Die bildungs- und schulpolitischen VerĂ€nderungen sowie die gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse der letzten zehn bis fĂŒnfzehn Jahre im Bereich der IntegrationspĂ€dagogik lieĂen eine vollstĂ€ndig ĂŒberarbeitete und aktualisierte Neuauflage des 1988 erstmals erschienen Handbuchs "IntegrationspĂ€dagogik. Kinder mit und ohne BeeintrĂ€chtigungen lernen gemeinsam" notwendig werden. In der nun vorliegenden 6. Auflage wurden neben einer grundlegenden Ăberarbeitung der BeitrĂ€ge zwölf neue BeitrĂ€ge hinzugefĂŒgt und einige Ă€ltere nicht mehr aufgenommen.
Das Handbuch, herausgegeben von Hans Eberwein und Sabine Knauer, möchte in Form eines Nachschlagewerkes allen, die sich mit Integration beschÀftigen, grundlegende Informationen zu verschiedenen Aspekten schulischer und sozialer Integration liefern. In 45 BeitrÀgen zu 8 Themenfeldern der IntegrationspÀdagogik werden von Fachleuten aus Theorie und Praxis die im In- und Ausland gesammelten Erfahrungen und Forschungsergebnisse bei der Verwirklichung von Integration zusammengetragen.
Im einleitenden Beitrag von H. Eberwein und S. Knauer zur Frage nach "IntegrationspĂ€dagogik als Ansatz zur Ăberwindung pĂ€dagogischer Kategorisierungen und schulischer Systeme" werden Probleme der Entwicklung und Legitimation "sonder"-pĂ€dagogischen Handelns, der Institution Sonderschule sowie einer behinderungsspezifischen Terminologie und Theorie diskutiert und die Notwendigkeit eines integrationspĂ€dagogischen Paradigmas sowie einer verĂ€nderten Lehrerbildung deutlich gemacht. Mit dieser Form des Ăberblicks ĂŒber die thematischen Problemfelder wird es dem Leser ermöglicht, in kurzer und verstĂ€ndlicher Form eine Vorstellung von Konzeption und Inhalt der folgenden BeitrĂ€ge zu gewinnen.
ZunĂ€chst werden ZusammenhĂ€nge zwischen der Integration von Menschen mit Behinderungen und gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen sowie ethisch-moralischen Orientierungen thematisiert. Die Problematik einer auch im Bildungssystem wachsenden Ăkonomisierungstendenz beschreibt H. Deppe-Wolfinger zu Beginn ihres Beitrags mit der brisanten Frage nach den Chancen fĂŒr eine Schule ohne Aussonderung angesichts gesellschaftlicher Entwicklungen, die Desintegration weiter befördern als Gemeinsamkeit und SolidaritĂ€t. Der Beitrag von G. Iben macht diese Problematik anschaulich mit der Beschreibung, dass Schulversagen zu einem groĂen Teil ein Versagen bzw. eine SchwĂ€che der allgemeinen Schule darstellt und dass der Erfolg der allgemeinen Schule nicht an der erfolgreichen Förderung der schwachen SchĂŒler fest gemacht wird, sondern eher an der "TrennschĂ€rfe der Selektionsmechanismen".
Neben kritischen Analysen der Geschichte der Integration bzw. Aussonderung findet der Leser in einem zweiten Themenkomplex sowohl ein- als auch weiterfĂŒhrende Diskussionen um die Terminologie "Behinderung": A. Sander zeichnet zunĂ€chst die umfassende Begriffsdebatte knapp und sehr ĂŒbersichtlich nach, ohne dabei die wichtigsten Aspekte unberĂŒcksichtigt zu lassen. Mit divergierenden Behinderungsbegriffen setzt sich J. Schöler in ihrem Beitrag auseinander. Sie konzentriert sich insbesondere auf ein verĂ€ndertes VerstĂ€ndnis von Behinderung, wie es bei einem Zusammenleben ohne Aussonderung notwendig wird und liefert damit interessante Ăberlegungen zur theoriesystematischen Auseinandersetzung um die Kategorie Behinderung.
Nach der Darstellung des komplexen und ambivalenten Zusammenhangs zwischen "Erziehungswissenschaftlichen Grundpositionen und IntegrationspÀdagogik" findet der Leser wichtige grundlegende Informationen zu den schulrechtlichen Rahmenbedingungen und deren Auswirkungen auf integrationspÀdagogische Trends.
Die TheorieansĂ€tze der gemeinsamen Erziehung sowie die Reflexion von Praxiserfahrungen in den verschiedenen Institutionen des Bildungswesens sind im Kapitel "Integration im Kindergarten, in der Schule und in der beruflichen Bildung" nachzulesen. Hier wird deutlich, welche unterschiedlichen Integrationserfahrungen in den verschiedenen Stufen des Bildungssystems möglich sind - von hĂ€ufig sehr erfolgreichen IntegrationsmaĂnahmen im Elementar- und Primarbereich bis hin zu den noch oftmals beschrĂ€nkten Möglichkeiten einer Nichtaussonderung in der beruflichen Bildung und in der Weiterbildung behinderter Menschen. Die AktualitĂ€t dieser BeitrĂ€ge zeigt sich insbesondere in der BerĂŒcksichtigung neuerer integrativer Angebote wie beispielsweise der Integrationsfachdienste und der Arbeitsassistenz.
Hieran anschlieĂend werden differenzierte organisatorische, didaktische und diagnostische Konzepte zum gemeinsamen Lernen diskutiert. Verschiedene TheorieansĂ€tze wie die Theorie des gemeinsamen Lerngegenstandes und der entwicklungslogischen Didaktik (G. Feuser) sowie der ökosystemische Ansatz (A. Hildeschmidt/A. Sander) werden neben Möglichkeiten der Förderdiagnostik (H. Eberwein) und den VorzĂŒgen die Montessori - PĂ€dagogik fĂŒr die Integration (T. HellbrĂŒgge) ĂŒbersichtlich dargestellt.
Empirische Ergebnisse zu integrativem Unterricht finden in einem siebten Themenkomplex - differenziert nach speziellen Problemfeldern â BerĂŒcksichtigung. So diskutiert H. Reiser die Nichtaussonderung von Kindern mit Verhaltensschwierigkeiten, R. Maikowski sowie W. Podlesch beschreiben Rahmenbedingungen und Chancen der Integration von SchĂŒlern mit geistiger Behinderung; auf die Integration lernbehinderter SchĂŒler bezieht sich der Beitrag von J. Mand, und R. Hetzner und W. Podlesch beschreiben den Unterricht mit schwerstmehrfachbehinderten Kindern und Jugendlichen. Die BeitrĂ€ge von K. Merz-Atalik und H. Quittmann geben durch die Betrachtung des integrativen Unterrichts mit Kindern nicht deutscher Muttersprache sowie mit hochbegabten Kindern eine höchst interessante, die ĂŒbliche Sichtweise ergĂ€nzende Perspektive. Gerade im Kontext der Diskussionen um die Konsequenzen der PISA-Ergebnisse, in denen einerseits die stĂ€rkere Förderung von begabten SchĂŒlern verlangt und anderseits die zu starke VernachlĂ€ssigung und Aussonderung von schwachen SchĂŒlern wie auch von Migrantenkindern beklagt wird, erlangen die hier genannten BeitrĂ€ge eine besondere AktualitĂ€t.
In einem abschlieĂenden Komplex finden sich Informationen zu "Ergebnissen der Integrationsforschung"; zur "schulische(n) Integration und verschiedenen regionalen und nationalen Bedingungen". Insbesondere U. Preuss-Lausitz gibt in seinem Beitrag einen gut strukturierten und umfassenden Einblick in die AnsĂ€tze, Ergebnisse und Perspektiven der Integrationsforschung, der es meiner EinschĂ€tzung nach vor allem "Novizen" der IntegrationspĂ€dagogik ermöglicht, die EntwicklungszusammenhĂ€nge der IntegrationspĂ€dagogik und -forschung nachzuvollziehen.
Insgesamt liefert das Handbuch "IntegrationspĂ€dagogik" einen umfassenden Einblick in das Theorie- und Praxisfeld der IntegrationspĂ€dagogik. In kohĂ€renter Weise bauen die Herausgeber die verschiedenen Themenschwerpunkte auf und schaffen so eine logische Gliederung der unterschiedlichen Kapitel. Die einzelnen BeitrĂ€ge sind kurz und ĂŒbersichtlich, aber nie oberflĂ€chlich, so dass die einzelnen BeitrĂ€ge sowohl als Ăbersichtsliteratur wie auch als Anregung fĂŒr eine weiterfĂŒhrende Auseinandersetzung sehr gut geeignet scheinen. Die Literaturhinweise am Ende der jeweiligen BeitrĂ€ge erleichtern dem interessierten Leser die weiterfĂŒhrende Recherche zu den einzelnen Themen. Das umfangreiche Stichwortverzeichnis gestattet es, diesen Band, wie von den Herausgebern gewĂŒnscht, tatsĂ€chlich als Handbuch zu verwenden.
Das Ziel der Herausgeber, eine systematische Dokumentation der im In- und Ausland gesammelten Erfahrungen und Forschungsergebnisse zum gemeinsamen Unterricht und zu schulischer Integration fĂŒr alle vorzulegen, die sich fĂŒr Integration interessieren oder selbst an integrativen Prozessen mitwirken, ist meines Erachtens eindrucksvoll gelungen.
EWR 2 (2003), Nr. 2 (MĂ€rz/April 2003)
IntegrationspÀdagogik
Kinder mit und ohne BeeintrÀchtigung lernen gemeinsam
Weinheim/Basel: Beltz Verlag 2002
(534 Seiten; ISBN 3-407-83152-8; 38,00 EUR)
Andrea Reibert (Erfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Andrea Reibert: Rezension von: Eberwein, Hans / Knauer, Sabine (Hg.): IntegrationspĂ€dagogik, Kinder mit und ohne BeeintrĂ€chtigung lernen gemeinsam, Weinheim/Basel: Beltz Verlag 2002. In: EWR 2 (2003), Nr. 2 (Veröffentlicht am 01.04.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/40783152.html
Andrea Reibert: Rezension von: Eberwein, Hans / Knauer, Sabine (Hg.): IntegrationspĂ€dagogik, Kinder mit und ohne BeeintrĂ€chtigung lernen gemeinsam, Weinheim/Basel: Beltz Verlag 2002. In: EWR 2 (2003), Nr. 2 (Veröffentlicht am 01.04.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/40783152.html