
Die Arbeit folgt einem klassischen Aufbau: Nach dem (sehr kurzen) einleitenden ersten Kapitel wird im knappen Theorieteil der „Klassenrat als Untersuchungsgegenstand“ vorgestellt. Ausführlich geht die Autorin in Kapitel 3 auf „Methode und Forschungsprozess“ ein und präsentiert in Kapitel 4 ihre umfangreichen „Empirischen Analysen zum Klassenrat“ auf 122 Seiten. Abschließend erfolgt in Kapitel 5 die „Reflexion des Forschungsprozesses“ und in Kapitel 6 der „Schluss“ der Arbeit, in dem die Befunde anhand der leitenden Fragestellungen zusammengefasst werden. Diese klare Strukturierung geht inhaltlich teilweise verloren. So werden z.B. die Fragestellungen im theoretischen Rahmenkapitel zum Klassenrat herausgearbeitet und in einem Abschnitt gebündelt genannt (35); im Anschluss daran – doch unverbunden – folgen weitere (lern)theoretische Überlegungen zum Klassenrat. Im Verlauf der Arbeit generiert de Boer weitere Forschungsfragen, denen sie nachgeht, sowie Hypothesen, die sie prüft. Ein eigenständiges Kapitel für die Fragestellungen hätte die Lesefreundlichkeit und Orientierungsmöglichkeit (anhand des Literaturverzeichnisses) erhöht.
„Auf die Perspektive kommt es an!“ (11), diese Aussage stellt Heike de Boer ihrem Buch leitmotivisch voran. In diesem Sinne arbeitet sie im Theoriekapitel zum Untersuchungsgegenstand Klassenrat neben ideengeschichtlichen Wurzeln und Vorläufern des Klassenrats dessen pädagogische Intentionen für die Schulpraxis und den intergenerativen Erziehungsprozess als normative Implikationen anhand aktueller Publikationen heraus und kommt zu der forschungsleitenden Konsequenz: „Abwägungen darüber, dass im Klassenrat eine kindereigene Moral oder kindereigene Regeln und Lösungen entwickelt werden, die sich von den Vorstellungen der Lehrenden unterscheiden, fehlen in den Darstellungen“ (22). Indem de Boer eben diese Perspektive der Akteure in ihrer ethnographischen Analyse rekonstruiert, folgt sie dem etablierten Vorgehen der neueren Kindheitsforschung. Die aus diesem Vorgehen resultierende Verortung ihrer Arbeit im „Spannungsfeld von Schulpädagogik und Kindheitsforschung“ (34), erscheint aus mindestens zwei Gründen nicht ganz schlüssig: Zum einen entspringt es der Logik qualitativer – insbesondere ethnographischer – Forschung, den Blick auf die Akteure zu richten sowie deren Sichtweisen zu beschreiben und zu verstehen. Zum anderen beziehen sich theoretische Hintergründe und Fragestellungen ebenso wie die empirischen Befunde der Arbeit primär auf die Schul- und Unterrichtsforschung.
In Kapitel 3 werden die Forschungsmethode und vor allem der Forschungsprozess (explorative und Analysephase) ausführlich vorgestellt. Neben Forschungsperspektive und Erkenntnisinteresse, dem Zugang zum Feld sowie der Vorstellung von Schule und Lehrerin reflektiert Heike de Boer nicht nur ihre Rollenambivalenz in der explorativen Forschungsphase als Ethnographin und ehemalige Grundschullehrerin mit elfjähriger Berufserfahrung, sondern zeichnet auch den Wandel ihres Blickwinkels nach: „Meine Perspektive änderte sich, ich interessierte mich zunehmend weniger für die normkonformen Interaktionen im Klassenrat und begann genau die Situationen zu fokussieren, die ich vorher ausgeblendet hatte. [...] Die Kinder rückten allmählich als kompetente und eigenständige Akteure in den Blick“ (48).
Für die empirischen Analysen zum Klassenrat werden schriftliche Daten in Form von Protokollen aller 62 Klassenratssitzungen und audiovisuelle Daten von 18 Klassenratssitzungen nach dem theoretischen Sampling einbezogen. Außerdem werden – nicht näher spezifizierte – Daten für die Analyse genutzt, die in Seminaren und Abschlussarbeiten zum Klassenrat von Studierenden in derselben und in anderen Klassen erhoben und ausgewertet wurden. Überrascht werden Leser und Leserinnen in den Kapiteln 4 und 5, in denen Ergebnisse einer schriftlichen Befragung der von de Boer untersuchten Schüler und Schülerinnen präsentiert werden (vgl. 147ff.) – eine Teilstudie, die zuvor weder explizit genannt noch vorgestellt wurde. Darüber hinaus ermöglichen die dargestellten Verfahren zur Auswertung der schriftlichen bzw. audiovisuellen Daten zum Klassenrat die für qualitative Forschungsprozesse so wichtige „intersubjektive Nachvollziehbarkeit“ [2] nicht in vollem Umfang. Infolgedessen sind die empirischen Analysen in Kapitel 4 – die zwar unterstützt durch Interpretationskolloquien sowie einen dreitägigen Workshop zum Klassenrat mit Fritz Schütze entstehen konnten – nicht immer ganz schlüssig und verständlich.
Wie wertvoll der Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis sein kann, wird in der Reflexion des Forschungsprozesses (Kapitel 5) deutlich. Indem de Boer ihre Befunde aus den Analysen des Klassenrats der beforschten Lehrerin zur Verfügung stellt und mit ihr diskutiert, kann diese die Diskrepanz zwischen ihren pädagogischen Intentionen und der pädagogischen Praxis erkennen und entsprechende Veränderungen vornehmen, die u. a. ihre Rolle sowie Zweck und Ablauf des Klassenrats betreffen.
Im abschließenden „Schluss“-Kapitel 6 werden die leitenden Forschungsfragen aufgegriffen und anhand der empirischen Befunde beantwortet: Der Klassenrat ist u. a. „kein Gremium für ‚kleine Streitigkeiten’“ (207), kann „als Lern- und Bildungsort“ (208) genutzt werden und ermöglicht den „Gewinn von Handlungsautonomie durch Partizipation an schulischen Entscheidungen“ (217). Mit der Anlage und den Ergebnissen ihrer Untersuchung wirft Heike de Boer zum einen ein neues Licht auf den Klassenrat, zum anderen zeigt sie die fruchtbare Verbindung von (Schul-) Forschung und (Schul-) Praxis auf.
[1] Friedrichs, B. (2004): Kinder lösen Konflikte. Klassenrat als pädagogisches Ritual. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren.
Kiper, H. (1997): Selbst- und Mitbestimmung in der Schule. Das Beispiel Klassenrat. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren.
[2] Vgl. u. a. Steinke, I. (2003): GĂĽtekriterien qualitativer Forschung. In: U. Flick / E. von Kardorff / I. Steinke (Hrsg.): Qualitative Sozialforschung. Ein Handbuch, Reinbek: Rowohlt, S. 320-331.