EWR 6 (2007), Nr. 3 (Mai/Juni 2007)

Hartmut von Hentig
Bewährung
Von der nĂĽtzlichen Erfahrung, nĂĽtzlich zu sein
Wien: Hanser 2006
(106 S.; ISBN 3-446-20776-7; 12,50 EUR)
Bewährung Wenn Hartmut von Hentig ein pädagogisches Manifest präsentiert, dann liegt damit eine Streitschrift von einem der im öffentlichen Diskurs wohl bekanntesten deutschsprachigen Pädagogen vor, der sich in seinem 81. Lebensjahr erneut publizierend positioniert. Sein Einsatz kreist zentral um Bewährung und Erfahrung, in concreto um „zwei praktische Vorhaben, in denen Bewährung an die Stelle von Belehrung tritt“ (7). Dabei geht es demnach weniger um (bildungs-)theoretische Diversifikationen, sondern vielmehr um eine Position, die in praxi und in theoria Veränderungen und Diskussionen hervorrufen möge. Von Hentigs Vorschläge intendieren „pädagogischen und bildungspolitischen Bemühungen eine ‚andere’ Richtung“ (81) zu geben, „deren Richtigkeit man an ihnen erfahren kann“ (81). Der Themenbereich, in dem diese Thesen verortet werden, erscheint als ein genuin pädagogischer, wenn und weil das Verhältnis von älterer und jüngerer Generation sowie die Relationierung von Individuum und Gesellschaft zur Verhandlung stehen. Hartmut von Hentig fokussiert mit diesem Buch „die nützliche Erfahrung, nützlich zu sein“. Die Wiederholung des Nützlichen lässt sich als Pleonasmus lesen oder aber es lässt sich darin eine Differenzierung vermuten, der die Verwobenheit von Individuum und Gesellschaft und darin mögliche Spielräume thematisiert. Als Manifest zielt der Text auf eine enge Koppelung von pädagogischem Gedanken und politischem Vorschlag (vgl. 79). Gerade diese Grenzposition zwischen Pädagogik und Politik könnte als Stärke und als Schwäche des Textes gelesen werden: Für eine politische Umsetzung erscheint er als zu unkonkret in Organisationsentwürfen und (Detail-)Planung und für eine (lern- oder bildungs-)theoretische Abhandlung scheint er zu wenig Arbeit an Differenzierungen in den Grundlagen und Prämissen zu leisten.

Auch angesichts der Jugendunruhen in den Pariser Vororten und aktueller gesellschaftlicher Problemlagen mit Jugendlichen fordert Hartmut von Hentig einen „neuen Blick“ (10) auf vorrangig zwei Bereiche: erstens auf das „Lernen mit und ohne Schule“ (10), also auf ein Verständnis von Bildung, das Anderes zu fassen vermag als die OECD-Terminologie in den Blick nimmt (vgl. 10); und zweitens auf die „Beteiligung der jungen Generation an Aufgaben und Versprechungen der Gesellschaft“, denn dort solle „so etwas wie ‚Bewährung’ in der Gemeinschaft ermöglicht“ (10) werden. Diesen ‚neuen Blick’ ermöglichen die beiden vorgestellten Projekte: „Es wird erstens vorgeschlagen, die Mittelstufe der allgemeinbildenden Schulen (die Altersjahrgänge 13, 14 und 15) zu ‚entschulen’. Es wird zweitens vorgeschlagen, jeden Bürger, jede Bürgerin unserer Republik ein Jahr lang zwischen der Beendigung der schulischen Ausbildung und dem Berufsantritt einen Dienst an der Gemeinschaft leisten zu lassen.“ (10, kursiv i.O.) Beide Vorhaben werden als „großes gemeinsames Dach“ (13) skizziert: Man brauche frühe „ermutigende Erfahrungen mit dem, was das Gemeinwesen ausmacht, Aufgaben, die dir und mir gestellt sind und deren Erfüllung befriedigt“ (13). Der vorliegende Text formuliere zwei Forderungen, die aktuelle Herausforderungen „anders sehen“ (13) lassen.

Hartmut von Hentig beschreibt seine „Motive“ als solche „eines individualistischen Pädagogen, der ausdauernd an der Schwächung des Gemeinwesens leidet“ (14ff.). Mit dieser Streitschrift für Entschulung der Mittelstufe und für die Einführung eines allgemeinen Dienstjahres avisiert der Autor, sich aus der bildungstheoretischen und bildungspolitischen Diskussion verabschieden zu wollen, indem er diese zwei Bereiche in die Diskussion einbringe, denen er in seinem Berufsleben nicht „gerecht geworden“ (14) sei. Angesichts der aktuellen Bedrohungen der Zivilität (z.B. Entsolidarisierung Reicher von Armen, Banalisierung von Demokratie, Raubbau an gemeinsamen Ressourcen etc. vgl. 16f.) wünscht Hartmut von Hentig, dass „junge Menschen erfahren, was eine Gemeinschaft ist, was sie gibt und fordert – eine größere als die Familie (...) und eine weniger künstliche und zufällige als die Schulklasse, in die man sie hineinverwaltet hat.“ (17) Beide Projekte sind außerhalb der gegebenen Institutionen verortet, denn es gehe ja um „anderes, nicht um etwas verändertes“ (18). Das vorliegende Manifest ziele auf Anregung und Überzeugung, es verstehe sich allerdings nicht als „Durchführungsverordnung“ (18). Einem pädagogischen Prinzip bleibe vorliegende Streitschrift jedenfalls verpflichtet: dem „Offenhalten der Zukunft“ (Margret Mead).

Hartmut von Hentig verfasst dieses pädagogische Manifest unter Einbezug von acht in pädagogischen und politischen Fragen bewanderten Beraterinnen und Beratern – jedoch ein ökonomischer Berater „hat gefehlt. Er hätte klar gemacht, dass beide Vorhaben an der Armut und Schwäche des Gemeinwesens scheitern müssen, zu dessen Stärkung, ja Rettung sie gedacht sind“ (101). So rechnet Hartmut von Hentig bei diesem Projekt weder mit Unterstützung von Seiten der Ökonomie noch mit mehrheitlicher Akzeptanz auf Seiten seiner Leserinnen und Leser: „Mein Ansinnen muss vielen ein Ärgernis sein. Es wäre überflüssig, wenn die Mehrheit schon so dächte wie ich.“ (101). An pädagogischen Fragen und Spielräumen, an pädagogischen Interventionen und Ansprüchen orientiert Hartmut von Hentig seine Argumentation. Der pädagogische Auftrag sei – in Anlehnung an Rousseau – beständig in Folgendem auszumachen: es gelte, den Kindern und Jugendlichen das Hineinwachsen in die vorfindlichen Lebensverhältnisse zu ermöglichen (und nicht bloß zu erleichtern!) und sie zugleich dazu zu befähigen, die Verhältnisse ihrerseits zu gestalten (vgl. z.B. 91).

Das erste präsentierte Projekt findet sich mit „Das Lernen der 13 bis 15jährigen, das ‚entschult’ mehr bringt“ (21ff.) überschrieben. Es wird als ein auf zehn Jahre angelegtes Experiment vorgestellt, das Schülerinnen und Schülern zwei Jahre lang Lerngelegenheiten außerhalb der Institution Schule ermöglichen wolle. Der Versuch, der in einer mittleren kreisfreien Stadt gestartet werden soll, wird in Kostenplänen und Erfahrungsräumen (z.B. Denkmalspflege, Kochen, Theater, Tierpflege, Erste Hilfe, Landwirtschaft, Akrobatik etc.) entworfen und zur Diskussion gestellt. Die wichtigste Voraussetzung für den Erfolg des Experiments sieht Hartmut von Hentig in der Freiwilligkeit der Teilnahme für Erwachsene und Jugendliche. Die Erwachsenen – so von Hentig – könnten wohl nicht immer nur aus der angestammten Lehrerschaft gewonnen werden, weil es Mitarbeitender bedarf, die selbst lernen und (sich) erproben wollten. Die Zeitspanne von zwei Jahren sei genau für die Dauer der Pubertät angedacht und in der Zeit der entschulten Erfahrungsräume gelte es, die „formalen Schulfächer in sportlicher Form ‚wach(zu)halten’“ (30). Keinesfalls verstehe sich die entworfene Entschulung als ‚Ent-Intellektualisierung’. Nach zwei Jahren Erfahrungszeit außerhalb der Institution Schule münde das Konzept in einer „geordnete Rückkehr“ (37). Anleihen für dieses Entschulungsprojekt nimmt Hartmut von Hentig bei „wahrhaft entschulten Schulen“ (40) von Goodman und Dennison, als weitere engere Verwandte nennt er die Pfadfinder und die aus der Zeit des Wandervogels überlebenden Bünde. Dort gelänge es Erlebnis der Natur mit Erfahrung der Gemeinschaft, der civitas, mit Erfahrungen, „taugliche Sachen zu machen“ (41) und mit „großen Glücksgefühlen“ (41) zu verbinden. Die Entschulung der Altersjahrgänge 13 bis 15 entspringe der „ältesten Schwäche“ (35) der Schule: ihrer Unfähigkeit, die Gegenstände des Lernens mit dem Leben der Kinder zu verbinden. Programmatisch avisiert wird für diese zwei Jahre: Natur statt Kultur, Gemeinschaft, statt Konsumkollektiv, Gespräch statt Chatten, Selbermachen statt Bestellen etc. (vgl. 31). Wissenschaftliche Begleitforschung dieses Projekts verstehe sich als Grundlagenforschung, für die erziehungswissenschaftliche Institute „da sind“ (32).

Das zweite von Hartmut von Hentig positionierte Projekt nennt er die „Dienste am Gemeinwesen, die vor allem den Dienenden gut tun“ (51ff.). Von einem Versuch, wie bei der Entschulung, lasse sich beim zweiten vorgestellten Projekt nicht sprechen, denn diese Dienste, die in fünf verschiedenen Gebieten (Umweltschutz, Fürsorge für Bedürftige, Kranke, Alte, Kinder, Stadt- und Landschaftspflege, Politik oder internationale Einsätze) geplant und auf ein Jahr angelegt sind, sollen als beständige gesellschaftliche Teilhabe verstanden werden. Ziel dieser Dienste - die in der Endphase als Dienst im Singular stehen könnte – sei es, nützliche Erfahrungen zu sammeln, wobei viele unterschiedliche Organisationsformen dafür möglich seien und das Ziel vielleicht auch schon in kürzerer Zeit zu erreichen sei. Die Erfahrungen, für und in einer Gemeinschaft nützlich zu sein, beschreiben auch die Möglichkeiten, Verantwortung in der Gemeinschaft zu tragen und das heißt, „seinen Verstand gebrauchen lernen, nicht der Anweisung, Gewohnheit, Mode folgend“ (60). An einem Ort, an dem man gebraucht werde und am Besten vor dem Berufseintritt, sei so ein soziales Pflichtjahr anzusetzen. In ihrer Konsequenz verstünden sich solche Dienst als Ehrendienste, die mit einem gut bemessenen Taschengeld zu honorieren seien. Organisatorisch würden so etwas wie Vermittlungsagenturen, Aufgabenbehörden und Kontrollbehörden gebraucht. Weil „der Mensch nun mal nicht so funktioniert, wie die Ethiker das vorschreiben“ (56), werden Richtlinien erforderlich sein, die den Gemeinnutz mit dem Eigennutz verbinden. Die vielen Risiken und zu erwartenden Probleme eines solchen Dienstes am Gemeinsinn relativiert oder entschärft Hartmut von Hentig nicht: viel eher gelte es zu bedenken, wie lange das Schul- oder Gesundheitswesen zur Etablierung benötigt habe. Jedenfalls bedürfe es einer „anderen Einstellung zum sozialen Wandel“ – so seien diese Dienste eben nicht „einführbar wie Ökosteuer und Dosenpfand“ (56). Viel eher sei an einen Pflichtbegriff zu erinnern, der die etymologischen Wurzeln des Pflegens bedenkt und das Kant’sche Verständnis von Pflicht als einer „aus Einsicht zu erfüllender Aufgabe“ (63) revitalisiert. Und es sei ein Politikbegriff zu aktualisieren, der sich an den Begriffen der alten Griechen (polis) und der frühen Amerikaner (township) orientiere. Gerade weil die derzeit bestehende Schule keine polis, sondern eine „Belehrungsanstalt“ (58) ist und eine solche bleiben werde, bedarf es eines Lernens im Leben und am Leben, das als Arbeit am gemeinsamen Wohl zu verstehen sei und das ermögliche, Verantwortung in der Gemeinschaft zu tragen. In seinem Verständnis von ‚Gemeinschaft’ und Diensten an derselben distanziert sich Hartmut von Hentig von „braunen Ideologien“ (20) und bittet um konzise und genaue Lektüre seines Buches. Das darin auffindbare Einstehen für das Gemeinwesen hätte seinen ausdrücklichen Grund in dessen „fast unrettbarer Schwäche“ (20). Es mache einen Unterschied, ob man etwas vor dem Untergang rette oder ob man es inthronisiere.

Der Textsorte nach legt Hartmut von Hentig ein pädagogisches Manifest vor. Es versteht sich nicht als ein bildungswissenschaftlicher Beitrag, der beispielsweise Begriffsarbeit (zu leitenden Begriffen wie ‚Erfahrung’, ‚Nützlichkeit’, ‚Individuum’ oder ‚Gemeinschaft’) leistet. Der vorgelegte Text ist über weite Strecken ohne Zitationen verfertigt, scheint mancherorts Bewertungen, Diagnosen und Erklärungen zu enthalten, die – wollte der Text ‚bloß’ wissenschaftlich gelesen werden – auf ihre Prämissen hin befragt werden müssten (beispielsweise: Was bedeutet es, heute auf ‚Gesinnung’ zu setzen? In welcher Relation ist diese zur aufgerufenen Vernunft zu verstehen? Oder auch: Welches Verständnis von ‚pädagogischem Prinzip’ wird hier in Anspruch genommen?). Und doch würden diese Anfragen einem Manifest, das selbst eine Verbindung von Pädagogik und Politik intendiert, nicht gerecht. Denn die Streitschrift positioniert sich für Veränderung des Bestehenden (der bestehenden Pädagogik, der bestehenden Politik, des bestehenden Schulsystems oder des bestehenden Gesellschaftssystems) und zielt auf die Initiation von Neuem, das (vielleicht auch nicht immer ganz so neu ist, aber dennoch) Anderes möglich machen sollte.

Hartmut von Hentigs Argumentation gegen taylorisierte Schulsysteme und gegen neoliberale Gesellschaftssysteme münden in einer klarsichtigen und expliziten Schul- und Institutionenkritik. Die beiden vorgeschlagenen Projekte werden expressis verbis außerhalb der Institutionen positioniert – wohl in der Hoffnung, dass es ein ‚Außen’ gäbe, das jenseits vom ‚Innen’ ist. Von Hoffnung und Wünschen ist das Werk auch über manche Passage geleitet und in der Argumentation greift es auf auch theoretisch umstrittene Begriffe zurück. An Textstellen wie „Sie (die jungen Menschen; ES) sollten die Gelegenheit haben, als ganze Person die verfasste Gemeinschaft, in und von der sie leben, wahrzunehmen; dieses Erlebnis sollte so sein, dass sie vieles von dem, was sie lernen, für die Aufrechterhaltung dieser Gemeinschaft einzusetzen bereit sind, ja dass sie es zu einem großen Teil um ihretwillen – um ihrer Fortsetzung und Vervollkommnung willen – lernen“(17) zeigt sich beispielsweise ein solcher Rückgriff auf Perfektibilität oder auf den Begriff einer ‚ganzen Person’. Dennoch führt Hartmut von Hentigs Argumentation nicht zu Klarheiten (etwa der Person), sondern – und das scheint höchst bemerkenswert – sie führt zu einer Klarheit um die Ambivalenzen, in denen Pädagoginnen und Pädagogen heute arbeiten. Auch wenn mancherorts ein klares Votum Hartmut von Hentigs für Gemeinschaft, für Natur, für Erfahrung, für Nützlichkeit vorliegt, so findet sich die explizite Aufforderung an Leserinnen und Leser, sich der unbequemen Widersprüchlichkeit zu stellen und sich „simplen Entscheidungen zwischen Freiheit und Anpassung, Individuum und Gesellschaft, Person und Bürger, zu verweigern“ (81). Ohne „die Institution zu zerstören oder zu überfordern“ (81) gilt es nach Hartmut von Hentig der Ambivalenz des Auftrags gerecht zu werden. Gerade weil keine einfachen Lösungen in Sicht scheinen, verdient das Buch wohl Rezeption und Diskussion; auch Leserinnen und Leser innerhalb der Erziehungswissenschaft sind dem Manifest zu wünschen, damit es selbst ‚Bewährung erfahren’ kann.
Elisabeth Sattler (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Elisabeth Sattler: Rezension von: Hentig, Hartmut von: Bewährung, Von der nĂĽtzlichen Erfahrung, nĂĽtzlich zu sein. Wien: Carl Hanser 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 3 (Veröffentlicht am 12.06.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/44620776.html