EWR 1 (2002), Nr. 2 (April/Mai 2002)

Hilbert Meyer
Türklinkendidaktik
Aufsätze zur Didaktik, Methodik und Schulentwicklung
Berlin: Cornelsen Scriptor 2001
(256 Seiten; ISBN 3-589-21454-6; 14,90 EUR)
Türklinkendidaktik Leichte Bürde – vom Triumph des Machbaren in Hilbert Meyers ‚Türklinkendidaktik’

Was Andreas Gruschka "Das Kreuz mit der Vermittlung" nennt (A. Gruschka: Didaktik. Das Kreuz mit der Vermittlung. Elf Einsprüche gegen den didaktischen Betrieb, 2002) ist für Hilbert Meyer eine überschaubare Herausforderung. Während sein Kollege Gruschka schwerwiegende Einwände gegen den didaktischen Betrieb formuliert, gegen die Popularisierung der Inhalte, die Studierende zur Theorieferne erziehe, polemisiert und die Zurechtstutzung des Nicht-Vermittelbaren auf Leitfadenformat beklagt, klärt Hilbert Meyer Undurchsichtiges, rückt wenig Beachtetes in das rechte Licht und strukturiert eine Fülle populärer Veröffentlichungen aus dem didaktischen und schultheoretischen Bereich. Dabei begegnet er den Vorwürfen seines kritischen Kollegen Gruschka schon im Vorgriff unter Hinweis auf notwendige Subjektorientierungen: Einfühlung in das Denken und Handeln von LehrerInnen sei wichtig; damit müsse auch die Ebene systematischer Analysen überschritten werden (Meyer 2001, 7). Wie dem auch sei - Kreuz ist Trumpf; und so nehmen wir teil am Triumph des didaktischen Klarblicks Hilbert Meyers. Der versteht es, in seiner ´Türklinkendidaktik´ eine Sammlung von Texten zu präsentieren, in denen er Ungeklärtes klärt und gleichzeitig die eigene Entwicklung dokumentiert. Damit würdigt er nicht nur seine umfangreichen Studien zur Didaktik, Methodik, Schulentwicklung und Professionalisierung, sondern er dokumentiert auch ein Stück schulpädagogischer Debatte, die von der politisch akzentuierten Erörterung des Verfrühungsbegriffs als didaktisches Problem (1968) bis hin zu Aufsätzen zu Unterrichtsentwicklung und Professionaliserung in der Lehrerbildung (1999/2000) reicht.

Im ersten Teil wird zunächst Grundsätzliches zur Didaktik geklärt. Dabei finden sich griffige Arbeitsdefinitionen, anregende Beispiele und Schautafeln, die Strukturen sichtbar machen. Verstanden als Studienmaterial stellt dies eine orientierende Einführung mit alltagspraktischen Anknüpfungspunkten dar; das Bedürfnis nach Einordnung, Strukturierung und Anschaulichkeit geht dabei gelegentlich auf Kosten der Differenzierung, etwa wenn die Verortung konstruktivistischer Didaktiken im Schaubild als Kompromisslösung betrachtet wird; eine offene Frage bleibt bei der Betrachtung des Ungeheuers: wieviele Arme braucht eine didaktische Krake?

Zentral im didaktisch/methodischen Abschnitt neben einem Beitrag zu Aneignungsschwierigkeiten didaktischen Theoriewissens stehen ein Plädoyer für die Wiederbelebung des Frontalunterrichts sowie der Aufsatz von 1998, der dem Sammelband den Titel verleiht: ´Türklinkendidaktik´. Beide Beiträge sind eine hommage an die Leute der Praxis: Die tendieren nämlich, so eine Schätzung Hilbert Meyers, zu 76,86% (?!) zum Frontalunterricht, auch weil er "trotz alledem so schön" ist (Meyer 2001, 98), und zur Türklinkendidaktik, verstanden als "unmittelbar vor oder beim Betreten des Klassenraums geleistete Form der Kürzestvorbereitung, die durchaus den Standards professionellen Lehrerhandelns genügen kann (nicht muss!)." (131). Dazu werden Lehrermeinungen zitiert; angesetzt wird also bei Praxis, wie sie eben ist: auf unterschiedlichem Niveau, stimmungsabhängig, von den Umständen bestimmt. Diese Praxis zu professionalisieren, ist das Anliegen Hilbert Meyers, und dies macht seine Ausführungen so griffig, gerade wenn er Möglichkeiten der Verbesserung unter reformpädagogischer Perspektive entfaltet: Es gibt Ratschläge zur Wiederbelebung des Frontalunterrichts (105ff) oder Hinweise zur Steigerung der KVK, was heißt: Kurzvorbereitungskompetenz (127ff).

Was hier freundlich-ironisch als Türklinkendidaktik verhandelt wird, ist eine Systematisierung professionellen Handelns, das zunächst als Überlebensstrategie gedacht ist, durch die Aufbereitung in der didaktischen Reflexion jedoch eine gewisse Überhöhung erfährt. Die Ratschläge ("Eine Konserve aufmachen", "Einen ´Bauchladen´ einrichten", "Den Weg in den Klassenraum nutzen", "Mit Spickzetteln arbeiten" oder: "Ein Gespräch anzetteln", "Lustvoll üben" (127ff)) stellen eben nicht nur praxisfreundliche Einführungsliteratur, sondern auch einen normativen Diskurs dar. Dieser basiert auf Erfahrungen der professionals (wie eben auch auf denen Hilbert Meyers), die Geschichten gekonnt erzählen (etwa über unvorbereitete Stunden, 139) und damit auf den meisterlichen Lehrweg, der ja nun einmal beim Gehen entsteht, verweisen. Damit unterläuft der Verfasser in gewisser Weise Ausbildungsstandards, die als Feiertagsvorbereitung im Sinne einer gründlichen schriftlichen Vorbereitung etwa anlässlich einer Lehrprobe unternommen werden. Die Praxis ist anders, ein Schaubild, das einen Lehrer vor Betreten der Klasse zeigt, demonstriert dies: Er hat die Türklinke schon fast in der Hand; die Vorbereitung nicht unbedingt (122). Dies bei anderen zu sehen, entlastet, und es setzt griffige Standards, die auf die Praxis zurückschlagen.

Das hohe Geschick Hilbert Meyers, Undurchsichtiges (auch in seiner Undurchsichtigkeit) zu strukturieren, zeigt sich in den Beiträgen im zweiten Teil des Bandes. Schulentwicklung und Professionalisierung werden gekonnt umrissen, die Begrifflichkeiten werden geklärt und in systematische Zusammenhänge gebracht. Die lernende Schule etwa wird als Leitbild entfaltet und innerhalb der Schulentwicklungsdebatte verortet. Ähnlich die Abhandlungen zu den Themen ´Unterrichtsentwicklung´ und ´Professionalisierung´: neben den Schulentwicklungswürfel (156) und das ´Erziehungshaus´, in dem zum aufrechten Gang erzogen wird (161), treten Schaubilder zum Berufswissen oder zu professionstheoretischen Positionen (226). Entwicklungsaufgaben werden dabei unversehens zum Schlüsselbegriff der Abhandlungen; auch dieses lässt sich in einen Würfel denken, der das Spannungsfeld zwischen persönlichen Ansprüchen und Voraussetzungen und den gegebenen Bedingungen und Möglichkeiten symbolisiert (230). Dies ist in der Tat eine bezwingende Art der Vereinnahmung von Diskursen, die über die Versinnbildlichung in Blüten, Rädern, Schulhäusern, Labyrinthen, Pfeilen und Würfeln griffig transportiert werden. Die Schulentwicklungs- und Professionalisierungsliteratur mit ihren Ecken und Kanten ist damit didaktisch gerundet; selbst ein Löwenzahn als pädagogisches Selbstkonzept einer Referendarin kann da angenommen werden (236). Dies ist sanfte Bevormundung, in der auch Ungereimtheiten angenehm erscheinen: "Lehrerleitbilder leben, wenn sie denn leben, vom sanften Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit." (235) Ähnliches gilt für Schulleitbilder, die nur eine überbrückbare Distanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit skizzieren sollen (152). Die Abfederung antinomischer Spannungen im pädagogischen Geschäft und die Glättung erziehungswissenschaftlicher Diskurse mögen als ernsthafter Vorwurf formuliert werden. Dass Hilbert Meyers ´Türklinkendidaktik´ wieder einmal ein gelungener Beitrag zur Klärung der Debatte um nicht vollständig Klärbares zu betrachten ist, ist unumstritten. Als Orientierungshilfe triumphiert der Sammelband über die Unwegsamkeiten des langen Forschungsmarsches; kritische Forscherfreunde müssen mit diesem Verdienst leben.
Sibylle Rahm (Bamberg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sibylle Rahm: Rezension von: Meyer, Hilbert: Türklinkendidaktik, Aufsätze zur Didaktik, Methodik und Schulentwicklung, Berlin: Cornelsen Scriptor 2001. In: EWR 1 (2002), Nr. 2 (Veröffentlicht am 00.04.2002), URL: http://klinkhardt.de/ewr/58921454.html