EWR 2 (2003), Nr. 2 (März/April 2003)

Ewald Terhart
Nach PISA
Bildungsqualität entwickeln
Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2002
(148 Seiten; ISBN 3-434-50540-7; 14,00 EUR)
Nach PISA Werden die PISA-Studien in der Rückschau tatsächlich einmal eine Zäsur in der Bildungsentwicklung darstellen, die mit grundlegenden Veränderungen verbunden ist? Der Münsteraner Erziehungswissenschaftler Ewald Terhart geht davon aus (vgl. S. 17) – dies spiegelt auch der Titel seiner neuesten Veröffentlichung: "nach PISA". Terhart setzt PISA in seiner Bedeutung gleich mit der in Westdeutschland nach Sputnik-Schock und Bildungskatastrophe vor rd. 40 Jahren in Gang gekommenen Bildungsreform. Schon heute kann man sagen, dass er in Bezug auf den Umfang der Diskussion sicher Recht hat. Ob daraus aber auch Veränderungen resultieren?

Terhart geht der Frage nach, wie sich Bildungsqualität entwickeln lässt. Das schmale Bändchen ist in sich schlüssig aufgebaut, indem vier Schritte vollzogen werden: Er gibt zunächst in knapper Form Anlage und Ergebnisse der internationalen PISA-Studie wieder. In diesem Zusammenhang reflektiert er auch die öffentliche Diskussion um Ursachen und Konsequenzen der Ergebnisse. Weitgehend unabhängig davon analysiert er in einem zweiten Schritt die vorliegenden Konzepte von Qualität und er konkretisiert sie für das Feld Schule. In einem dritten Schritt führt Terhart diese beiden Stränge unter der Fragestellung zusammen, wie man nun von der Erfassung des Status Quo und der Ausarbeitung von Konzepten zu einer faktischen Verbesserung der Qualität von Schule (= Systemebene) und Lehrerarbeit (= personale Ebene) kommen kann. Abschließend geht er auf das Zusammenspiel von Bildungsforschung, -politik, -administration und -praxis ein, für die er jeweils ein geschärftes Aufgabenverständnis formuliert.

Der Band will die Diskussion um Bildungsqualität einer breiten Öffentlichkeit verständlich machen. Demgemäß verwendet Terhart eine lockere Sprache, die auch spitze Bemerkungen gegen den mainstream der Diskussion enthält, so dass der Anspruch überwiegend (einige Abschnitte sind dennoch sehr speziell) als eingelöst betrachtet werden kann. Teile des Bandes liegen im Übrigen in Form von Beiträgen in Zeitschriften oder Sammelbänden vor, so dass im Folgenden nur auf noch nicht veröffentlichte Diskussionspunkte eingegangen wird.

Im ersten Kapitel reflektiert Terhart u.a. die PISA-Folgediskussion. Er fragt sich, wieso die Ergebnisse überhaupt so stark öffentlich wahrgenommen wurden. Seine These, dass ein Zusammenhang zur ökonomischen Globalisierung besteht, mit der auch eine internationale Konkurrenz um gut ausgebildete Arbeitskräfte verbunden ist (vgl. S. 29), stellt vermutlich nicht die schlechteste Antwort dar. Im Hinblick auf die Diskussion um die Ursachen der deutschen Ergebnisse nimmt Terhart eine Sammlung der öffentlichen Behauptungen vor, die allein in Form von kurzen Stichworten zwei Seiten einnimmt und 20 systematisch unterschiedliche Faktoren aus drei Komplexen (Gesellschaft, Schulsystem und Unterricht) umfasst. Terharts Sympathien liegen dabei eindeutig auf dem mittleren Komplex, was z.B. deutlich wird, wenn er das dreigliedrige Schulsystem als "bildungspolitischen Dinosaurier" (S. 33) bezeichnet. Deutlich kritisch äußert er sich zu den Interpretationen der PISA-Macher, die das Augenmerk v.a. auf den Unterricht zu lenken versuchen.

Im dritten und vierten Kapitel stellt sich Terhart der Frage, was zu tun ist, um die Qualität von Schulsystem und Lehrerarbeit zu steigern (vgl. S. 69ff.). Seine These in Bezug auf Ersteres: Da Marktmechanismen nicht greifen können – dieses Argument greift allerdings nur, wenn man eine staatliche Hoheit des Bildungswesens bevorzugt –, sollte an den Schwachstellen, den Schulen mit besonders schlechten Ergebnissen angesetzt werden. Hier könne mit relativ geringem Aufwand ein hoher Ertrag erreicht werden, wobei Terhart zwei gleichrangige Ziele postuliert: Steigerung der Gesamtleistung des Schulsystems bei gleichzeitiger Reduktion der Streuung der Einzelleistungen (um dem verfassungsrechtlichen Gebot gleicher Lebenschancen gerecht zu werden). Seine konkreten Reformvorschläge umfassen die ganze Breite des Begriffs der Personalentwicklung. Das ist wenig spektakulär, aber wie sollte es bei einem Thema, zu dem viel gesagt, aber wenig gehandelt wird, auch anders sein?

Notgedrungen genauso wenig spektakulär sind Terharts Vorschläge zur Verbesserung der Qualität von Lehrerarbeit. Sein Lehrerleitbild bezeichnet er als "pragmatische Professionalität" (S. 101). Kriterium für diese ist der Erfolg auf Schülerseite, und zwar nicht ausschließlich deren fachliche Leistung, sondern auch deren Fähigkeit zur Übernahme von Verantwortung für die individuelle und gesellschaftliche Entwicklung. Da Terhart der Meinung ist, "dass die Zeit übergreifender, inhaltlich und moralisch definierter Lehrerleitbilder vorbei ist" (ebd.), bleiben als Merkmale schließlich drei Aspekte übrig:

  • Einsicht darin, dass ĂĽber die beiden Lehrerausbildungsphasen hinaus lebenslanges Lernen notwendig ist
  • Einsicht darin, dass die Tätigkeit von Lehrpersonen Grenzen hat
  • Bewusstsein der Lehrpersonen von ihrer öffentlichen Verantwortung.

Ob eine solche Bestimmung auf Dauer hinreichend ist, wird sich zeigen mĂĽssen.

Resümmierend kann festgehalten werden, dass der Band einen leicht lesbaren Einstieg in die aktuelle Diskussion um Bildungsqualität bietet. Zwei kritische Bemerkungen müssen aber gemacht werden, von denen die erste (vermutlich) nicht von Terhart zu verantworten ist.

Das dem Band vorangestellte Vorwort von Linda Reisch erscheint wenig sachgemäß. Zwei Beispiele: Ein Viertel der 15-Jährigen in Deutschland als "Versager" (S. 7) zu bezeichnen, weil sie die erste Kompetenzstufe im PISA-Lesetest nicht überschreiten, ist selbst vor dem Hintergrund der (hoffentlich) wohlmeinenden Absicht inhuman. Reischs kausale PISA-Interpretationen sind kurzschlüssig und sie münden in Pauschalurteile wie: "die" Lehrer bzw. "die" Politiker müssen dieses bzw. jenes begreifen (S. 10). Auf diese Weise werden wichtige Unterschiede verdeckt. Seit mehr als 100 Jahren ist es ja vielleicht gerade eins der Probleme in Deutschland, dass es klare – und parteipolitisch eindeutig zuordenbare – Unterschiede in bildungspolitischen Fragen gibt.

Der zweite Kritikpunkt bezieht sich auf die regional begrenzte Perspektive Terharts. Alle impliziten und expliziten historischen Reminiszenzen an die Zeit zwischen 1945 und 1989 beziehen sich auf die alte Bundesrepublik; die Traditionen der DDR-Bildungsentwicklung bleiben außen vor. Damit kommt es zu der paradoxen Situation, dass Strukturen kritisiert werden, zu denen es Alternativen gegeben hat – und zwar in Bundesländern, die heute Bestandteil der Bundesrepublik sind. In der DDR war die Konfessionalität der Volksschule kein Streitthema, gab es kein dreigliedriges Schulsystem, dominierte die geisteswissenschaftliche Pädagogik nicht oder behinderten föderalistische Tendenzen die Bildungspolitik nicht. Es erscheint unangemessen, die eindimensionale Transformation des ostdeutschen Bildungswesens durch Ignorieren fortzusetzen.
Sigrid Blömeke (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sigrid Blömeke: Rezension von: Terhart, Ewald: Nach PISA, Bildungsqualität entwickeln, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2002. In: EWR 2 (2003), Nr. 2 (Veröffentlicht am 01.04.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/43450540.html