- Wie kann der tradierte Bildungsbegriff für die neuen Herausforderungen der Gegenwart erweitert werden?
- Wie können ungleiche Bildungszugänge abgebaut werden?
- Wie lassen sich außerschulische und schulische Bildung zusammen denken und organisieren?
Systematisiert werden die Ergebnisse in drei Teilen: I. Erziehungswissenschaftliche Grundlegung; II. Konzeptionelle Herausforderung und III. Bildungspolitische Konsequenzen.
Für den Leser hilfreich wäre eine ausführlichere Einleitung der Herausgeber gewesen, die sich ihrerseits jedoch auf gut zwei Seiten beschränken und folgende Zielsetzung anstreben: „Es geht um Möglichkeiten und Perspektiven gelingender Bildungsprozesse, die unter Einbeziehung gerechtigkeitstheoretischer und Chancengleichheit postulierender Prämissen die allseits vorhandenen tradierten institutionellen Verharrungsmomente ebenso in Frage stellen wie die Annäherung an den angestrebten ‚Bildungsmarkt’“ (10f.). Dass diese allumspannende Thematik auf der diesem Band zugrunde liegenden Fachtagung heftige Debatten ausgelöst haben muss, kann der Leser nur erahnen. Es ist zwar bis dato nicht üblich, wäre aber einmal ein spannendes „Projekt“, repräsentative Protokollauszüge von Diskussionen in die sonst sehr summarische Anordnung der Beiträge mit einfließen zu lassen. Zur Orientierung wird ein Sachregister geliefert, das, wenn auch in quantitativem Verweis, auf Themenschwerpunkte deutet. Neben „Bildung“ und „Gesellschaft“ im allgemeinen und der „Wissensgesellschaft“ im Besonderen sind es vor allem die Stichworte: „Ganztagsschule“, „Lebenswelt“, „Leistung“, „Migration“, „Organisation“, „Teilhabe“, „Tradition“ und „Ungleichheitsforschung“, derer sich die Autoren in ihrer Argumentation bedient haben. Dies lässt schon einmal einen ersten Horizont dessen erkennen, was als „zeitgemäße Bildung“ zur Herausforderung ansteht. Zentrum ist (natürlich) die Diskussion um PISA, TIMMS und IGLU, die in fast jedem Beitrag erwähnt wird. Hier wäre ein allgemeiner Einleitungsbeitrag angebracht gewesen und die generelle Verabredung, von diesbezüglichen Wiederholungen Abstand zu nehmen.
Stattdessen widmet sich Peter Vogel im ersten Beitrag der Frage, ob in der aktuellen Debatte der Bildungsbegriff nicht durch „Lernen“ ersetzt werden könne. Jedoch wird diese Frage nicht wirklich beantwortet, sondern in eine Polemik gegenüber der Aufgeladenheit des Bildungsbegriffs überführt. Andere Beiträge sind diesbezüglich sachlicher. So gibt Hans Thiersch in seiner Intention auf sozialpädagogische Aufgaben eine Systematisierung des Bildungsbegriffs unter den drei Aspekten der Lebensbildung, der pädagogisch unterstützten Selbstbildung und einem neuzeitlichen Institutionenkonzept reflexiver Vergesellschaftungsprozesse vor. Im Zentrum dieses gesellschaftlichen Analysehorizontes stehe die nachmoderne „Spannung von Bildung als Humankapital und Bildung im Zeichen sozialer Gerechtigkeit und Lebensgestaltung“ (22). Diese Spannung dürfte bei der Tagung zu vielen Diskussionen Anlass gegeben haben, denn die Autoren kommen zu unterschiedlichen Bewertungen bezüglich der Möglichkeit ihrer Versöhnung.
So wählt Heinz Sünker sehr kapitalismuskritische Töne, die u.a. in der Frage münden, wie die bestehende gesamtgesellschaftliche Irrationalität überhaupt noch mit gelingendem Aufwachsen zu verbinden sei (vgl. 101). Andere Autoren, wie Heinz-Jürgen Stolz, versuchen dagegen weniger zwischen ökonomisch-utilitaristischen Zweck- und emanzipatorischen Selbstbildungsansprüchen zu polarisieren, sondern favorisieren eine harmonische Zielausrichtung zeitgemäßer Bildung hin zu „gelingende(r) individuelle(r) Lebensführung, gesellschaftliche(r) Teilhabe und befriedigende(r) Erwerbstätigkeit“ (114). Stolz plädiert ferner für die Auflösung einer transzendentalen Fundierung von Bildung (Kant) zugunsten der Einsicht in ihren sozialen Konstruktcharakter ohne überhistorische Bezugspunkte. Bezüglich des sozialen Konstruktcharakters von Bildung wie auch von Subjektivität herrscht ein breiter Konsens quer durch alle Beiträge. Unklar in der allgemeinen Begründungslage bleibt aber, wie „eine die gegebenen Verhältnisse transzendierende Komponente, mithin eine ethische Dimension“ (128) sachlogisch zu verankern ist. Darin scheint in der Diskussion um einen „zeitgemäßen Bildungsbegriff“ die Schwierigkeit zu liegen, dass er unter empirisch-positivistischen Aspekten „schwammig“, in seinen transzendierend-kritischen Dimensionen aber unerlässlich ist, will man nicht die bestehenden Definitionen von „gesellschaftlicher Realität“ selbst zum Absolutum erheben.
Aber solche grundlegenden Fragen stehen nicht an erster Stelle in der vorliegenden Debatte erziehungswissenschaftlicher Forschungen und Reflexionen. Es geht darum, sich am reformerischen Handlungsbedarf einer sich in Umbrüchen befindlichen Gesellschaft zu beteiligen – auch darin sind sich alle Autorinnen und Autoren einig, dass dies vorrangige Aufgabe sei. Es scheint illusionär, so Thiersch, „aus den zunehmenden Prozessen von Vergesellschaftung aussteigen zu wollen“ (34). In diesem Zusammenhang könnte sich beim Leser das Gefühl einschleichen, dass gewisse soziologische Analysen heute Schicksalsgewicht bekommen: In diesem Tagungsband allen voran die „Wissensgesellschaft“ des Bielefelder Soziologen Helmut Willke. Natürlich werden auch „die Risikogesellschaft“ (Ulrich Beck), „die Erlebnisgesellschaft“ (Gerhard Schulze) und andere soziologische Etikettierungen erwähnt, doch stelle „die Wissensgesellschaft“ die große Stärke dar, eine Gesellschaft im Übergang zu charakterisieren, so Karin Bock, Sabine Andresen und Hans-Uwe Otto (333). Daraus wird abgeleitet, „dass es künftig insbesondere um die öffentlich verantwortete Organisation und Institutionalisierung von Erfahrungs-, Lern- und Sozialisationsprozessen gehen muss, um Bildungsprozesse zu ermöglichen“ (334). – Folgt dies wirklich zwingend daraus (vgl. „muss“) oder sind diese gesellschaftlichen bzw. gesellschaftstheoretischen Vorgaben nicht vielmehr Anlass, die eigenen theoretischen und pädagogisch-konzeptionellen Vorstellungen ins Feld zu führen? Dies spiegeln zumindest die diversen Vorschläge dieses Buches – aber gerade darin sind sie auch ebenso kontrovers wie anregend.
Zum Thema „Lernen“ wird angesichts einer fortschreitenden Institutionalisierung wieder die Wichtigkeit von „Lebensweltorientierung“, „Situiertheit“ und „informellen Problemlösungsprozessen“ betont. Mit Blick auf die zentrale Fragestellung der Chancengerechtigkeit macht Claus J. Tully aber auch darauf aufmerksam, dass „die Risiken sozialer Ausgrenzung bei wachsender Informalisierung zu(nehmen), obgleich die größere Eigeninitiative zunächst als zusätzliches Chancenangebot erscheint“ (86). Vielleicht ist gerade darum in der zeitgemäßen Debatte die Ganztagsschule so attraktiv, weil sie verspricht, Chancen und Risiken von Lernprozessen zugunsten aller ausgleichen zu können. So argumentiert Ulrike Popp für eine Pflichteinführung der Ganztagsschule als einer „zeitgemäße(n) Bildungseinrichtung für die Anforderungen der Wissensgesellschaft“ (179). Dabei sollte die „Tagestruktur einer zeitgemäßen Ganztagsschule ... der Leistungsfähigkeit von Kindern, Jugendlichen und Lehrkräften entsprechend rhythmisiert, in einer verschränkten Abfolge von Unterrichts-, Förder-, Stillarbeits- und Freizeitphasen organisiert sein“ (ebenda).
Nicht ganz abwegig erscheinen hier Gegen-Bedenken von Max Fuchs, dass die Schule zu einer totalen Institution (im Anschluss an Erving Goffman) werde. Nicht nur die Schule auch andere Bildungsträger und Bildungspartner stünden hier in der Verantwortung (vgl. 218). Hinzuzufügen wären wohl auch Phasen der „Entrhythmisierung“, insofern ein frei-verantwortliches Subjekt angestrebt wird. Darum wird in vielen Beiträgen auch nicht von Ganztagsschule, sondern von Ganztagsbildung gesprochen. Thomas Coelen definiert diese in seinem Beitrag explizit als Zusammenarbeit zwischen Schulen und Einrichtungen der Jugendhilfe. Ganztagsbildung ziele auf eine theoretische Begründung einer zeitgemäßen Einheit von Ausbildung und Identitätsbildung und solle über eine Engführung der aktuellen Debatte auf Lernleistungen und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf hinausgehen. Angestrebt wird für alle die „Partizipation in einer demokratischen und kapitalistischen Gesellschaft“ (131). Demgegenüber bzw. diese Sicht erweiternd, ließe sich mit Bezug auf andere Autoren einwenden, dass „Bildung“ auch „widerständig gegen die herrschenden Verhältnisse“ (94) sein solle und stets auch ein „critical concept“ (345, Anmerk. 1) darstelle.
In dieser Hinsicht stellen sich die meisten Beiträge der Frage einer zeitgemäßen Reorganisation von Bildungsinstitutionen mit der Intention auf Chancengleichheit. Zur Konkretisierung bestehender gesellschaftlicher Ungleichheiten werden zahlreiche empirische Studien angeführt, die verdeutlichen, dass neben sozialen Ursachen auch kulturelle und religiöse „Querlagen“ zur Ausgrenzung an gesellschaftlicher Teilhabe führen. Albert Scherr erläutert dies unter der Analysekategorie einer „Einwanderungsgesellschaft“ (247ff.). Ferner machen Hannelore Faulstich-Wieland (vgl. 261ff.) und Sabina Larcher (vgl. 275ff.) auf Ausgrenzungsphänomene aufmerksam, die aufgrund von Geschlechterzuweisungen entstehen und sowohl eine humanadäquate Unterrichtsgestaltung behindern als auch die Professionalisierungsdebatte verzerren. Was aber ist nun gegen all diese Ungleichheiten zu tun?
Jürgen Oelkers stellt dahingehend zunächst klar, dass es Chancengleichheit im Sinne gleicher Chancen zu Beginn des Parcours nicht geben kann (vgl. 238). Möglich sei nur eine „Bearbeitung von Benachteiligung“ (238) mit dem Bemühen zunehmender Chancengerechtigkeit. Sein Vorschlag lautet, Vorschulen im Alter von vier Jahren beginnen und eine 8jährige Gesamtschule folgen zu lassen. Inwieweit solch eine Gesamtschule auch den Forderungen einer integrierten Ganztagsbildung mit einem erheblichen Beitrag der Kinder- und Jugendhilfe (vgl. 343ff.) nachzukommen hat, lässt Oelkers offen. Stattdessen konstatiert er am Schluss seines Beitrags: „Damit (mit der Einführung von Vorschulen und Gesamtschulen, P.R.) wird nicht die Gesellschaft anders, wohl aber die Schule“ (245). Dies mag gegen den reformpädagogischen Traum gerichtet sein, über Bildungsreformen Gesellschaft verändern zu können – dennoch schwingt darin Resignation mit und passt nicht so ganz zur Rubrizierung „Bildungspolitische Konsequenzen“. An dieser Stelle wäre eine klare Analyse zum zeitgemäßen Stand wirtschaftspolitischer Forderungen im Verhältnis zum pädagogischen Wollen und Können angemessener gewesen.
Insgesamt geben die Beiträge einen guten Querschnitt der gegenwärtigen Debatte, die sich in Luhmann-, Bourdieu- und anderen relativ geschlossenen Sprachspielen nicht immer dem breiten Publikum verständlich macht, aber gerade darin auch repräsentativ ist.