Hauptziel der Sozialarbeit in der DDR war die Mitarbeit an der Organisierung einer möglichst effektiven politisch-gesellschaftlichen Beeinflussung der Bevölkerung im Sinne der sozialistischen Doktrin. Damit eng verknüpft war die möglichst umfassende staatliche Kontrolle der Jugend. Diese Aufgabe von staatstragender Bedeutung war viel zu wichtig, als dass man sie der Familien- und Jugendhilfe allein überlassen hätte. Die DDR entwickelte hierfür vielmehr eigene Organe (Partei, Gewerkschaft, Betriebskollektive, FDJ, Junge Pioniere, kulturelle Einrichtungen etc.); der Jugendhilfe fiel einzig ein Restbereich bei defizitären Familien und Jugendlichen zu. In dieser Situation war Jugendarbeit in der DDR Querschnittsaufgabe vieler staatlicher und gesellschaftlicher Institutionen, verbunden mit der Hoffnung der SED-Führung, dass die von Faschismus und Kapitalismus nicht vorbelastete Jugendgeneration den Kommunismus aufbauen werde und zur Erziehung der sozialistischen Persönlichkeit beitrage. Das Jugendgesetz der DDR von 1974 verpflichtete die Gemeinden dazu, Jugendlichen Räume zur Verfügung zu stellen. Neben der FDJ hatten aber nur die Kirchen einen gewissen Spielraum für eigenständige Jugendarbeit – naturgemäß lag der Schwerpunkt der evangelischen wie auch katholischen (offenen sozialdiakonischen) Jugendarbeit (zunächst) in einer gemeindebezogenen religiösen Erziehung. Dieses Anliegen wurde durch außerschulische Bildungsangebote ergänzt, etwa durch Freizeiten und Kurse an Wochenenden und in den Ferien.
Mit Blick auf diese Ausgangsbedingungen der Jugendarbeit in der DDR legt 15 Jahre nach der Vereinigung Henning Pietzsch mit seiner Dissertation zur Geschichte der ‚Offenen Arbeit’ der evangelischen Kirche in Jena eine bemerkenswerte Fülle von Details zu deren Arbeit vor. Der Begriff der offenen Jugendarbeit wurde (nach Pietzsch) von dem Leipziger Pfarrer Claus-Jürgen Wizisla im Jahr 1972 geprägt. Er stand im deutlichen Gegensatz zu den traditionellen Vorstellungen der kirchlichen Jugendarbeit und wurde erst 1983 vom Bund der Evangelischen Kirche der DDR akzeptiert (246): „Offene Jugendarbeit sollte danach keine traditionelle Beziehungsarbeit für sogenannte gestrandete Jugendliche oder gar kirchliche Erziehung sein, sondern knüpfte bewußt an die sichtbar gewordene Verweigerungshaltung vieler Jugendlicher gegenüber der bestehenden DDR-Gesellschaft an. Ziel war, die zur inneren Emigration getriebenen Jugendlichen in einen Prozeß der Sozialisation zu bringen und zu begleiten, Emanzipation durch Integration und Kritikfähigkeit sowie eigene Urteilsfähigkeit in Meinungsfreiheit zu befördern“ (32).
Durch die quellengesättigte, kenntnisreiche, gut lesbare und in weiten Teilen sogar spannend geschriebene historische Aufarbeitung der ‚Jungen Gemeinde Stadtmitte Jena’ in ihrer gesamten Zeit zwischen 1970 und 1989 vermag der Autor nicht nur die Geschichte einer „der wichtigsten oppositionellen Gruppen der Offenen Arbeit in der DDR“ (317) umfassend zu rekonstruieren, sondern zugleich ein eindrucksvolles Bild dieses sozialen, kulturellen und politischen Zentrums für hunderte Jugendliche zu zeichnen. „Die Junge Gemeinde war ... ein einzigartiges herrschafts- und hierarchiefreies Probier- und Lernumfeld für junge Menschen, welche sich am Beginn ihres Interesses für die Junge Gemeinde oft unbewusst dem diktatorischen Herrschaftsanspruch entziehen wollten. Neben Kreativität, Spontaneität und Provokation entwickelte sich hier ein basisdemokratisches Denken und Handeln heraus, das sich gegen diktatorische Disziplinierung und Ideologie richtete. Gerade dieser Aspekt verschaffte der Jungen Gemeinde unter den Jugendlichen, die den ideologischen Zwang der DDR-Diktatur ablehnten, eine besondere Attraktivität. ... Das Bekenntnis zur Kirche reichte vielen Jugendlichen der Offenen Arbeit als Ausdruck ihrer Abgrenzung zum SED-Staat nicht aus. Bibelarbeit und Singen wurden zu untergeordneten Werten für eigene Positionen. Im Vordergrund standen das Bedürfnis nach jugendgemäßem Freiraum und politischer Unabhängigkeit“ (314f.).
Grundlage dieser Forschungsstudie ist ein differenziertes Untersuchungsdesign: Neben der Dokumentenanalyse (auch von unveröffentlichten Akten des Ministeriums für Staatssicherheit) hat der Autor mit ehemaligen Akteuren der ‚Offenen Arbeit’ und deren Umfeld sowohl Zeitzeugengespräche geführt als auch eine schriftliche Befragung durchgeführt (N=218; Rücklaufquote: 24,3%). Aus diesen unterschiedlichen empirischen Zugängen hat Pietzsch nachvollziehbar so genannte „generative Brüche“ herausgearbeitet, die sich in vier Zeitphasen unterteilen und im engen Zusammenhang mit innen- und außenpolitischen Vorgängen stehen (13). Beispiele hierfür sind das Aufbegehren der Kulturschaffenden der DDR gegen die Biermann-Ausbürgerung 1976/77, die ostdeutsche Friedensbewegung 1983/84 und ab 1987/88 die allmähliche Herausbildung einer DDR-weiten Demokratiebewegung.
Auffällig ist, dass in allen vier Zeitphasen sich ein nahezu vollständiger Austausch der bisherigen Akteure vollzog und die ‚Offene Arbeit’ der ‚Jungen Gemeinde Stadtmitte’ damit „eine sich ständig wandelnde Größe innerhalb einer subkulturellen Jugendszene war“ (131), die der Autor durch die folgenden Überschriften zu charakterisieren versucht:
- Die Generation der politischen Sozialisation 1969-1976;
- die politische Generation 1977-1983;
- die Generation der religiösen Bekenntnisse 1984-1989;
- Offene Arbeit und die friedliche Revolution 1989/90.
Solche Erfahrungen führten aber nicht wie von der SED-Führung gewünscht zur Verhinderung der staatsfeindlichen Aktivitäten, sondern beförderten – insbesondere auch mit Unterstützung von öffentlichen Protesten in den Medien der Bundesrepublik (200), die durch Exil-Jenaer lanciert wurden – die weitergehende Solidarisierung und Politisierung der beteiligten Akteure. Im Zuge dessen wurde etwa auch ein „Anti-MfS-Papier“ mit „Richtlinien zum Schutz vor dem Eindringen Unbefugter“ formuliert (95). Aber auch in Teilen der Kirche wurden die Aktivitäten der Jungen Gemeinde äußerst kritisch eingeschätzt: kirchliche IM steuerten etwa im Landeskirchenrat die Haltung gegenüber der Jungen Gemeinde im Interesse der SED. So hatte beispielsweise der zuständige Jugendwart für die Junge Gemeinde im Auftrag der Kirchenleitung Sorge dafür zu tragen, dass „die kirchliche Jugendarbeit nicht wieder im Zusammenhang mit politischen Aktionen außer Kontrolle gerät“ (165). In einem anderen Fall bot ein Vikar (bei der MfS als IM Bartholomäus Runge geführt) neben religiösen Themen auch Themen der praktischen Lebenshilfe wie Krisenbewältigung in Familie und Beruf, Probleme in der Partnerschaft an. „Mit dieser Art von Sozialarbeit versuchte er gezielt, die Jugendlichen an seine Person und seine Antwortmöglichkeiten zu binden“ (251). Das Ziel, die Junge Gemeinde als „feindlich-negativen Personenzusammenschluss“ (240) und ab 1983 als „operativen Hauptfeind“ (318) zu entpolitisieren und zu kontrollieren, wurde allerdings zu keiner Zeit erreicht. Vielmehr führte dies dazu, dass die Jenaer Akteure insgesamt gegenüber der Thüringer Kirchenleitung und vielen ihrer Mitarbeitern „Misstrauen“ (206) entwickelten – die Auswertung der Akten des MfS rechtfertigt nachträglich diese Haltung. Alles zusammen trug letztendlich dazu bei, dass das Bemühen, die Junge Gemeinde Jena in die Kirche einzubinden, zu keiner Zeit einen längerfristigen Erfolg hatte.
Am Schluss bleibt festzuhalten, dass Henning Pietzsch mit seiner lesenswerten, detailreichen und in einer klaren, verständlichen Sprache verfassten Arbeit nicht nur eine differenzierte, systematisch anspruchsvolle Analyse der kirchlichen Jugendarbeit in Jena vorlegt, sondern auch die Lebenswelten Jenas zu DDR-Zeiten aufzeigt.
[1] Hering, S./MĂĽnchmeier, R.: Geschichte der Sozialen Arbeit. Eine EinfĂĽhrung. Weinheim/MĂĽnchen 2000.
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): Neunter Jugendbericht. Bericht über die Situation der Kinder und Jugendlichen und die Entwicklung der Jugendhilfe in den neuen Bundesländern. Bonn 1994.