rezension von: Meyer, Hilbert: Was ist guter Unterricht?, : Cornelsen Verlag Scriptor 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 3 (Veröffentlicht am 20.05.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/58922047.html