Mit der „Geschichte des Bildungswesens“ hat Helmut Fend nach der „Neuen Theorie der Schule“ [1] nunmehr den zweiten der angekündigten vier Bände vorgelegt, in denen er eine umfassende Schultheorie zu entfalten beabsichtigt. Die „Geschichte des Bildungswesens“, die, ähnlich wie bereits die „Neue Theorie der Schule“ wesentlich auf Schule und Hochschule fokussiert, bildet dabei den historischen Teil des schultheoretischen Gesamtkonzepts.
Analog zu den in der „Neuen Theorie der Schule“ präsentierten Grundpositionen findet der Leser wieder einen soziologisch inspirierten, dabei historisch gewendeten Beitrag zur Theorie der Schule vor. Ziel sei die Vergewisserung darüber, „woher wir kommen“ (13). Fend betrachtet es als grundlegend, die Gegenwart in ihrer historischen Genese zu erkennen, was auch als Begründung für den vorgelegten Band insgesamt verstanden werden kann: Ohne den historischen Blick sei die gegenwärtige Gestalt von Bildungssystemen nicht angemessen zu erfassen, und so geht es ihm „vor allem darum, die Besonderheiten der Funktionsweise des heutigen Bildungswesens durch den Rückgang auf seine historischen Ursprünge besser zu verstehen“ (148).
Unter Rückbezug auf Arbeiten Max Webers, insbesondere auf dessen religionssoziologische Studien, stellt Fend die seine weiteren Ausführungen leitende These auf, dass insbesondere der jüdisch-christliche Kulturkreis und seine kulturellen Hervorbringungen die Grundlage wissenschaftlicher Leistungen gewesen seien, die sich in keiner anderen Kultur in vergleichbarer Weise hätten finden lassen. Namentlich die christliche Kirche und die lateinische Sprache sieht er als Grundpfeiler eines sich vor allem im christlich-jüdischen Milieu entfaltenden systematischen Lehrens und Lernens; Latein sei die Basis für einen europäischen Kulturraum gewesen, dessen dann in der Neuzeit sich herausbildenden Schulsysteme Fend als zu ihrer Zeit singuläre Erscheinungen wahrnimmt. Die Schulen im okzidentalen Kulturkreis verdankten ihre Entstehung wiederum einigen bereits im frühen Christentum angelegten Besonderheiten, zu denen die „Kanonisierung eines Korpus gültigen Wissens“ sowie die „Notwendigkeit von Experten, dieses Wissen zu sichern und zu bewahren“ (15) gerechnet werden. Die Institutionalisierung eines in soziologischer Diktion ‚institutionellen Akteurs Schule’ sei die Grundlage für die Vergesellschaftung von Lehren und Lernen gewesen.
Im exemplarischen Nachvollzug von 2000 Jahren institutionalisierter, mithin schulischer Bildung verbindet Fend die historische Rekonstruktion mit einer systematischen, theoretisch angeleiteten Analyse der Institution Schule, im Rahmen derer er einige Ausflüge auch in die Geschichte der Universität unternimmt. Angesichts dieses thematischen Zuschnitts von einer Geschichte des ‚Bildungswesens’ zu sprechen, mag insofern zumindest aus einer aktuellen Perspektive, bei der ein den Lebenslauf des Menschen begleitendes, enorm ausdifferenziertes Bildungssystem in den Blick zu nehmen ist, einen etwas zu weit formulierten Anspruch markieren.
Im Rahmen seiner Analysen zeigt Fend, dass Lehren und Lernen als gesellschaftlich rückgebundene Aktivitäten, d.h. als stets in einen jeweils umgebenden gesellschaftlichen und kulturellen Kontext eingewoben zu verstehen sind und insoweit kulturellen bzw. gesellschaftlichen Entwicklungen nachfolgten. Zugleich entwickelten sie aber auch ein Eigenleben, was zum Hinweis auf die in Schulen zeitgleich zu beobachtende Dualität von (äußerer) Bedingtheit und (innerer) Eigenständigkeit führt. Vor dem Hintergrund dieser in der organisationssoziologischen Bildungsforschung mittlerweile gängigen, auch theoretisch fundierten Erkenntnis wird die historische Genese des okzidentalen Sonderweges rekonstruiert, wobei dieser Sonderweg, worauf Fend auch selbst hinweist, allerdings eher angedeutet als durch umfassende und systematische komparative Analyse erhärtet wird. Fend verlässt sich insoweit auf die Ergebnisse der Weberschen religionssoziologischen Forschungen, die nur sehr knapp referiert werden. Umfänglich erläutert wird hingegen das weitere theoretische Instrumentarium, das den Rahmen der historischen Analyse bildet und bereits in der „Neuen Theorie der Schule“ entfaltet wurde, dies insbesondere hinsichtlich der dort vorgenommenen Interpretation von Schule als eines institutionellen Akteurs der Menschenbildung. Zentrale Betrachtungsebenen und Analysekategorien sind auch für die „Geschichte des Bildungswesens“ das in Bildungseinrichtungen weitergegebene kulturelle Wissen und Können, die in ihnen wirkenden individuellen Akteure, die Entstehung von Schulen als kollektiven Akteuren, die Entwicklung ‚operativer Erfindungen’ wie z.B. einer elaborierten Unterrichtsmethodik, das im System entstehende Wissen sowie das Wissen über das System und schließlich das, so Fend, nur im kulturellen und gesellschaftlichen Kontext angemessen zu verstehende Bildungswesen. Gerade der letztgenannte Aspekt bezieht sich, wie an verschiedenen Stellen des Bandes verdeutlicht wird, auf das Eingebundensein von Bildungsprozessen in übergreifende Entwicklungen; dem Aufbau von Bildungssystemen und der Festlegung der in ihnen weiterzugebenden Inhalte und Fertigkeiten gehen (s.o.) stets Entscheidungen auf kultureller und gesellschaftspolitischer Ebene voraus.
Mit diesen Hinweisen sind im Wesentlichen die zentralen Vorannahmen skizziert, im Rahmen derer die Entwicklung von Schule und Hochschule im europäischen Raum nachvollzogen wird. Fend lässt seine Darstellung in der Antike beginnen. Im Weiteren stellt er in sechs ‚großen Erzählungen’ Entwicklungsschritte des ‚okzidentalen Sonderweges’ vor. Es sind dies das sich ausbreitende Christentum und seine Rezeption der Antike, die Bildungsgeschichte des Mittelalters, die in der Renaissance einsetzende Säkularisierung der Bildung, die Reformation als Beginn einer Alphabetisierung des Volkes, das Bildungswesen im Zeitalter der Aufklärung, die Entstehung der modernen Bildungssysteme im 19. Jahrhundert und schließlich das 20. Jahrhundert mit Universalisierung, Systembildung, Expansion und Professionalisierung als prägenden Kennzeichen der Entwicklung des Bildungswesens.
Wie erwähnt geht es Fend nicht um einen linearen und enzyklopädischen Nachvollzug von 2000 Jahren Schul- bzw. Bildungsentwicklung, sondern um die exemplarische Beleuchtung relevanter Etappen, deren Analyse in der methodischen Herangehensweise ihr zentrales Bindeglied findet. So zeigt sich in allen Kapiteln das Bemühen, die bildungssoziologische Perspektive konsequent beizubehalten. So wird z.B. die sich in den frühen nachchristlichen Jahrhunderten herausbildende Amtskirche als kollektiver Akteur interpretiert, dem hinsichtlich der Systematisierung von Lehren und Lernen entscheidende Bedeutung zukomme. In ähnlicher Weise werden auch die weiteren Schritte auf dem Weg zur Systembildung im Bildungswesen und vor allem die relevanten Akteure – unter ihnen zunächst Kirche und Staat, später auch die organisierte Lehrerschaft und die Wirtschaft – eingeordnet.
Abschließend und resümierend stellt Fend noch einmal die rhetorische Frage, ob es einen Sonderweg des okzidentalen Bildungswesens gegeben habe. Seine erwartungsgemäß positive Antwort begründet er mit dem nochmaligen Verweis auf zwei zentrale Merkmale dieses Sonderweges. Es sind dies zum einen die Herausbildung eines Menschenbildes, im Rahmen dessen der individuellen, durch Bildung und Erziehung bewirkten Persönlichkeitsentwicklung stetig höhere Bedeutung zu Teil wird, und zum anderen die Institutionalisierung eben jener Bildungs- und Erziehungsprozesse in hierzu eigens geschaffenen Einrichtungen, in denen „die ‚Arbeit am Menschen’ auf Dauer gestellt und aus der Zufälligkeit spontaner Lernprozesse herausgeführt“ (230) wird.
Fend selbst grenzt seine „Geschichte des Bildungswesens“ von anderen Formen historiographischer Darstellung des Bildungswesens ab. Er kennzeichnet die Untersuchung explizit als (Re-) Konstruktion von Geschichte, die neben weiteren Konstruktionen – ‚großen Erzählungen’ – stehe. Die umfassenden Hinweise zur theoretischen Einordnung erleichtern den Nachvollzug der hieraus abgeleiteten Schlussfolgerungen. Ebenso wohltuend ist, dass er bereits einleitend klarstellt, was nicht Ziel der Arbeit ist, nämlich den verfügbaren, eher enzyklopädisch angelegten Darstellungen zur Bildungsgeschichte eine weitere hinzuzufügen. Insoweit darf man von der Lektüre weniger neue Detailkenntnisse als vielmehr eine theoretisch fundierte Interpretation von 2000 Jahren abendländischer Bildungsentwicklung erwarten. Fend geht es darum, entlang einer soziologischen Theorieofferte, welche zwar den Blick für spezifische Aspekte schärft, zugleich aber auch andere ausblendet, eine „im Exemplarischen verbleibende Rekonstruktion von ‚institution building’ im Bildungsbereich“ (29) vorzulegen. Dies macht die – im übrigen üppig bebilderte – Studie im Verhältnis zu den in der historischen Bildungsforschung verbreiteten, auf die Aufarbeitung von Archivalien gestützten und primärquellenbasierten Darstellungen in besonderer Weise interessant. Sie ergänzt andere Arbeiten zur Entwicklung des Bildungswesens, kann – und will – diese aber nicht ersetzen, sondern vielmehr einen erweiterten, theoretisch geschärften Blick auf den Gegenstand bieten.
Vermutlich wird sich nicht jeder dem gewählten Ansatz und den hieraus abgeleiteten Schlussfolgerungen vorbehaltlos anschließen mögen. Dessen ungeachtet bietet die „Geschichte des Bildungswesens“ gerade durch die konsequente Anwendung einer bildungssoziologischen Theorie eine zum kritischen Nachdenken über die Bildungsentwicklung ‚unseres’ Kulturkreises und ihre Spezifika in besonderem Maße anregende Lektüre.
[1] Vgl. Fend, H. (2006): Neue Theorie der Schule. EinfĂĽhrung in das Verstehen von Bildungssystemen. Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften (http://www.klinkhardt.de/ewr/53114717.html).
EWR 6 (2007), Nr. 4 (Juli/August 2007)
Geschichte des Bildungswesens
Der Sonderweg im europäischen Kulturraum
Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2006
(265 S.; ISBN 3-531-14733-8; 22,90 EUR)
Hans-Werner Fuchs (GieĂźen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Hans-Werner Fuchs: Rezension von: Fend, Helmut: Geschichte des Bildungswesens, Der Sonderweg im europäischen Kulturraum. Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 4 (Veröffentlicht am 26.07.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/53114733.html
Hans-Werner Fuchs: Rezension von: Fend, Helmut: Geschichte des Bildungswesens, Der Sonderweg im europäischen Kulturraum. Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 4 (Veröffentlicht am 26.07.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/53114733.html