Die vorliegende „Einführung in die Theorie der Bildung“ gehört in die Reihe Grundwissen Erziehungswissenschaft, die Studierenden, Lehrenden und pädagogisch Interessierten den disziplinären Wissensstand der Erziehungswissenschaft bereitstellen möchte. Ziel des Buches ist es, den Studierenden systematisch gegliedert ein theoretisches Wissen zur Verfügung zu stellen, das als Basis für das weitere Studium dienen soll. Die vorgestellten Texte wurden in Lehrveranstaltungen praktisch eingesetzt und von den Studierenden auf ihre Studientauglichkeit geprüft.
Der Band ist in vier große Abschnitte gegliedert, die wiederum in Kapitel unterteilt sind. Dargestellt werden (A) Redeweisen von Bildung, (B) Theorien und Konzepte von Bildung, (C) Empirische Bildungsforschung und (D) Konturen von Bildung. Die Autoren sprechen von einem abendländischen Bildungsverständnis, welches als Folie dem Nachdenken über Bildung unterlegt werden kann und welches als roter Faden die Einführung in die Bildungstheorie durchlaufen soll. Zentral sei hier Wilhelm von Humboldts Bildungsverständnis als Selbst-, Fremd- und Weltverhältnis. Weiterhin stehe der gesamte Band unter dem Anspruch kritischer Reflexivität.
Im ersten Teil über die Vielfalt der Redeweisen und Thematisierungen von Bildung werden verschiedene Erzählungen über Bildung vorgestellt sowie Bildung als Thema der Öffentlichkeit und der Wissenschaft, der gesellschaftlichen Organisation und der politischen Steuerung behandelt. Für Studienanfänger dürften die im ersten Kapitel präsentierten Bildungserfahrungen verschiedener Autoren, darunter Thomas Mann und Bertolt Brecht einen guten Einstieg darstellen. Diese ermöglichen es, einen ersten und anregenden Zugang zum Begriff der Bildung und zu Bildungsprozessen zu erhalten. In Verbindung mit Kapitel zwei und drei, die auf Bildung als politisches und öffentliches Thema eingehen, wird bereits ein für das Bildungsdenken wesentliches Motiv greifbar: das Spannungsverhältnis von Zweckfreiheit und Nützlichkeit von Bildung. Die Thematisierungsweise als „wissenschaftlich“ und „populärwissenschaftlich“ sowie deren Verhältnis zueinander bleibt dagegen relativ undeutlich, da im Anschluss an Herwig Blankertz nicht nur die Abgrenzung zwischen wissenschaftlichen und unwissenschaftlichen Thematisierungsweisen von Bildung angesprochen wird, sondern darüber hinaus unterschiedliche Verständnisse von Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit.
Der zweite Teil beschreibt systematisch sechs Grundfiguren des Denkens über Bildung und gibt einen Überblick über wichtige Positionen der Bildungstheorie der Gegenwart sowie über Perspektiven und Schwerpunkte. Namentlich verläuft der Weg von Platon, über Kant, Humboldt und Hegel zu Nietzsche, Adorno und gegenwärtigen Theoretikern, darunter Klafki, Benner und Ruhloff. Zentrale Aspekte dieser Aufarbeitungen sind die Bedingungen von Bildung, ihre Möglichkeiten und Grenzen heute sowie der Zusammenhang von Bildung und Autonomie. Weiterhin wird auf die Rezeption verschiedener Autoren in der Erziehungswissenschaft eingegangen, z.B. Adorno. Dessen Denken versucht, die Grenzen einer jeden Bildungstheorie und -ambition zu bestimmen und auf die aporetische Situation hinzuweisen, die mit den Ansprüchen an Autonomie und Vernunft verbunden ist. Dieser Sachverhalt bzw. die grundsätzliche negativ dialektische Konfiguration von Adornos Denken gerät aus dem Blick, wenn im Anschluss an die Rezeptionsgeschichte die kulturkritische Aktualität von Adornos Halbbildungsthese diskutiert wird.
Mit der Auswahl der Autoren in diesem zweiten Teil wird der anfänglich erwähnte rote Faden des Buches konsolidiert, nämlich Bildung als Wandel von Selbst-, Welt- und Fremdverhältnissen und im Sinne kritischer Reflexivität zu verstehen. Damit ist zugleich eine Auswahl getroffen, die man aber vor dem Hintergrund einer allgemeinen Einführung in die Theorie der Bildung hinterfragen kann: So vermisst der Leser etwas zur Bedeutung von Technik und Virtualität für Bildung. Aber auch innerhalb des von den Autoren abgesteckten Rahmens kann man fragen, ob das pragmatistische Bildungsverständnis Deweys nicht hätte berücksichtigt werden müssen – als eine besondere Weise, die Verflechtung von Selbst- und Weltverhältnissen und den Zusammenhang von ‚Öffentlichkeit und Kritik’ (Demokratie) zu denken. Mit Blick auf das Problem kritischer Reflexivität wäre außerdem nach der Bezugnahme auf Autoren wie Foucault zu fragen, gerade wenn es um den Komplex Bildung, Wissen und Macht geht. Hier hätte gut gezeigt werden können, dass selbst eine kritische Reflexion Teil einer schon vorhandenen gesellschaftlichen und symbolischen Ordnung ist und nicht frei von gesellschaftlichen Zwängen und Verpflichtungen ist.
Besonders positiv herauszuheben ist an diesem Teil über „Theorien und Konzeptionen der Bildung“, dass die besprochenen Philosophen/Pädagogen selbst zu Wort kommen und in einem argumentativen wie zugänglichen Stil vorsichtig interpretiert und kommentiert werden. Die in ihrem Umfang gut dimensionierten Zitate ermöglichen es dem Leser, sich ein eigenes Bild zu machen und selbstständig Zusammenhänge herzustellen. Dazu verhelfen auch die Lernreflexionen, die auch in den anderen Teilen die Kapitel beschließen. Durch diese kleinen Aufgabenstellungen und die beigefügte repräsentative Literaturliste wird dem Leser der Horizont einer weiteren Auseinandersetzung eröffnet, der auf eine kritische Selbstvergewisserung und eine Selbständigkeit im Denken ausgerichtet ist.
Der dritte Teil des Bandes setzt sich mit der empirisch-sozialwissenschaftlichen Wende in der Beschäftigung mit „Bildung“ auseinander und stellt die Bildungsforschung exemplarisch an zwei Methodologien (quantitativ und qualitativ) vor. Nach einer ersten begrifflichen Bestimmung von „Bildungsforschung“ werden die PISA-Studien vorgestellt und das öffentliche Missverständnis, mit diesen sei ein neues Verständnis von Allgemeinbildung verknüpft, kritisiert. Im Abschnitt „Qualitative Bildungsforschung“ wird im Anschluss an eine knappe Bestimmung von Zielen und Kennzeichen die erziehungswissenschaftliche Biographieforschung vorgestellt. Abschließend werden Grenzen des Ansatzes bzw. aktuelle Forschungsfragen benannt, und es wird auf immer noch bestehende Missverständnisse zwischen Bildungstheorie und empirische Bildungsforschung hingewiesen.
Der vierte Teil konturiert den Bildungsbegriff anhand verschiedener disziplinärer Zugriffe und in Abgrenzung zu anderen grundlegenden erziehungswissenschaftlichen, philosophischen und sozialwissenschaftlichen Begriffen: Erziehung, Sozialisation, Identität, Ausbildung/Berufsbildung/Qualifikation, Kompetenz, Lernen und Wissen. Hier wird die Notwendigkeit, dass eine Auswahl getroffen werden musste, besonders deutlich. Der Begriff „Erziehung“ wird unter Verweis auf einen weiteren eigenständigen Band in derselben Reihe nur knapp behandelt. Die Liste weiterführender Literatur ist zudem mit nur einem Hinweis zu kurz geraten.
Insgesamt erhält der Leser hier eine repräsentative und sachlich differenzierte wie treffende Einführung in bildungstheoretisches Nachdenken. Die leitenden Begriffe in den Randspalten, die systematische Gliederung sowie die die Kapitel abrundenden Zusammenfassungen sorgen für Übersichtlichkeit und richten den Blick des Lesers aufs Wesentliche. Besonders positiv hervorzuheben ist (im Gegensatz zu vielen Einführungen, die derzeit auf dem Markt sind) die Aktualität des Buches: Endlich ein Studienbuch, das nicht mit der Theorieentwicklung in den 1970er Jahren endet und das aktuelle Forschungsfragen der Allgemeinen Erziehungswissenschaft in einer sachlich ansprechenden Weise aufgreift. So kann das Buch ohne Einschränkungen Studierenden in den Einstiegssemestern (auch und besonders zum Selbststudium) empfohlen werden, ohne Qualitätseinschränkungen einerseits oder Überforderung andererseits befürchten zu müssen.
EWR 6 (2007), Nr. 4 (Juli/August 2007)
EinfĂĽhrung in die Theorie der Bildung
(Reihe "Grundwissen Erziehungswissenschaft")
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006
(160 S.; ISBN 3-534-17519-0; 14,90 EUR)
Sabine Selbmann (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sabine Selbmann: Rezension von: Dörpinghaus, Andreas / Poenisch, Andreas / Wigger, Lothar: EinfĂĽhrung in die Theorie der Bildung, (Reihe "Grundwissen Erziehungswissenschaft"). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 4 (Veröffentlicht am 26.07.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/53417519.html
Sabine Selbmann: Rezension von: Dörpinghaus, Andreas / Poenisch, Andreas / Wigger, Lothar: EinfĂĽhrung in die Theorie der Bildung, (Reihe "Grundwissen Erziehungswissenschaft"). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 4 (Veröffentlicht am 26.07.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/53417519.html