EWR 3 (2004), Nr. 6 (November/Dezember 2004)

Mathis Leibetseder
Die Kavalierstour
Adlige Erziehungsreisen im 17. und 18. Jahrhundert
Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag 2004
(258 Seiten; ISBN 3-412-14003-1; 34,90 )
Die Kavalierstour Die vorliegende Arbeit ist eine leicht überarbeitete Fassung einer von Volker Hunecke (TU Berlin) und Frank Göttmann (Paderborn) betreuten Dissertation. Sie widmet sich der adligen Kavalierstour und analysiert zu diesem Zweck insgesamt 20 Ausbildungsreisen, die im Zeitraum von 1620 und 1774 absolviert wurden. Darüber hinaus bezieht Leibetseder zahlreiche edierte Reisebeschreibungen in die Analyse ein.

Aus der archivalischen Überlieferung rekonstruiert werden Reisen der Familien aus dem reichsunmittelbaren Adel (Reuß), von katholischen Adligen aus Bayern und Westfalen (Törring, Landsberg, Sierpstorff), dem lutherischen Adel Brandenburgs und Sachsens (Arnim, Lynar, Zinzendorf) sowie zweier Familien aus der Reichsstadt Nürnberg (Fürer und Löffelholtz). Die Reisetraditionen dieser Familien waren der Forschung zumindest ansatzweise bereits bekannt.

Nicht befassen will sich der Verfasser mit den Prinzenreisen, die er als eigenständige Reiseform betrachtet. Und obwohl der gewählte Zeitraum vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Beginn der Französischen Revolution reicht und eine diachrone Forschungsperspektive somit nahegelegen hätte, konzentriert sich die Arbeit auf sieben thematische Schwerpunkte, deren Auswahl im Einzelnen nicht näher erläutert wird.

Der erste Teil der Arbeit umschreibt die Kavalierstour und ihre Familientradition. Richtig erkannt wurde, dass die Nürnberger Patrizierfamilien den landsässigen Adligen in Nichts nachstanden. Vielmehr verfügten sie über eine eigene Tradition kaufmännischer Ausbildungsreisen, aus denen sich die Europareisen entwickelten. Zwischen 1575 und 1788 gingen Söhne aus insgesamt 20 von 42 Nürnberger Patrizierfamilien auf Reisen. Die Familien der Landadligen schickten ihre Söhne auf Tour, weil sie sich zunehmend bürgerlichen Konkurrenten in den landesherrlichen Gremien ausgesetzt fühlten und ihre Söhne auf diese Art und Weise weiterqualifizierten.

Was nun die verhaltensethischen Normen der Bildungsreise betrifft, so ist treffend der "Cortegiano" des Castiglione als Vorbild eines jeden Hofmannes angeführt. Dieser Bestseller der verhaltensethischen Literatur pries gehobene Konversation und Affektkontrolle und verdichtete die Lerntheorie des höfischen Zeitalters zu einem kompakten Kern.

Im zweiten Teil der Abhandlung werden die finanziellen Aspekte der Kavaliersreisen untersucht. Reisen war immer schon eine kostspielige Angelegenheit, die zuweilen die finanziellen Verhältnisse der Familien überstieg oder sie zumindest über Jahre hinweg verschuldete. Besonders umstritten war daher die Frage, wer genau für die Reisekosten aufzukommen hatte. Die regierenden Fürstenfamilien konnten Sondersteuern erheben und auf die Einkünfte ihrer Landadligen zurückgreifen - zumindest bei den Reisen ihrer Erstgeborenen. Bei ihnen war die Kofinanzierung der Ausbildung eine Investition in den Wissensstand ihres künftig Regierenden. Beim Grafen Heinrich I. Reuß führte der Versuch der Einführung einer Steuer zur Finanzierung der Reisen seines Sohnes allerdings zu einem Prozess der Untertanen vor dem Reichshofsrat und einem jahrzehntelangen Rechtsstreit. Hier fühlte man sich offensichtlich nicht sehr verpflichtet. Die landsässigen Adelsfamilien mussten die Reisemittel selbst erwirtschaften, wenn sie nicht ein Stipendium eines Fürsten erhalten konnten. Bisweilen griff man auf das Gesamtvermögen der Familie zurück oder verrechnete die Ausbildungskosten mit dem zu erwartenden Erbteil des Reisenden. Die Nürnberger Patrizier reisten übrigens dank ihrer vermögenden Familien durchaus auf einem hohen finanziellen Niveau. Die Fürstenkinder lagen wiederum im Aufwand mit den englischen Aristokraten gleichauf, während die landsässigen Adligen ungefähr das Budget eines Gentry-Mitglieds oder eines niederländischen Patriziers besaßen. Hier wie an anderen Orten hätte der Verfasser seine Angaben fruchtbar mit den Informationen der Studie von Maczak vergleichen können [1].

Bei der Untersuchung der Netzwerke und Suiten im zweiten Teil der Untersuchung widmet sich der Verfasser den Mitgliedern der Reisegruppe. Allgemein bekannt ist der Umstand, dass adlige Reisende zumeist von einem Hofmeister begleitet wurden. War die Familie hinreichend vermögend, wurde neben einem Hofmeister noch ein Präzeptor bestellt, der das Bücherstudium übernahm, während erstgenannter für die Organisation der Reise und die Verhaltenskontrolle zuständig war. Inwiefern die These von einem zunehmenden "hofmeisterlichen Absolutismus" gerechtfertigt ist, ließe sich wohl erst mit einem breiteren prosopographischen Sample klären. Richtig erscheint hingegen die Beobachtung, dass die Hofmeister die Kavaliersreise auch zur eigenen Qualifizierung nutzten.

Im vierten Teil der Abhandlung widmet sich Leibetseder den "Professoren, Diplomaten, Gastgebern und Hofbesuchen". Hier kommen also die Kontaktpersonen der Reisenden unter die Lupe. Regelrechte Mediatoren waren die an den Ritterakademien und Universitäten tätigen Professoren. Am Beispiel der Lehrer von Max Emmanuel Graf von Törring-Jettenbach wird festgestellt, wie dieser mittels generöser Gratifikationen an der Ritterakademie in Lunéville und an der Universität in Straßburg Zutritt zu den wichtigen Persönlichkeiten erhält. Allein durch Empfehlungsschreiben war der Zugang zu dem berühmten Straßburger Staatsrechtler Johannes Daniel Schöpflin zu erreichen, der dann wiederum seine europaweiten Kontakte zur Verfügung stellte. Mit dem Frieden zu Utrecht 1714 wurden zunehmend die Gesandten der einzelnen deutschen Staaten im europäischen Ausland ebenfalls zu derartigen Mediatoren, die den Zugang zu den VIPs der höfischen Gesellschaft regulierten und vor Ort als Reiseleiter oder Transferagenten fungierten. Die unter den europäischen Höfen übliche und allgemein bekannte Hierarchie stellt Leibetseder auch in den Wahrnehmungen der Reisenden fest.

Im fünften Teil "Berichte von der Kavalierstour" geht der Verfasser ausführlich auf die Quellengattungen der Reiseberichterstattung ein. Eine Schreibtafel diente zumeist für kurze Notizen vor Ort, das Reisejournal wurde täglich am Abend mit allem Bemerkenswerten gefüllt und der offizielle Reisebericht konnte Jahre später erst zum Abschluss gebracht werden. Die Unterschiede und Stadien der Berichterstattung sind der Forschung bereits bekannt [2].

Die Folgen der Europareisen werden im vorletzten Teil erörtert. Die Europareise war ein gefährliches Unterfangen, das zeigen schon die zahlreichen Unfälle und Todesfälle, die unter den Kavalieren zu verzeichnen waren. So manch einer starb an Pocken, Typhus, Pest oder Fieber, Unfälle mit Kutschen oder Booten waren ebenfalls eher die Regel als die Ausnahme. Materielle Zeugen der Transferleistungen auf Kavalierstouren waren in allen adligen Familien in den Bibliotheken, Naturaliensammlungen und Gemäldegalerien wiederzufinden.

Eine kurze Bemerkung noch zum theoretischen Ansatz der Qualifikationsarbeit. Leibetseder identifiziert drei konkurrierende Erklärungsmodelle in der Forschung. Ein Modell stamme aus der älteren Kulturforschung und bezeichne die Kavalierstouren als verschwenderische Vergnügungsreisen. Diesem Modell rechnet der Verfasser Steinhausen, aber auch die Untersuchungen von Grosser, Reif und De Ridder-Symoens [3] zu. Ein zweiter Ansatz interpretiere die Kavaliersreise als Rite de Passage (Gennep, Brilli, Stannek) [4] und ein drittes Modell erkläre die Kavalierstouren mit dem Interesse der Integration in die jeweilige Standesgesellschaft (Heiss) [5]. Nun ist bei der Untersuchung kultureller Phänomene die Reduktion auf ‚ein’ Erklärungsmodell bisweilen recht einfach. Auch schließen sich die Erklärungsansätze keineswegs gegenseitig aus. Gerade in der Differenzierung der Ansätze nach Reiseanlass, -standort, -zeit und vielen weiteren Variablen liegt eine Erklärungskraft, die nicht zu vergeben ist. Auch Kombinationen sind denkbar. So konnte eine Reise durchaus vergnügliche Elemente haben, sie konnte die Zeit bis zur Heirat überbrücken, ein Reisender konnte durch das Inkognito an einem bestimmten Ort eine Hofgesellschaft von außen betrachten und dennoch nach seiner Rückkehr die während der Reise erworbenen kulturellen Kompetenzen zur Aufrechterhaltung einer sozialen Position nutzen.

Dennoch schadet es der Arbeit nicht, dass die theoretischen Überlegungen auf Einleitung und Schluss beschränkt bleiben. Richtig scheint mir die Beobachtung zu sein, dass die Kavaliersreisen in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts keineswegs einer zunehmenden Polarisierung von Bürgerlichen versus Adligen unterlagen - wie dies Grosser konstatierte - sondern sich vielmehr die landadligen Kavaliere in ihren Verhaltensmustern den neuen aufgeklärten Zeiten anpassten. Die Studie schließt mit einem ausführlichen Orts-, Sach- und Personenregister und empfiehlt sich den Lesern durch ein handliches, ansehnliches Layout des Verlages.

[1] Maczak, Antoni: Travels in Early Modern Europe, London 1995.
[2] Bepler, Jill: Ferdinand Albrecht Duke of Braunschweig-Lüneburg 1636-1687. A Traveller and his Travelogue, Wiesbaden 1988.
[3] Grosser, Thomas: Reiseziel Frankreich. Deutsche Reiseliteratur vom Barock bis zur Französischen Revolution, Opladen 1989. Reiff, Heinz: Westfälischer Adel 1770-1860. Vom Herrschaftsstand zur regionalen Elite, Göttingen 1979. De Ridder-Symoens, Hilde: Die Kavalierstour im 16. und 17. Jahrhundert, in: Peter J. Brenner: Der Reisebericht, Frankfurt am Main 1989, S. 197-223.
[4] Gennep, Arnold van: Ãœbergangsriten (Les rites de passage), Frankfurt am Main 1999.
Brilli, Attilio: Als Reisen eine Kunst war. Vom Beginn des modernen Tourismus, Berlin 1997. Stannek, Antje: Telemachs Brüder. Die höfische Bildungsreise im 17. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2001.
[5] Heiss, Gernot: Integration in die höfische Gesellschaft als Bildungsziel. Zur Kavalierstour des Grafen Johann Sigmund Hardegg 1649/59, in: Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich N.F. 48/49 (1982/83), S. 99-114.
Antje Stannek (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Antje Stannek: Rezension von: Leibetseder, Mathis: Die Kavalierstour, Adlige Erziehungsreisen im 17. und 18. Jahrhundert, Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag 2004. In: EWR 3 (2004), Nr. 6 (Veröffentlicht am 30.11.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/41214003.html