Und eben deshalb ist die Forschungsarbeit der amerikanischen Psychologieprofessorin Mavis Hetherington für die Erziehungswissenschaft interessant, denn hier wurden in einer Langzeitstudie über Scheidungsfolgen die betroffenen Kinder als Erwachsene selbst dazu befragt. Ihr im Beltz-Verlag erschienenes Buch fasst – jounalistisch aufgearbeitet von John Kelly - die Ergebnisse von drei Untersuchungen zusammen (Virginia Longitudinal Study of Divorce and Remariage 1989; The Hetherington & Clingempeel Study of Divorce and Remarriage 1992; The National Study of Nonshared Environment 1999)
Das auf die Frage der Folgen für die Kinder zugespitzte Buch basiert auf Daten von 450 Familien und 900 jungen Menschen aus geschiedenen, nicht geschiedenen und wiederverheirateten Familien ein (die Hälfte als Vergleichsgruppe). Die Eltern und Kinder wurden nicht nur befragt, sondern auch in ihrem Verhalten beobachtet; daneben wurden über tausend Stunden Interaktion im Alltag der Familie auf Video aufgezeichnet und ausgewertet. Diese Daten wurden nach sechs, nach elf und nach zwanzig Jahren erneut erhoben.
Das zentrale Ergebnis der Studie ist, dass nicht die Scheidung an sich, vielmehr die Ursachen, Bedingungen und Umgangsweisen der Eltern und Stiefeleltern die Weichen dafür stellen, ob Kinder dieses krisenhafte Ereignis bewältigen können oder nicht. Hetherington leugnet nicht, dass Scheidung eine hohe Belastung für die Kinder darstellt und in den ersten zwei Jahren emotionale und soziale Verhaltensstörungen zur Folge hat. Danach aber und vor allem als Erwachsene ist die große Mehrheit der Kinder (80%) nicht unglücklicher und hat nicht mehr Probleme, als die erwachsenen Kinder aus der Vergleichsgruppe (90%). Allerdings sind Eltern und Kindern schnell bereit, auftauchende Probleme eben gerade als Folge von Scheidung (und damit als "bequemes Alibi" S. 320) und nicht als entwicklungs- oder gesellschaftlich bedingte zu interpretieren.
Als Faktoren für eine gelungene bzw. misslungene Bewältigung der Scheidung nennt Hetherington:
- erstens die Art der Paarbeziehung innerhalb der Ehe (danach gibt es u.a. traditionelle, theatralische, unverbundene etc.),
- zweitens die Frage danach, ob eine neue zufriedenstellende Partnerschaft eingegangen wird und freundschaftliche Beziehungen zwischen den Ex-Partnern möglich sind,
- drittens das Alter und das Geschlecht der Kinder (offenbar ist eine Trennung in der Adoleszenz besonders ungünstig; Jungen leiden unter dem Verlust des Vaters mehr als Mädchen),
- viertens das soziale Umfeld (UnterstĂĽtzung durch GroĂźeltern?) und
- fünftens der Erziehungsstil (hier unterscheidet Hetherington in autoritativ/emotional, permissiv, autoritär/unbeteiligt und vernachlässigend).
Als Gefahren fĂĽr die weitere Eltern-Kind-Beziehung macht sie einerseits eine "Parentifizierung" aus (was eine Umkehrung der Rollen bedeutet, d.h. Kinder kĂĽmmern sich um ihre Eltern) und andererseits eine "Co-Elternschaft", d.h. eine Koalition mit einem Elternteil, der sich im starken Konflikt mit dem anderen befindet (nur einem Viertel der Geschiedenen gelang eine kooperative Beziehung zum Ex-Partner in Bezug auf die Kinder!).
In den Interviews der erwachsenen Kinder nach zwanzig Jahren wurde deutlich, dass die Scheidung zwar als ein krisenhaftes, schmerzhaftes Ereignis, nicht aber als ein traumatisches erinnert wird. Deutlich wird darin aber auch, dass dies i.d.R. als ein Verdienst der Mütter gesehen wird: 70% der Befragten beurteilten die Mutter und ihr Verhalten als positiv (80% in der Vergleichgruppe), dagegen schnitten die geschiedenen Väter deutlich schlechter ab (nur 25% positive Beurteilung, dafür 70% in der Vergleichsgruppe!). Die hängt v.a. damit zusammen, dass Mütter nach der Scheidung nur sehr selten ihre Beziehung zu den Kindern aufgaben und in der großen Mehrheit weiter mit ihnen zusammenleben. Hetherington nennt sie deshalb die "verkannten Heldinnen" (S. 306).
Allerdings spricht sie den Zusammenhang zwischen gesellschaftlich hierarchisch organisiertem Geschlechterverhältnis und Scheidungsursachen und -folgen nicht systematisch an. Fragen der "Feminisierung von Armut", die in einem deutlichen Zusammenhang mit der zunehmenden Zahl von Vätern steht, die sich aus der Erziehungsverantwortung (auch finanziell) herausziehen, werden nur am Rande erwähnt. Auch die neue These von Gefahr der Entfremdung vom getrennt lebenden Elternteil (Parents-Alienation-Syndrom), die u.a. eine Ursache für die o.g. Befunde sein kann, wird hier nicht aufgegriffen.
Dagegen erfahren wir Details, deren Relevanz durchaus zweifelhaft ist. So wissen wir dank der Studie nun, dass 30% der Mädchen in Stieffamilien bereits unter 11 Jahren ihre Periode bekommen (im Vergleich zu 18% der Vergleichsgruppe"), was nach Hetherington die Gefahr einer Teenagerschwangerschaft erhöht. Dieser Befund, den sie mit archaischen, biologischen Reaktionen auf die "Existenz eines fremden Männchens" (S. 281) erklärt, trägt m.E. nicht wesentlich zum Verstehen der Reaktionsweisen von Kindern auf Scheidung bei. Überhaupt räumt sie der Biologie einen höheren Stellenwert für die Entstehung "antisozialen" und damit scheidungsförderndem Verhalten ein, als es "die westliche Kultur" ihres Erachtens zu tun bereit ist (S. 368).
Für den deutschen Leser amerikanischer Untersuchungen sind daneben (immer wieder und so auch hier) der anekdotenhafte Stil und die ins klischeehafte gehenden Typologien gewöhnungsbedürftig. Auch finden wir in dem Buch eine Aufbereitung der Studie, die ohne genaue Zahlen und Tabellen auszukommen scheint und einer genauen Beschreibung der Methodologie entbehrt. Hier bleibt man auf die englischsprachigen Studien selbst verweisen.
Dafür ist jedoch das vorliegende Buch auch für Laien und Studienanfänger verständlich, anregend und vom Ergebnis her – auch wenn man der Autorin nicht in allen Punkten zustimmen mag - interessant.