EWR 2 (2003), Nr. 4 (Juli/August 2003)

Annemarie Fritz / Gabi Ricken / Siegbert Schmidt (Hrsg.)
Rechenschwäche
Lernwege, Schwierigkeiten und Hilfen bei Dyskalkulie. Ein Handbuch
Weinheim, Basel, Berlin: Beltz Verlag 2003
(475 Seiten; ISBN 3-407-83151-X; 34,90 EUR)
Rechenschwäche Rechenschwäche/Dyskalkulie ist seit einigen Jahren ein in breiter Öffentlichkeit viel diskutiertes Thema. Einzelne Wissenschaftler glauben gar einen "Dyskalkulieboom" zu erkennen. Eine Fülle von Ratgeberliteratur, oft auf dem umstrittenen Konzept der Teilleistungsstörungen basierend, ist im Angebot. Entsprechende Therapieangebote haben Konjunktur.

Das hier zu besprechende Handbuch hebt sich positiv von den oben genannten Angeboten ab, weil in den enthaltenen Beiträgen keine schnelle Hilfe versprochen und nicht suggeriert wird, dass die Thematik bereits umfassend und abschließend bearbeitet sei. Vielmehr liegt mit diesem Band ein Werk vor, das zum einen Wissenschaftler unterschiedlicher Fachdisziplinen zu interdisziplinärem Diskurs ermutigt. Zum anderen finden hier schulpraktisch Tätige theoriegeleitete Angebote zum Verstehen konkreter Lernprobleme im Lernbereich Mathematik vor. Für Wissenschaftler wie für Praktiker ist somit im vorliegenden Band die Aufforderung enthalten, auf der Basis systemisch-konstruktivistischer Annahmen weiterführende Erklärungs- und Handlungsperspektiven zu entwickeln.

Manche Kinder entwickeln in der Schule trotz umfassender pädagogischer Unterstützung nur fragmentarische Einsichten in mathematische Zusammenhänge sowie unzulängliche Rechenkompetenzen. Diese Situation ist für die Lernenden selbst ebenso wie für ihre Entwicklungspartner (Eltern und Lehrer/innen) äußerst prekär – und deshalb auch von hoher biographischer bzw. schulpraktischer Relevanz. Aus diesen Gründen dürfte das vorliegende Handbuch, dessen Beiträge einen deutlichen Schwerpunkt auf die Verbesserung pädagogischer Handlungsmöglichkeiten setzen, für Lehrer und für Eltern gleichermaßen von besonderem Interesse sein.

Auf theoretischer Ebene sind die individuellen Schwierigkeiten beim Erwerb mathematischer Kompetenzen gegenwärtig Gegenstand unterschiedlicher Fachdisziplinen. Forschungsergebnisse und theoretische Modelle werden in der Sonderpädagogik, der Mathematikdidaktik und in Teildisziplinen der Psychologie (z.B. Neuropsychologie) diskutiert – meist ohne einen fachübergreifenden Impuls zu setzen. Das hier zu besprechende Handbuch zeichnet sich zunächst dadurch aus, dass Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlicher Fachdisziplinen zu Wort kommen. Dabei bleibt die Vielfalt der Sichtweisen, Konzepte bzw. deren Akzentuierungen deutlich sichtbar. Sie werden "bewusst nicht ‚weggeglättet‘" (452) und bleiben durch den Gesamtaufbau des Buches sowie durch seine Rahmung auch nicht ungebunden nebeneinander stehen. Denn nach Ansicht des Teams der beiden Herausgeberinnen und des Herausgebers ist es an der Zeit, "Wissen zum Thema zusammenzutragen und zu vergleichen, um letztlich umfangreichere Sichtweisen auf die Entstehung mathematischer Kompetenzen und deren Entwicklungsprobleme zu ermöglichen." (ebd.)

Der Band wird durch den einführenden Text "Rechnenlernen im System" (12-26) von Heinrich Bauersfeld sowie von dem zusammenfassenden Versuch einer Zwischenbilanz durch das Herausgeberteam ("Über die Schwierigkeiten mit der Rechenschwäche – eine Zwischenbilanz zum Thema", 444-452) gerahmt. In jedem der insgesamt vier Kapitel gelingt es den unterschiedlichen Fachvertretern, die jeweiligen fachdidaktischen, psychologischen und sonderpädagogischen Perspektiven in ihrer Differenz bzw. in ihren Überschneidungen zu verdeutlichen. Ein kommentierender Text am Schluss jedes Kapitels bietet eine Orientierungs- bzw. Bewertungshilfe und regt die Leser/innen zum vergleichenden Reflektieren bzw. zur Verständigung über die eigene Position an.

Dem Herausgeberteam war es offensichtlich wichtig, Entwicklungsverzögerungen bzw. -störungen vor dem Hintergrund des allgemeinen Entwicklungs- bzw. Lerngeschehens auf dem Weg zu mathematischen Kompetenzen zu betrachten (9). Entsprechend dieser Intention finden in den ersten beiden Kapiteln entwicklungspsychologische Aspekte und Fragen der Lernentwicklung ausführliche Beachtung. Dem Charakter eines Handbuchs entsprechend werden diejenigen Kernthemen, die im Zusammenhang mit Rechenschwierigkeiten gegenwärtig in der Diskussion sind, mehrperspektivisch bearbeitet. Solche zentralen Themen sind:

  • Entwicklungen im Vorschulalter (26-78), kommentiert von Holger Probst und Dorothea Waniek;
  • Entwicklungen im Grundschulalter (80-141), kommentiert von Dagmar Bönig;
  • Entwicklung von Rechenschwächen (144-257), kommentiert von Reimer Kornmann;
  • Diagnostik mathematischer Kompetenzen (260-358), kommentiert von Karl-Joseph Klauer;
  • Förderung beim Erwerb arithmetischen Wissens (360-449), kommentiert von Heinrich Bauerfeld.

Die einzelnen Texte lassen (mehr oder weniger ausgeprägt) erkennen, dass sich Autoren und Herausgeber um eine (öko-)systemische Analyse der Rechenschwierigkeiten von Kindern bemühen. Deutlich wird, dass die Frage nach "der Ursache" (453) für die erschwerte Lern- und Lehrsituation im Lernbereich Mathematik nicht länger die Aufmerksamkeit binden sollte. Die referierten Befunde sowie die zahlreichen Fallbeispiele zeigen eindrucksvoll, dass sich die Schwierigkeiten der Kinder beim Erlernen mathematischer Fertigkeiten ganz unterschiedlich äußern können und nur aus dem Wechselspiel unterschiedlicher Bedingungen heraus verstehbar sind. In Abgrenzung zum Teilleistungskonzept, "um diesen Entwicklungsaspekt hervorzuheben, präferieren die Herausgeber die Kennzeichnung der Problematik als ‚Schwierigkeiten beim Rechnenlernen‘" (453).

Die einzelnen Texte repräsentieren eine große Vielfalt theoretischer Modelle und handlungspraktischer Konzepte. Diese Feststellung betrifft nicht nur den thematisch-konzeptionellen Aspekt, sondern auch die äußere Gestaltung und das Maß der didaktischen Aufbereitung der einzelnen Beiträge. Die Qualität eines Arbeitsbuches entsteht da, wo der Textfluss durch eine Fülle von Reflexionsaufgaben und Arbeitsanregungen unterbrochen wird. In einigen Texten wird diese Art der Aufbereitung jedoch nicht konsequent genutzt; leider verzichten einige Autoren auch auf die Auflistung weiterführender Literatur. Bei einer Neuauflage des Buches sollten die Herausgeber daher überdenken, welches Maß an didaktischer Durchgliederung der einzelnen Kapitel zu einem "aktiv-konstruierenden Durcharbeiten" (10) für ein Handbuch erforderlich und sinnvoll ist. Zu ergänzen bleibt, dass der systematischen Nutzung des Handbuches das sorgfältig angelegte Stichwortverzeichnis durchaus entgegen kommt.

Fazit: Mit dem vorliegenden Band steht gegenwärtig ein einschlägiges Handbuch zur Problematik der "Schwierigkeiten beim Rechnenlernen" zur Verfügung, das sich an modernen theoretischen Konzepten und Handlungsperspektiven orientiert, mehrperspektivisches Denken anregt, empirische Desiderate aufzeigt und den fächerübergreifenden Diskurs befördern wird. Es kann daher den Lehrer/innen sowie den Studierenden im Lehramt aller Schulstufen und Schulformen zur kritisch-reflektierenden Lektüre empfohlen werden.
Ute Geiling (Halle/Saale)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ute Geiling: Rezension von: Fritz, Annemarie / Ricken, Gabi / Schmidt, Siegbert (Hg.): Rechenschwäche, Lernwege, Schwierigkeiten und Hilfen bei Dyskalkulie. Ein Handbuch, Weinheim, Basel, Berlin: Beltz Verlag 2003. In: EWR 2 (2003), Nr. 4 (Veröffentlicht am 01.08.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/40783151.html