EWR 6 (2007), Nr. 4 (Juli/August 2007)

Konrad Paul Liessmann
Theorie der Unbildung
Die IrrtĂĽmer der Wissensgesellschaft
Wien: Zsolnay 2006
(175 S.; ISBN 3-552-05382-4; 17,90 EUR)
Theorie der Unbildung Mit seinem Buch „Theorie der Unbildung“, das bereits im letzten Herbst erschienen ist, hat Konrad Paul Liessmann für einigen Aufruhr in der öffentlichen Diskussion um „Bildung“ gesorgt. Der Zynismus gegenüber den gegenwärtigen Reformbestrebungen im Bildungssektor wie gegenüber den Selbstverständigungen der „Wissensgesellschaft“ liegen ganz auf der Linie einer Kultur- bzw. Zeitkritik, die ihre Beunruhigung dadurch entfaltet, dass sie sich in dieser Perspektive nicht erschöpft. Dies, wie auch der Titel des Buches, verweisen nicht zufällig auf Adornos „Theorie der Halbbildung“, auf die in dem Buch wiederholt Bezug genommen wird. Im Vergleich zu Adornos These von 1959 macht Liessmann allerdings eine Differenz geltend: Während für Adorno die „Idee der Bildung“ – entgegen der damaligen realen Verhältnisse – noch als metaphysischer Gegenhalt fungieren konnte, habe mittlerweile „die Idee von Bildung in jeder Hinsicht aufgehört […], eine normative oder regulative Funktion zu erfüllen. Sie ist schlicht verschwunden. Der entfremdete Geist, der bei Adorno noch in den zu Bildungsgütern herabgesunkenen Versatzstücken einstiger Bildungsansprüche sich umtrieb, ist in akklamierte Geistlosigkeit umgeschlagen“ (70, Hervorh. C.T.).

Anhand dieses Passus lässt sich verdeutlichen, was Liessmanns Buch für Erziehungswissenschaftler und für Bildungstheoretiker im Besonderen interessant macht. Es liefert zum einen eine offensive Stellungnahme zu den gegenwärtigen Veränderungen im Bildungsbereich, Veränderungen, die – sieht man einmal von den fünf Einsprüchen namhafter Vertreter des Faches Pädagogik gegen die Umstrukturierungen des Bildungswesens ab [1] – nicht hinreichend öffentlich diskutiert und kritisiert werden. Zum anderen ist es interessant zu sehen, welche Form diese Stellungnahme annehmen muss, um überhaupt offensiv werden zu können: Wäre dieses Buch genauso intensiv diskutiert worden, wenn sich nicht die unerbittliche Polemik mit dem Überlegenheitsgestus eines Intellektuellen gepaart hätte, der noch weiß, was es einst ‚wirklich’ mit den Ideen von Bildung, Wissen und Universität auf sich hatte? Mit anderen Worten: Dieses Buch entfaltet seine Relevanz für die Bildungstheorie dadurch, dass es – ganz klassisch – bei der Möglichkeit von Selbst- und Weltverhältnissen ansetzt, die nicht unter der Perspektive gesellschaftlicher Brauchbarkeit stehen. Und wie schon bei Adorno steht der zeitkritische Befund in einem Spannungsverhältnis zu den Möglichkeiten theoretischer Selbstvergewisserung, steht die Vorherrschaft der Unbildung im Gegensatz zum aufgeklärten Intellektuellen, welcher der Öffentlichkeit endlich einmal mitteilt, welche „Dummheiten“ (dieser Begriff fällt häufiger) tagtäglich in Schulen und Universitäten instituiert werden.

Ebenso wie dies für Adorno der Fall ist, wäre es allerdings falsch, mit der Naivität Liessmanns zu rechnen. So fallen denn immer wieder Bemerkungen, wie z.B. dass die Idee der Bildung „nie frei von Dünkel, falschen Hoffnungen und ideologischen Ressentiments“ war (8), die auf eine Relativierung der Maßstäbe verweisen, die Liessmann wie selbstverständlich vorauszusetzen scheint: eine durch gesellschaftliche Vermittlung unkompromittierte „Idee von Bildung“, ein macht- und herrschaftsfreies Verständnis von Wissen und eine auf die Architektonik der Vernunft (Kant) aufbauende Idee von Universität. Dass all diese Instanzen zuletzt nicht als „reine Ursprünge“ zur Verfügung stehen, um den gegenwärtigen Entwicklungen entgegen zu treten, war und ist womöglich eines der größten Hindernisse für bildungsphilosophische Überlegungen, gesellschaftlich wirksam zu werden. Dieser Sachverhalt eröffnet zudem Aufschluss hinsichtlich der eigenen Verflechtung mit dem zu Kritisierenden. In den immer noch aktuellen Worten Adornos: „Fraglos ist in der Idee der Bildung notwendig die eines Zustands der Menschheit ohne Status und Übervorteilung postuliert, und sobald sie davon etwas sich abmarkten läßt, und sich in die Praxis der als gesellschaftlich nützliche Arbeit honorierten partikularen Zwecke verstrickt, frevelt sie an sich selbst. Aber sie wird nicht minder schuldig durch ihre Reinheit; diese zur Ideologie“ [2]. Es ist dieser, auch in Liessmanns Buch präsente Selbstwiderspruch, der für die Bildungstheorie produktiv werden könnte.

Man kann nach den Konsequenzen des Befundes, dass „Bildung“, „Wissen“, „Universität“ niemals als zweckfreie, unkompromittierte Referenzpunkte zur Verfügung gestanden haben, für das Verhältnis von Bildungstheorie und Öffentlichkeit fragen; man kann zudem nach den Folgen für eine theoretische Selbstvergewisserung fragen, welche versucht, sich zu dieser unvermeidlichen Bodenlosigkeit in bildungskritischer Absicht zu verhalten. Dies ist nicht Liessmanns Anliegen, der über weite Strecken damit beschäftigt ist, den Irrsinn des gegenwärtig herrschenden Evaluationsregimes, die Verachtung des Wissens in der Wissensgesellschaft, den Wahn der Rangliste und die Entlarvung aller Reformmaßnahmen als Schaffung von Reformbedarf herauszustellen. Es bleibt nach der teils erhellenden, teils ernüchternden, teils ermüdenden Lektüre die Frage, ob die Idee dieses Buches aufgeht, oder – um den Ideenbegriff zu vermeiden –, wohin dieses Buch das öffentliche wie wissenschaftliche Nachdenken über Bildung führt.

Aus bildungstheoretischer Perspektive müsste man genauer die Rhetorik dieses Buches in Augenschein nehmen, um ausfindig zu machen, wie es imaginäre Denkräume aufspannt, die in der Lage sind, eine Differenz zum gegenwärtigen Sprechen und Denken (bzw. Nicht-Denken) von Bildung zu erzeugen. Wie lässt sich eine solche Differenz zu einem Gegendiskurs verdichten, der wiederum politische Wirksamkeit entfaltet? Wie sind in einem solchen Diskurs wissenschaftliche und politische Logiken miteinander verschränkt? Oder sind sie nie wirklich getrennte Logiken gewesen, wie verschiedene historisch-philosophische Analysen zum Macht-Wissen und zur Institution ‚Universität’ nahe legen (man denke an Foucaults Antrittsvorlesung oder an Derridas „Mochlos oder ‚Der Streit der Fakultäten’“)?

Wie auch immer man sich an dieser Stelle theoretisch situiert, so wird doch die Frage nach der Möglichkeit von Kritik an den bestehenden gesellschaftlichen Deutungen von Bildung und Universität virulent bleiben. Die Frage, die sich lediglich stellt, ist, wie weit man mit dem ‚universalen Intellektuellen Liessmann’ kommt, dieser „klare[n], individuelle[n] Gestalt einer Allgemeinheit“ [3]. Weist das Bewusstsein, dass die Bodenlosigkeit des eigenen Denkens und Sprechens unvermeidbar ist, die Bildungstheorie nicht nur auf eine andere Traditionslinie gegenüber der Selbstbehauptung der Vernunft, sondern auch auf einen anderen theoretischen wie praktischen Umgang mit Kritik?

[1] Vgl. Gruschka, Andreas et. al.: „Das Bildungssystem ist kein Wirtschaftsbetrieb“, Frankfurter Tagung am 10. Oktober 2005, URL:
http://www.uni-frankfurt.de/fb/fb04/download/Frankfurter_Erklaerung.pdf

[2] Vgl. Adorno, Theodor W. (2003): Theorie der Halbbildung (1959). In: Gesammelte Schriften Band 8. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 97f.

[3] Vgl. Foucault, Michel (1978): Dispositive der Macht. Michel Foucault über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve, 44.
Christiane Thompson (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christiane Thompson: Rezension von: Liessmann, Konrad Paul: Theorie der Unbildung, Die IrrtĂĽmer der Wissensgesellschaft. Wien: Zsolnay 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 4 (Veröffentlicht am 26.07.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/55205382.html