Ein neuer Paradigmenwechsel – so scheint es – kündigt sich an: der Einzug der Kulturgeschichte in die historische Bildungsforschung. Diesem Wechsel den Weg zu bereiten, darin sehen die Herausgeber das Anliegen ihres vorliegenden Bandes. Während sich in den 1990er Jahren nach intensiven Debatten über Postmoderne und den "linguistic turn" in der Geschichtswissenschaft die neue Kulturgeschichte neben der Sozialgeschichte etabliert hat, zeigte sich, so die Herausgeber in ihrer einleitenden kritischen Perspektive auf die Disziplingeschichte, die historische Bildungsforschung weitestgehend resistent gegenüber den neuen epistemologischen und methodologischen Herausforderungen.
Im ersten von insgesamt vier Abschnitten bestellen die Herausgeber daher das intellektuelle Feld der Kulturgeschichte, indem sie das epistemologische und methodologische Design ihres kulturhistorischen Konzepts vorstellen, das in Anlehnung an den "linguistic turn" in den Geistes- und Geschichtswissenschaften die Überwindung der Trennung von Kontext und Text, von Realität und Diskurs, von Gesellschaft und Kultur sucht. Eingebettet in den intellektuellen Rahmen des postmodernen Diskurses in den USA und in Abkehr von einem – amerikanisch definierten – Historizismus plädieren sie für einen Zugang zur Geschichte von Bildung und Erziehung, der Kultur als zentrale Kategorie nutzt. Kultur meint hierbei – in Abkehr von der traditionellen intellectual history – Wissen (knowledge) und Wissenssysteme (knowledge systems) als Felder kultureller Praktiken und Reproduktionen. Wissen als analytischer Begriff liefert die Prinzipien, durch die historische (und gegenwärtige) Handlungsoptionen verfügbar, Probleme definiert und Lösungen als akzeptabel und effektiv angesehen werden. Wissen wird damit zu einer Praxis, die die Welt und das Individuum sowohl fiktional als auch real "fabriziert". Handlungsorientiertes und -weisendes Wissen ist – historisch different – ein Konstrukt, dessen Verständnis die Rekonstruktion des sozialen und kulturellen Lebens sowie der Handlungssubjekte und -objekte ermöglicht. Bildungsgeschichte fokussiert daher nicht mehr auf die Abfolge von Ereignissen und Akteuren, sondern durch die Dezentralisierung des Subjektes darauf, wie Ideen diejenige soziale Praxis konstruieren, formen und koordinieren, durch die Individuen ihre Identität bestimmen. Eine solche Herangehensweise hat Bedeutung für die Gegenwart, denn ein historisches Verständnis der Regeln und Standards von Wissensfeldern erlaubt eine Relationierung gegenwärtiger Bildungs- mit sozialer Politik einerseits, mit historischen Konfigurationen andererseits. Letztlich geht es darum, die diskursive Konstruktion des Sozialen durch die soziale Konstruktion des Diskurses sichtbar zu machen.
Der zweite Teil, "Rethinking the Discipline of History", reflektiert zum einen die Geschichte der historischen Bildungsforschung in Brasilien (M.Warde/M. de Carvalho), zum anderen werden neuere Forschungskonzepte vorgestellt. So zeigen A.Nóvoa und H.-E.Tenorth, wie über die pädagogische Ikonographie Erziehungsgeschichte(n) und pädagogische "Kulturen" rekonstruiert werden können. Nóvoa plädiert in diesem Sinne für einen "pictoral turn", der Images nicht primär als Quellen, sondern als "memories of seeing" nutzt.
Der dritte Teil, "Constructing a Cultural History", konzentriert sich auf einen wesentlichen Bestandteil der neuen Kulturgeschichte, nämlich – in Anknüpfung an Foucault und Elias – auf eine Diskussion der Epistemologien, welche historische Studien durch den Begriff der Genealogie bzw. die genealogische Methode ordnen. Während A.Viñano unter diesem Aspekt die Geschichte der akademischen Kultur untersucht, behandelt T.Popkewitz curriculum history mittels einer "social epistemology" als Geschichte der Produktion von Wissen und Macht.
Im vierten Teil, "Schooling as Fields of Cultural Practice", stehen schließlich weniger theoretisch-historiographische Themen im Vordergund, sondern vielmehr konkrete Beispiele eines kulturhistorischen Ansatzes im Kontext von Schule. Es ist das Verdienst dieses Bandes, postmoderne Theorien am Beispiel von schooling für die historische Bildungsforschung nutzbar zu machen, indem die vorherrschende Sozialgeschichte der Schule mit ihrem Postulat, dass die Schule regulative Funktionen sozialer Kontrolle und Unterdrückung ausübt, durch die Ansicht ersetzt wird, dass Wissen nicht nur ein Epiphänomen sozialer Regulation ist, sondern ein Feld kultureller Praxis und Produktion. Diese neue Sichtweise bricht mit der Annahme einer notwendigen Übereinstimmung von Schulorganisation und –administration und den Erfordernissen der Gesellschaft zum Zwecke der sozialen Reproduktion. So zeigt - ausgehend von Foucaults Theorie der Macht (power) als konstitutivem Element von Wissen - beispielsweise I.Dussel in einem historischen Streifzug, wie Schuluniformen Moralauffassungen der Gesellschaft repräsentierten und damit Identitäten und Differenzen produzierten. A.-M.Chartier und J.Hébrard diskutieren anhand der Französischen Revolution den kulturellen Transformationsprozess des Lese- und Schreibunterrichts und verdeutlichen, dass der Schreibunterricht eine Innovation im Kontext der Zivilisierung der Sitten und des Geistes darstellte. Die Überlappung von sozialer und kultureller Sphäre, die genealogische Methode sowie das Phänomen von governing auf verschiedenen Ebenen durchziehen wie ein roter Faden die Beiträge, etwa zur Soziologie der Institutionalisierung des Lehrens (A.Viñao), zu Bildungsdiskurs und -reform in Island (I.Jóhannesson), zum Diskurs über Lehrerbildungsrefomen an der University of Wisconsin-Madison (K.Heyning) und zur Geschichte der modernen Schule (D.Hamilton). Der Abschlussaufsatz von T.Popkewitz zeigt am Beispiel der Rezeption von Vygotsky und Dewey, dass es keine "wahre" Interpretation dieser Texte gibt, sondern dass sie Teile von wechselnden intertextualen und institutionellen Kontexten sind, die erst bestimmte Lesearten präfigurieren.
Insgesamt repräsentieren die zwölf Studien den Versuch, das innovative Potenzial des Kulturkonzepts vorzustellen. Ein Vorzug besteht ohne Zweifel darin, dass Forscher aus Europa, den USA und Lateinamerika zu Wort kommen und somit eine breite Perspektivenvielfalt garantieren. Es wird vom intellektuellen Interesse des Lesers abhängen, ob er die Anregungen der Kulturgeschichte eher in den – untereinander wenig kohärenten – Fallstudien oder den theoretischen Aufsätzen sucht. Auf jeden Fall sollte man sich bei der Lektüre nicht von der Überlastigkeit der Theoriediskussion abschrecken lassen. Ob der kulturhistorische Ansatz tatsächlich ein neues Paradigma in der historischen Bildungsforschung einläuten wird, sei dahingestellt. Ein Seitenblick auf die Geschichtswissenschaft indes zeigt nicht nur, wie fruchtvoll der kulturhistorische Ansatz in der Erkenntnis historischer Phänome ist, sondern dass er zugleich die Grenzen einer "modernen" Geschichtssicht offenbart, die sozialen Fortschritt an ein evolutionäres Konzept von Wandel knüpft und – in epistemologischer Hinsicht – historische Subjekte in den Mittelpunkt der Untersuchungen stellt.
EWR 1 (2002), Nr. 5 (Oktober - Dezember 2002)
Cultural History and Education
Critical Essays on Knowledge and Schooling
New York: Routledge Falmer 2001
(369 Seiten; ISBN 0-415-92806-0)
Eckhardt Fuchs (Mannheim)
Zur Zitierweise der Rezension:
Eckhardt Fuchs: Rezension von: Pereyra, Thomas S. Popkewitz, Barry M. Franklin and Miguel A. (Hg.): Cultural History and Education, Critical Essays on Knowledge and Schooling, New York: Routledge Falmer 2001. In: EWR 1 (2002), Nr. 5 (Veröffentlicht am 01.12.2002), URL: http://klinkhardt.de/ewr/41592806.html
Eckhardt Fuchs: Rezension von: Pereyra, Thomas S. Popkewitz, Barry M. Franklin and Miguel A. (Hg.): Cultural History and Education, Critical Essays on Knowledge and Schooling, New York: Routledge Falmer 2001. In: EWR 1 (2002), Nr. 5 (Veröffentlicht am 01.12.2002), URL: http://klinkhardt.de/ewr/41592806.html