EWR 4 (2005), Nr. 5 (September/Oktober 2005)

Dietmar Weber
Kybernetische Interventionen
Zum kritischen VerstÀndnis des immanenten VerhÀltnisses von Multimedia und PÀdagogik
Wiesbaden: VS Verlag fĂŒr Sozialwissenschaften 2005
(126 S.; ISBN 3-531-14231-3; 17,90 EUR)
Kybernetische Interventionen Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um eine Dissertation, die am Fachbereich Humanwissenschaften der UniversitĂ€t Darmstadt angenommen wurde. Ausgegangen wird von der These, dass Technik und PĂ€dagogik einen Zusammenhang bilden, den es immanent zu entfalten gelte. Dabei liege der Arbeit „ein besonderes VerstĂ€ndnis von InterdisziplinaritĂ€t zugrunde“ (10), die sich an der Grenze von PĂ€dagogik und den Technikwissenschaften bewege, oder anders formuliert: der AnknĂŒpfungspunkt sei die „Selbstkritik der PĂ€dagogik, die sich ihrer selbst sich vergewissernd der Technik öffnet.“ (9) Der Autor verfolgt, wie er einleitend konstatiert, mit diesem fĂ€cherĂŒbergreifenden Projekt das Anliegen, die „bislang weithin ausgeschlossene Technik“ (10) bildungstheoretisch zu erschließen, um einen Beitrag zu leisten fĂŒr die Möglichkeit einer vernĂŒnftigen Gestaltung wissenschaftlich-technischer Zivilisationsprozesse. Dabei gehe es nicht nur um Technik und PĂ€dagogik, sondern insbesondere um Multimediatechnik im Spiegel einer kritischen Bildungstheorie. Gemeint ist damit die sogenannte „DarmstĂ€dter“ Bildungstheorie, wie sie von Heydorn, Koneffke und Gamm ausgearbeitet worden ist, auf die allerdings im weiteren Verlauf der Studie bedauerlicherweise kaum mehr eingegangen wird.

Nach einer EinfĂŒhrung, in der das Programm und Anliegen der Studie offengelegt und Auskunft ĂŒber die der Arbeit zugrunde gelegten wissenschaftlichen Methodik gegeben wird, folgen sieben – mal kĂŒrzere, mal etwas ausfĂŒhrlichere Kapitel –, die das kritische VerstĂ€ndnis des immanenten VerhĂ€ltnisses von Multimedia und PĂ€dagogik explizit und implizit entfalten. Abgeschlossen wird die Arbeit mit einem knappen, aber durchaus interessanten Ausblick zum „Widerspruch der Mediatisierung als Bildungsproblem der Gegenwart“.

Im ersten Kapitel wird die herrschende Diskussion um Multimedia aufgenommen und sowohl als Herausforderung als auch als Versprechen gedeutet in politischer wie pĂ€dagogischer Hinsicht. Das Versprechen von Multimedia zielt auf eine Entlastung des Einzelnen, die sich durch ein „verĂ€ndertes leichteres Lernen und damit auf die tendenzielle Befreiung von der MĂŒhsal des Lernens sowie dem Zwangscharakter institutionalisierter Erziehung und Bildung“ (18) ausdrĂŒckt. Aber die historische EinschĂ€tzung der Medien, insbesondere ihre Rolle in der jĂŒngsten Geschichte Mitteleuropas, macht auch ihre potenzielle Funktion als Propagandainstrument deutlich, die sie auch zu einer Gefahr werden lĂ€sst. DarĂŒber hinaus vermag Multimedia Bildung mit Unterhaltung zu verknĂŒpfen, was den Edukanden tendenziell zum Kunden werden lĂ€sst – eine Herausforderung bzw. Provokation fĂŒr die Erziehungswissenschaft, sofern sie dem gegenwĂ€rtig vorherrschenden Trend entgegentreten will, dass Bildung immer mehr zu einer bloßen Ware verkommt.

Das zweite Kapitel beschreibt die durch die Medienentwicklung bewirkten Änderungen des Lernens als eine „erzwungene Aussicht“, die zu Umstrukturierungen im gesamten Bildungswesen herausfordert. Durch die rasante Entwicklung der Multimediatechnik werde die Aussicht mittransportiert, dass Lernen immer leichter und wirksamer werden könne. Zugleich entstehe jedoch ein gewisser „Zwang“, Lernen in qualitativer Hinsicht zu reformieren und zugleich quantitativ auszudehnen. Man könnte dies auch pejorativ und etwas verkĂŒrzt mit den Worten von Anna Tuschling als eine Verurteilung zu „lebenslĂ€nglichem Lernen“ bezeichnen (In: Glossar der Gegenwart, Frankfurt 2004). Dieser Trend zum lebenslangen Lernen ist objektiv feststellbar, gleichwohl empirisch kaum nachweisbar ist, dass sich durch die „Neuen Medien“ die Lernwirksamkeit tatsĂ€chlich signifikant verbessert.

Die scheinbar dominierende generelle Antwort auf die bisher skizzierte multimediale Entwicklung, die zu einer nicht mehr zu ignorierenden Bildungsherausforderung avanciert ist, sieht der Autor in dem SchlĂŒsselbegriff „Medienkompetenz“. Dieser ebenso umstrittene wie diffuse Begriff wird im dritten Kapitel einer eingehenden Kritik unterzogen. Als „ausgedehnter Megabegriff“ (44) beziehe er sich im Prinzip auf die „’alten‘ Medien“ (45), wĂ€hrend die multimedialen Medien zu einer neuen, qualitativ anderen pĂ€dagogischen Herausforderung werden, der – wie allerdings erst in den spĂ€teren Kapiteln deutlich wird – mit dem Begriff „Mediatisierungskompetenz“ begegnet werden soll.

Im vierten Kapitel wird der kulturverĂ€ndernde Charakter der Multimediatechnik nĂ€her bestimmt, der bis dahin fast ausschließlich in seiner politisch-ökonomischen Dimension diskutiert wurde. In der ersten HĂ€lfte gibt es eine Auseinandersetzung mit der MedienpĂ€dagogik Dieter Baackes, wĂ€hrend sich die zweite HĂ€lfte des Kapitels den technischen Entwicklungen von Multimedia widmet. In dieser Sachanalyse wird Multimediatechnik als eine Symbiose von Computertechnik und Medientechnik verstanden, die zusammengefasst als „informationstechnische Kybernetisierung“ (66) bezeichnet wird.

Eine so definierte Multimediatechnik erzeugt die hier thematisierten „Kybernetischen Interventionen“ (Titel), wie im fĂŒnften Kapitel nĂ€her herausgearbeitet wird. In diesem Kapitel werden die vorangegangenen Ergebnisse der Technikanalyse mit verschiedenen Medienbegriffen konfrontiert und ein neuer Computermedienbegriff erarbeitet. Der Autor diagnostiziert gar eine gesellschaftliche ZĂ€sur, eine durch Multimediatechnik ausgelöste, qualitativ andere (soziale) Dimension, die Mediatisierung zur Bedingung moderner, d.h. aktueller PĂ€dagogik werden lĂ€sst.

Das sechste Kapitel expliziert die sozio-technische Dimension der Multimediatechnologie. Damit ist die zuvor schon angefĂŒhrte VerschrĂ€nkung von technischer Sachstruktur und deren sozialen Implikationen gemeint, die zu pĂ€dagogischen Konsequenzen herausfordern, welche gegen Ende der Arbeit noch etwas ausfĂŒhrlicher diskutiert werden (siebtes Kapitel und die „Aussicht“). Hier wird die pĂ€dagogische Bestimmung von Multimediatechnologie in den Fokus gerĂŒckt, die zwischen Subjektqualifizierung und Technologiegestaltung oszilliert. Die zuvor herausgearbeiteten politischen, ökonomischen und technologischen Dimensionen der Multimediatechnik werden wieder aufgenommen und fruchtbar gemacht fĂŒr eine bildungstheoretische Reflexion, die ĂŒber die gegenwĂ€rtig vorherrschende Diskussion einer sogenannten Multimedia-Qualifizierung hinausgeht. Der Multimediatechnik wird eine kaum zu unterschĂ€tzende Bildungsrelevanz zugesprochen, was u.a. durch die Begriffsverwendung von Multimedia als „Bildungstechnologie“ (112) zum Ausdruck gebracht wird.

Gerahmt wird die Arbeit durch einen knappen Ausblick, der noch einmal auf die der „Mediatisierung“ innewohnenden Ambivalenz eingeht, die als „Bildungsproblem der Gegenwart“ ausgemacht wird. Hier finden sich durchaus interessante Hinweise auf bildungstheoretische Traditionslinien von Wilhelm v. Humboldt, Heinz-Joachim Heydorn und Herwig Blankertz. Sie werden allerdings lediglich benannt und in keiner Weise nĂ€her ausgefĂŒhrt. Der qualitative Unterschied von Medienkompetenz und Mediatisierungskompetenz wird abschließend noch einmal erlĂ€utert, und es wird herausgestellt, dass der Begriff „Kybernetische Interventionen“ als eine „praktische Metapher fĂŒr eine Kritik“ zu verstehen sei, „die auf Überwindung eines theoretischen Zustandes dringt, der wissenschaftlich noch weithin in der unbefriedigenden Koexistenz von System- und Subjekttheorien verharrt“ (115).

Insgesamt ist an dieser Studie positiv hervorzuheben, dass sie einem klaren und gut strukturierten Aufbau folgt und in ihrem Umfang knapp gehalten ist, was gerade fĂŒr eine Dissertation alles andere als selbstverstĂ€ndlich ist. Aber in dieser KĂŒrze liegt auch ihre SchwĂ€che. Denn es wird nicht viel mehr geleistet, als dass einige, wenn auch wichtige Impulse gegeben werden, die es ermöglichen anzufangen, ĂŒber das VerhĂ€ltnis von Multimedia und PĂ€dagogik systematisch nachzudenken. So bricht die Argumentation oftmals da ab, wo es gerade besonders interessant wird. Deshalb kann man nur mit EinschrĂ€nkung von einer gelungenen konkreten Ausarbeitung, der sich durch die Entwicklung der Multimediatechnik ergebenen bildungstheoretischen Implikationen sprechen.

DarĂŒber hinaus fehlt fĂŒr das doch sehr anspruchsvolle und wichtige Anliegen, die aktuelle technische Multimediaentwicklung kritisch-pĂ€dagogisch aufzugreifen, ein stĂ€rker hervorgehobener Bezug auf die sogenannte klassische philosophische (und auch pĂ€dagogische) Tradition, die sich im Grunde genommen seit der Nikomachischen Ethik des Aristoteles mit der Wechselwirkung von Technik und Bildung im Allgemeinen beschĂ€ftigt. Weber weist selbst darauf hin, dass die neueste Multimediaentwicklung trotz ihres Innovationspotentials immer auch in einer bestimmten KontinuitĂ€t steht, so dass Ă€ltere Diskussionslinien durchaus interessante Impulse geben könnten, auch wenn sie sich auf das Problem der technischen Entwicklung als solche bezieht und nicht speziell auf die Multimediaentwicklung. Doch gerade weil der Autor weniger historisch-systematisch argumentiert, sondern sich vor allem auf die aktuelleren Entwicklungen bezieht, ist es um so bedauerlicher, dass in dieser 2005 erschienenen Studie keine Literatur einbezogen wurde, die jĂŒnger ist als fĂŒnf Jahre. Bei einer Bearbeitung des Themas Multimedia mit dem Anspruch auf AktualitĂ€t wĂ€re es wĂŒnschenswert gewesen, wenn der Autor seine Veröffentlichung durch entsprechend neuerer Literatur aktualisiert und ergĂ€nzt hĂ€tte. So wirkt die Studie bisweilen schon mit Beginn ihres Erscheinens etwas antiquiert, was bedauerlich ist, angesichts der hier aufgegriffenen interessanten und wichtigen Fragestellung.


Oliver Geister (MĂŒnster)
Zur Zitierweise der Rezension:
Oliver Geister: Rezension von: Weber, Dietmar: Kybernetische Interventionen, Zum kritischen VerstĂ€ndnis des immanenten VerhĂ€ltnisses von Multimedia und PĂ€dagogik. Wiesbaden: VS Verlag fĂŒr Sozialwissenschaften 2005. In: EWR 4 (2005), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/53114231.html