Gewiss: Die Fachszene wusste und weiß von der schwarzen Pädagogik hinter den Anstaltsmauern der Fürsorgeerziehung der damaligen Zeit, vom Kasernenhofton, erniedrigenden Praktiken, Gewalt, Isolation und aus heutiger Sicht nichtigen Einweisungsgründen der Jugendämter und Vormundschaftsgerichte. Bereits in den 1960er Jahren wurden in der Fachszene selbst die inakzeptablen Praktiken thematisiert: Als ein Beispiel kann die Aktion von engagierten Pädagogen um Hans Thiersch und Martin Bonhoeffer angeführt werden, die 1967 im Publikumsmagazin „Quick“ den deutschen Heim-Skandal anprangerten (Quick vom 18.10.1967: „In deutschen Heimen leiden elternlose Kinder“). Schließlich wendeten sich die Heimkampagnen der APO öffentlichkeitswirksam genau gegen jene unmenschlichen, undemokratischen Erziehungspraktiken in den „Fürsorgeknästen“ der Republik – und gab damit zu Beginn der 1970er Jahre den Anstoß zu einem grundlegenden Reformprozess der Heimerziehung in Deutschland. Die damalige Kritik richtete sich indes vornehmlich gegen das „System“, während die durch das repressive Heimsystem beschädigten jungen Menschen weniger ins Blickfeld gerieten (obwohl es an Selbstzeugnissen nicht fehlte, z.B.: Peter Brosch: Fürsorgerziehung – Heimterror und Gegenwehr). Forderungen nach persönlicher Entschuldigung durch die Träger und Erzieher, nach persönlicher Wiedergutmachung für erlittene seelische und körperliche Verletzungen sind m.W. jedenfalls nicht gestellt worden.
Diesem Thema widmet sich fast vierzig Jahre später die Reportage des SPIEGEL-Journalisten Peter Wensierski. In neun Kapiteln, angereichert durch eine Reihe von Bilddokumenten, wird anhand von autobiografisch berichteten Einzelschicksalen die Fürsorgeerziehung der 50er/60er Jahre bedrückend lebendig:
- die Bigotterie und verklemmte Sexualmoral der Jugendbehörden, die Mädchen und junge Frauen, zumal wenn sie „unehelich“ waren, schnell als „gefallen“ und „verwahrlost“ etikettierten, wenn sie sich zu lange im Beatschuppen aufgehalten und zu laut „Negermusik“ gehört hatten;
- die systematischen Schläge, Erniedrigungen und an Abu Ghraib erinnernden Grausamkeiten durch womöglich selbst überfordertes Personal, vorwiegend nicht einschlägig ausgebildete Nonnen und Patres, die weniger einen jungen Menschen in Not als die personifizierte Erbsünde vor sich sahen, gewissermaßen Wilde, die zu zähmen seien;
- die fatale Kontinuität aus der Nazizeit, sowohl was das Personal betrifft als auch bezüglich des Erziehungsstils;
- die quasi selbstverständliche Ausbeutung der Arbeitskraft der jungen Menschen durch den Zwang zu schwerer körperlicher Arbeit, sei es in der Wäscherei, auf dem Feld oder beim Torfstechen.
Wensierskis Reportage zeigt aber auch die traumatisierenden Wirkungen auf die späteren Leben der ehemaligen Heimzöglinge, die heute zwischen 45 und 65 Jahre alt sind. Die meisten konnten sich erst nach 20/30 Jahren mit ihren Heimerfahrungen richtig auseinandersetzen, viele zeigen bis heute typische posttraumatische Belastungsstörungen wie plötzliche Flashbacks und Panikattacken nach Schlüsselreizen (der Gürtel, der dem ähnelt, mit dem man immer verprügelt wurde), Schlafstörungen, Beziehungsprobleme etc. Es wird berichtet, wie einige der Ehemaligen ihr altes Heim (soweit noch vorhanden) oder den Träger besuchen, um nach 40/50 Jahren Einsicht in ihre Akte zu nehmen, oder die frühere Peinigerin aufsuchen, um vielleicht ein Wort der Entschuldigung zu hören. Diese Reisen in die Vergangenheit endeten Wensierski zufolge in den weit überwiegenden Fällen mit formalem Abblocken, Verweigerung der Akteneinsicht, Verharmlosung oder Negieren.
Ein Kapitel beschäftigt sich mit der Zeit der Heimkampagnen 1969/70, das, insbesondere weil es die APO-Aktionen im Erziehungsheim Staffelberg und anderswo sehr stark aus der Perspektive und den Aktivitäten der späteren RAF-Gründungsmitgliedern Baader, Ensslin und Meinhof rekonstruiert, einige ergänzende Facetten zum bekannten Sachstand (wie er z.B. in dem IGfH-Band „Aus der Geschichte lernen. Analyse der Heimreform in Hessen“ herausgearbeitet wurde) liefern kann.
Als Postscriptum muss auf die Rezeption des hier rezensierten Bandes, der im Februar 2006 auf den Markt gekommen ist, eingegangen werden: Nachdem viele überregionale Medien das Thema im Februar und März aufgegriffen hatten, haben nunmehr wichtige betroffene Träger wie die Caritas, die Diakonie und der Landeswohlfahrtsverband Hessen begonnen, sich öffentlich mit dem verdrängten Thema auseinanderzusetzen [1]. Die Verbände und Einrichtungsträger scheinen derzeit (noch) lediglich auf diesen medialen Druck zu reagieren. Von den einweisenden und sich dann um die jungen Menschen häufig nicht mehr besonders kümmernden Behörden, also von Jugendämtern und Landesjugendämtern, war bisher noch gar nichts zu hören. Inwieweit es zu wirklichen Entschuldigungen gegenüber den Betroffenen kommt, wie wahrhaftig sich die Aufarbeitung der dunklen Geschichte in umfassender und kontinuierlicher Unterstützung der Geschädigten ausdrückt, muss die Zukunft zeigen.
Eine wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Rekonstruktion der Geschichte der Heimerziehung in (West)-Deutschland in der Zeit zwischen 1945 und 1970 kann und will die verdienstvolle und wichtige Reportage von Peter Wensierski nicht leisten. Der Band sollte aber dazu aufrütteln und es wäre eine Form der Wiedergutmachung, wenn z.B. Caritas und Diakonie für ihren Bereich entsprechende Untersuchungen in Auftrag geben würden.
[1] Die Homepage des 2004 gegründeten Vereins ehemaligen Heimkinder enthält eine umfangreiche Linkliste zu den Medienberichten sowie weitere autobiografische Berichte: www.vehev.org