Das hier zu besprechende Handbuch hebt sich positiv von den oben genannten Angeboten ab, weil in den enthaltenen BeitrĂ€gen keine schnelle Hilfe versprochen und nicht suggeriert wird, dass die Thematik bereits umfassend und abschlieĂend bearbeitet sei. Vielmehr liegt mit diesem Band ein Werk vor, das zum einen Wissenschaftler unterschiedlicher Fachdisziplinen zu interdisziplinĂ€rem Diskurs ermutigt. Zum anderen finden hier schulpraktisch TĂ€tige theoriegeleitete Angebote zum Verstehen konkreter Lernprobleme im Lernbereich Mathematik vor. FĂŒr Wissenschaftler wie fĂŒr Praktiker ist somit im vorliegenden Band die Aufforderung enthalten, auf der Basis systemisch-konstruktivistischer Annahmen weiterfĂŒhrende ErklĂ€rungs- und Handlungsperspektiven zu entwickeln.
Manche Kinder entwickeln in der Schule trotz umfassender pĂ€dagogischer UnterstĂŒtzung nur fragmentarische Einsichten in mathematische ZusammenhĂ€nge sowie unzulĂ€ngliche Rechenkompetenzen. Diese Situation ist fĂŒr die Lernenden selbst ebenso wie fĂŒr ihre Entwicklungspartner (Eltern und Lehrer/innen) Ă€uĂerst prekĂ€r â und deshalb auch von hoher biographischer bzw. schulpraktischer Relevanz. Aus diesen GrĂŒnden dĂŒrfte das vorliegende Handbuch, dessen BeitrĂ€ge einen deutlichen Schwerpunkt auf die Verbesserung pĂ€dagogischer Handlungsmöglichkeiten setzen, fĂŒr Lehrer und fĂŒr Eltern gleichermaĂen von besonderem Interesse sein.
Auf theoretischer Ebene sind die individuellen Schwierigkeiten beim Erwerb mathematischer Kompetenzen gegenwĂ€rtig Gegenstand unterschiedlicher Fachdisziplinen. Forschungsergebnisse und theoretische Modelle werden in der SonderpĂ€dagogik, der Mathematikdidaktik und in Teildisziplinen der Psychologie (z.B. Neuropsychologie) diskutiert â meist ohne einen fachĂŒbergreifenden Impuls zu setzen. Das hier zu besprechende Handbuch zeichnet sich zunĂ€chst dadurch aus, dass Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlicher Fachdisziplinen zu Wort kommen. Dabei bleibt die Vielfalt der Sichtweisen, Konzepte bzw. deren Akzentuierungen deutlich sichtbar. Sie werden "bewusst nicht âweggeglĂ€ttetâ" (452) und bleiben durch den Gesamtaufbau des Buches sowie durch seine Rahmung auch nicht ungebunden nebeneinander stehen. Denn nach Ansicht des Teams der beiden Herausgeberinnen und des Herausgebers ist es an der Zeit, "Wissen zum Thema zusammenzutragen und zu vergleichen, um letztlich umfangreichere Sichtweisen auf die Entstehung mathematischer Kompetenzen und deren Entwicklungsprobleme zu ermöglichen." (ebd.)
Der Band wird durch den einfĂŒhrenden Text "Rechnenlernen im System" (12-26) von Heinrich Bauersfeld sowie von dem zusammenfassenden Versuch einer Zwischenbilanz durch das Herausgeberteam ("Ăber die Schwierigkeiten mit der RechenschwĂ€che â eine Zwischenbilanz zum Thema", 444-452) gerahmt. In jedem der insgesamt vier Kapitel gelingt es den unterschiedlichen Fachvertretern, die jeweiligen fachdidaktischen, psychologischen und sonderpĂ€dagogischen Perspektiven in ihrer Differenz bzw. in ihren Ăberschneidungen zu verdeutlichen. Ein kommentierender Text am Schluss jedes Kapitels bietet eine Orientierungs- bzw. Bewertungshilfe und regt die Leser/innen zum vergleichenden Reflektieren bzw. zur VerstĂ€ndigung ĂŒber die eigene Position an.
Dem Herausgeberteam war es offensichtlich wichtig, Entwicklungsverzögerungen bzw. -störungen vor dem Hintergrund des allgemeinen Entwicklungs- bzw. Lerngeschehens auf dem Weg zu mathematischen Kompetenzen zu betrachten (9). Entsprechend dieser Intention finden in den ersten beiden Kapiteln entwicklungspsychologische Aspekte und Fragen der Lernentwicklung ausfĂŒhrliche Beachtung. Dem Charakter eines Handbuchs entsprechend werden diejenigen Kernthemen, die im Zusammenhang mit Rechenschwierigkeiten gegenwĂ€rtig in der Diskussion sind, mehrperspektivisch bearbeitet. Solche zentralen Themen sind:
- Entwicklungen im Vorschulalter (26-78), kommentiert von Holger Probst und Dorothea Waniek;
- Entwicklungen im Grundschulalter (80-141), kommentiert von Dagmar Bönig;
- Entwicklung von RechenschwÀchen (144-257), kommentiert von Reimer Kornmann;
- Diagnostik mathematischer Kompetenzen (260-358), kommentiert von Karl-Joseph Klauer;
- Förderung beim Erwerb arithmetischen Wissens (360-449), kommentiert von Heinrich Bauerfeld.
Die einzelnen Texte reprĂ€sentieren eine groĂe Vielfalt theoretischer Modelle und handlungspraktischer Konzepte. Diese Feststellung betrifft nicht nur den thematisch-konzeptionellen Aspekt, sondern auch die Ă€uĂere Gestaltung und das MaĂ der didaktischen Aufbereitung der einzelnen BeitrĂ€ge. Die QualitĂ€t eines Arbeitsbuches entsteht da, wo der Textfluss durch eine FĂŒlle von Reflexionsaufgaben und Arbeitsanregungen unterbrochen wird. In einigen Texten wird diese Art der Aufbereitung jedoch nicht konsequent genutzt; leider verzichten einige Autoren auch auf die Auflistung weiterfĂŒhrender Literatur. Bei einer Neuauflage des Buches sollten die Herausgeber daher ĂŒberdenken, welches MaĂ an didaktischer Durchgliederung der einzelnen Kapitel zu einem "aktiv-konstruierenden Durcharbeiten" (10) fĂŒr ein Handbuch erforderlich und sinnvoll ist. Zu ergĂ€nzen bleibt, dass der systematischen Nutzung des Handbuches das sorgfĂ€ltig angelegte Stichwortverzeichnis durchaus entgegen kommt.
Fazit: Mit dem vorliegenden Band steht gegenwĂ€rtig ein einschlĂ€giges Handbuch zur Problematik der "Schwierigkeiten beim Rechnenlernen" zur VerfĂŒgung, das sich an modernen theoretischen Konzepten und Handlungsperspektiven orientiert, mehrperspektivisches Denken anregt, empirische Desiderate aufzeigt und den fĂ€cherĂŒbergreifenden Diskurs befördern wird. Es kann daher den Lehrer/innen sowie den Studierenden im Lehramt aller Schulstufen und Schulformen zur kritisch-reflektierenden LektĂŒre empfohlen werden.