Vom 28. bis 30. November 2002 fand im Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld die 9. Tagung des Arbeitskreises Vormoderne Erziehungsgeschichte statt. In dem hier zu besprechenden Band ist eine Auswahl der Vorträge veröffentlicht, die während dieser Tagung gehalten wurden.
Die Herausgeber erläutern in der Einleitung den thematischen Schwerpunkt des Tagungsbandes. Es geht um die "Frage konfessioneller Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Entwicklung von Lehrinhalten, Lehrmethoden, Lehrinstitutionen und Konzepten in der Epoche der Reformation und der Konfessionalisierung" (1). Damit wird klar, dass ein Leser, der aufgrund des Titels eine Einführung in die Pädagogik der genannten Zeit erwartet, enttäuscht wird. Nicht um eine allumfassende Bestandsaufnahme frühneuzeitlicher Pädagogik geht es hier also, sondern um das Verhältnis von Bildung und Erziehung zu den konkreten Konfessionen einerseits und um die Frage, ob sich in verschiedenen konfessionellen Kontexten Bildung und Erziehung deutlich voneinander unterscheiden, andererseits.
Eine solche Aufgabenstellung ist anspruchsvoll, zumal sie methodisch eine Erweiterung des bisher üblichen Instrumentariums erfordert. Das in der bisherigen Historischen Pädagogik dominierende ideen-, disziplin- und institutionsgeschichtliche Herangehen greift bei einem solchen Vorhaben zu kurz und muss erweitert werden um sozial- und kulturgeschichtliche Methoden. Durch eine solche anregende Fragestellung findet die Historische Pädagogik auch den Anschluss an die Methodendiskussion und –erprobung, die in der Geschichtswissenschaft der letzten Jahrzehnte zu einem fruchtbaren Methodenpluralismus geführt hat. Doch damit nicht genug: Für die Untersuchung eines so komplexen Gegenstandes wie dem Verhältnis der Konfessionen zu Bildung und Erziehung muss der Erziehungswissenschaftler auch inhaltlich auf Hilfe von außerhalb zurückgreifen. Und so finden sich unter den Beiträgern dieses Tagungsbandes nicht nur Erziehungswissenschaftler, sondern auch Germanisten, Theologen und sogar Kunsthistoriker. Ein Buch, das praktizierte Interdisziplinarität so augenscheinlich demonstriert, nimmt man gern zur Hand und wird – soviel darf zu Beginn schon verraten werden – nicht enttäuscht.
Gegliedert ist der Band in vier thematische Teile. Der erste trägt die Überschrift "Konfessionalisierung und Bildung – makrohistorisch und mikrohistorisch" und enthält zwei Arbeiten. In dem einleitenden Beitrag "Konfessionalisierung und Bildung aus erziehungswissenschaftlicher Sicht" versucht Rudolf W. Keck dem Rahmenthema eine begriffliche Grundlage zu geben. So definiert er zu Beginn: "Unter Konfessionalisierung verstehe ich aus erziehungswissenschaftlicher Sicht, dass Religion bzw. ihre Reform die Plattform ist, auf der Bildung zum Problem wird und neue Impulse erfährt" (11). Damit wird Konfessionalisierung nicht als Epochenbegriff verstanden, sondern als derjenige religiöse bzw. theologische Untergrund, auf dem sich Bildungs- und Erziehungsprozesse abspielen. Nach einer Skizze des historischen Kontextes, in dem die Reformation stattfand, widmet sich Keck der Frage, welche Rolle der Katechismus im katholischen und protestantischen Schulwesen gespielt hat. Er stellt fest, dass die Gemeinsamkeiten sowohl bei der Formulierung des Textes (durch einen Vergleich der Hildesheimer Katechismustafel von 1451 mit Luthers kleinem Katechismus) als auch in der Funktion bei weitem überwiegen. Auch der Aufbau von Schulen erfolgte "auf der Grundlage analoger Konfessionalisierungsprogramme" (24). Zum letzten Gegenstand hätte man gern etwas mehr Informationen aus den historischen Quellen selbst erfahren.
"Das bikonfessionelle Schulwesen Erfurts im 16. und 17. Jahrhundert" ist der Gegenstand, dem Andreas Lindner sich zuwendet. Die Reformation traf in Erfurt – neben dem Eichfeld eine der zwei katholischen Exklaven im Entstehungsraum des Protestantismus - auf ein lebendiges Schulwesen mit langer Tradition; über vier Schulen und eine Universität verfügte die Stadt im hohen Mittelalter. Dargestellt wird von Lindner zunächst, wie sich ausgehend von der frühen Reformationszeit bis hin zur Gründung von katholischen Schulen im 17. Jahrhundert in Erfurt ein Schulwesen auf der Grundlage unterschiedlicher Konfessionen etablierte. Herausgearbeitet werden die Unterschiede, aber auch – und dies in z.T. erstaunlichem Grade – die Gemeinsamkeiten beider Schularten. Resümierend stellt Lindner fest: "... die Grenzen waren durchlässig, die Schulen keine konfessionellen Ghettos und schon gar nicht Instrumente konfessioneller Auseinandersetzung" (49).
Unter dem Titel "Bildungsgeschichtliche Entwicklungen in der Schweiz" werden im zweiten Teil zwei Beiträge zur frühneuzeitlichen Erziehungsgeschichte in der Schweiz zusammengefasst. Daniel Tröhler widmet sich dem Thema "Republikanische Tugend und Erziehung bei Niccolò Machiavelli und im Selbstverständnis des Schweizer Stadtbürgertums des 16. Jahrhunderts". Er stellt dar, welche Spuren das politische und Erziehungskonzept aus Machiavellis Discorsi in den Schriften der Zürcher Josias Simler und Samuel Hochholzer hinterlassen hat. Zusammenfassend kann er feststellen: "Die hohe pädagogische Attraktivität des reformierten Verständnisses von Seele und die Ambitionen auf Welterneuerung und Erlösung, die man vor allem später in sie legen konnte, führten offenbar zu Wirkungseinschätzungen der Pädagogik, die die Vertreter des Tugendrepublikanismus nie gehabt hätten" (70).
Die Mitherausgeberin Anja-Silvia Göing untersucht die Disziplin "’Physica’ im Lehrplan der Schola Tigurina in Zürich 1541-1597". Der Autorin gelingt es in diesem methodisch klar aufgebauten und argumentativ überzeugenden Beitrag nachzuweisen, dass die Physica im Lehrplan der untersuchten Schule drei Zwecken diente: "Zum einen ergänzte das Fach die Bildungsbemühungen der Schule auf humanistischer Grundlage, zum zweiten erfolgte die Einbettung der Naturphilosophie auf der Basis einer Naturtheologie in den Theologieunterricht der Schule; zum dritten erfüllte das Fach aber auch die Ansprüche an ein medizinisches Propädeutikum und war als ein solches intentional ausgerichtet" (73). Mit einer beeindruckenden Literaturkenntnis (das Literaturverzeichnis umfasst mehr als drei Seiten bei einem Text von 15 Seiten!) gelingt es der Autorin ihre Thesen zu belegen, wobei auch handschriftliche Quellen berücksichtigt werden.
"Klassiker der Pädagogik – neu interpretiert" ist der dritte Teil überschrieben. In seinem Beitrag "Bildungsdenken und Seelenlehre bei Philipp Melanchthon. Die Lektüre des Liber de anima (1553) im Kontext von Medizintheorie und reformatorischer Theologie" stellt Simone de Angelis dar, wie stark die Seelenlehre von Melanchthon im zeitgenössischen medizinhistorischen Kontext verankert ist und gleichzeitig auf die medizinische und juristische Ausbildung zurückwirkt. Er untersucht den Commentarius de anima von 1540 und den Liber de anima von 1553 und kommt zu dem Schluss, dass besonders die letztgenannte Schrift "als ein bedeutendes Gründungsdokument der ‚modernen’ Pädagogik zu betrachten [sei], das zugleich am Anfang eines großen kultur- und bildungspolitischen Programms im Zeichen der melanchthonschen Reformation steht" (115f.). De Angelis liefert eine differenzierte Darstellung der Auffassungen Melanchthons zum Seelenbegriff und gibt durch seinen Beitrag ein eindrucksvolles Beispiel, wie eine interdisziplinäre Arbeit aussehen kann.
Lutz Koch versucht in "Comenius und das moderne Methodendenken" Bausteine zu einer neuen Interpretation dieses Klassikers zu liefern. Ausgehend von der Feststellung, dass der Begriff der Methode bei Comenius eine eminent wichtige Rolle spielt, will der Autor durch Vergleich mit der Methodenlehre von Descartes und Bacon zeigen, dass vom Methodenverständnis ausgehend das Denken von Comenius rekonstruiert werden kann. Die Argumentation vermag jedoch den Rezensenten nicht zu überzeugen. Durch die Comeniusforschung der letzten Jahrzehnte ist nachdrücklich gezeigt worden, wie überaus wichtig der theologische Aspekt für ein Verständnis des comenianischen Werkes ist. Indem Koch versucht, "den Zusammenhang zwischen den Grundgedanken seiner [d.h. Comenius’, S.K.] Methode und seinen metaphysisch-theologischen Überzeugungen [zu] skizzieren und danach den Versuch [zu] machen, die nach meiner These mögliche Ablösbarkeit einiger methodischer Elemente von eben diesen Grundlagen" (125) zu vollziehen, verkürzt er den Ansatz von Comenius um das entscheidende Element und behandelt nur noch einen Teilaspekt, der das Ganze nicht mehr repräsentiert.
Der vierte Block schließlich untersucht "Inhalte und Methoden des Lehrens und Lernens". Er wird eröffnet durch einen Beitrag von Mitherausgeber Hans-Ulrich Musolff zum Thema "Wiederkehr der Metaphysik und moderne Bildungstheorie. Zur Interpretation der Schulphilosophie in Curricula des 17. Jahrhunderts". Er zeigt, dass bei den studia superiora an Gymnasien in Steinfurt, Münster und Soest während des 17. Jahrhunderts besonders die Textsorten der theses und disputationes wesentlich waren bei der Vermittlung insbesondere von metaphysischen Inhalten. Gerade die Einbeziehung von diesen Texten, die in ihrer Bedeutung für die Rekonstruktion frühneuzeitlicher Argumentationszusammenhänge außerordentlich bedeutsam und von der Forschung noch nicht hinlänglich berücksichtigt werden, ist eine Stärke des Beitrages von Musolff. In seinem Beitrag kann er, auch durch Auswertung von handschriftlichen Quellen zeigen, dass die bisher oft behauptete Dominanz des sprachlich-rhetorischen Unterrichts für den von ihm untersuchten Bereich nicht gilt.
Frauke Böttcher untersucht die "Formen mathematischer und naturwissenschaftlicher Wissensvermittlung im 17. Jahrhundert in Frankreich". Dem als Motto vorangestellten Pascal-Zitat folgend ("Die Mathematik als Fachgebiet ist so ernst, daß man keine Gelegenheit versäumen sollte, dieses Fachgebiet unterhaltsamer zu gestalten."), untersucht die Autorin die konkreten Formen der Vermittlung von mathematisch-naturwissenschaftlichem Wissen, besonders im Bereich der höfischen Kultur. Dabei zeigt sie, wie insbesondere Lehrgespräche, literarische Dialoge und Korrespondenzen zu diesem Zweck eingesetzt wurden. Durch diese Formen war dieses Wissen "auch denjenigen, insbesondere den Frauen der Oberschicht, zugänglich, die keinen Zugang zu der formalen und wissenschaftlichen Ausbildung an den Kollegien und Universitäten hatten" (208).
Der Kunsthistoriker Ulrich Pfisterer schließlich untersucht in seinem Beitrag "Kunst im Curriculum des 15. und 16. Jahrhunderts oder: Eine Nürnberger Erziehungsallegorie der Reformation" Schülerzeichnungen, Stiche und Gemälde. Er arbeitet zum einen die Rolle des Malens und Zeichnens in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Erziehungskonzepten heraus. Dabei wirkt insbesondere die "Vorstellung, dass sich Bilder besonders leicht und gut der rational noch nicht voll entwickelten Seele des Kindes einprägten" (223). Zum anderen wird durch die Interpretation eines Gemäldes, der Nürnberger Erziehungsallegorie von Erhard Schwetzer aus dem Jahr 1541, gezeigt, welche Informationen über die damaligen Vorstellungen z.B. von der Natur des Kindes und von der Vorstellung, dass Bildung ein Heilmittel ist, aus dieser Bildquelle erschlossen werden können.
Durch die Beiträge des Tagungsbandes wird überzeugend herausgearbeitet, dass die Gemeinsamkeiten des Schulwesens katholischer und protestantischer Ausprägung größer waren, als bislang angenommen. So formulieren die Herausgeber zusammenfassend selbst: "Trotz konfessioneller Prägung der Schulen erwiesen sich diese bis ins 17. Jahrhundert hinein nicht als Feld konfessioneller Auseinandersetzungen, vielmehr zeigten sie funktionale und inhaltliche Konvergenzen. Die konfessionellen Ideale wurden im Schulwesen kaum durchgesetzt" (5).
Der Tagungsband von Musolff und Göing kann besonders denjenigen empfohlen werden, die sich für die Geschichte der Bildung und Erziehung in der Frühen Neuzeit und deren Anbindung an weitere Bezirke gesellschaftlichen und kulturellen Lebens (wie z.B. Kirche, Universitäten, Entwicklung der Wissenschaften, städtische Ordnung) interessieren. Dieser Leserkreis wird mit Gewinn die Erprobung neuer Methoden der Geschichtsforschung und die damit verbundene Korrektur einiger Thesen zur Kenntnis nehmen. Abzuraten ist jedoch, diesen Band als Einführung in die Pädagogik jener Zeit empfehlen. Der etwas vollmundige Titel ("Anfänge und Grundlegungen moderner Pädagogik im 16. und 17. Jahrhundert") ist etwas unglücklich gewählt und lässt eher ein Lehrbuch vermuten als das, was es wirklich ist: ein spannender und lehrreicher Einblick in das Verhältnis von Religion und Theologie zu Bildung und Erziehung in der Frühen Neuzeit anhand von Fallstudien.
Durch drei Register (Orts-. Personen- und Sachregister) wird dem Leser die Benutzung des Bandes erleichtert. Auch wird durch das Literaturverzeichnis, das die verwendete Literatur am Ende eines jeden Beitrages übersichtlich präsentiert, eine schnelle Orientierung ermöglicht. Diese leserfreundliche Gestaltung rundet das positive Bild ab, das dieser insgesamt gelungene Band bietet.
EWR 3 (2004), Nr. 3 (Mai/Juni 2004)
Anfänge und Grundlegungen moderner Pädagogik im 16. und 17. Jahrhundert
Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2003
(254 Seiten; ISBN 3-412-07503-5; 29,90 EUR)
Stefan Kratochwil (Jena)
Zur Zitierweise der Rezension:
Stefan Kratochwil: Rezension von: Musolff, Hans-Ulrich / Göing, Anja-Silvia (Hg.): Anfänge und Grundlegungen moderner Pädagogik im 16. und 17. Jahrhundert, Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.06.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/41207503.html
Stefan Kratochwil: Rezension von: Musolff, Hans-Ulrich / Göing, Anja-Silvia (Hg.): Anfänge und Grundlegungen moderner Pädagogik im 16. und 17. Jahrhundert, Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.06.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/41207503.html