Der Anspruch geistig behinderter Menschen auf berufliche Bildung ist in der fachlichen Diskussion schon lange kein Desiderat mehr. Dass die Praxis dieser bildungspolitischen Überzeugung erst allmählich zu folgen beginnt, ist die eine Wahrheit; die andere ist, dass in der Praxis eine Vielzahl modellhafter struktureller und konzeptioneller Innovationen entwickelt worden sind, die es verdienen, als best-practice-Ansätze zusammengefasst und entsprechend praxisnah präsentiert zu werden. Um diese innovativen Wege der Teilhabe am Arbeitsleben geht es in dem Sammelband von Hirsch/Lindmeier. Die Herausgeber haben sich auf die Suche nach Beispielen gemacht; Beispielen, bei denen sich die Chance der Übertragbarkeit mit den Kriterien ‚ausgewiesener Erfolg’, ‚Nachhaltigkeit’ und ‚breite Einsatzmöglichkeiten’ verbindet. Ausdrücklich beziehen die ausgewählten Praxisbeispiele auch Menschen mit schwerer geistiger und mehrfacher Behinderung ein, also einen Personenkreis, dessen Bildungsanspruch oft genug bestritten und auf personale Förderung begrenzt wird. Inhaltlich sollen die ausgewählten Beiträge u.a. zeigen: Die immer noch separate Organisation der beruflichen Bildung muss zugunsten einer inhaltlichen und institutionellen Verzahnung überwunden werden. Lernen kann sich überdies nicht auf eine berufliche Einstiegsbildung beschränken; Lernen muss als lebenslanger Prozess organisiert werden. Das gilt umso mehr als Bildung die Schlüsselressource für eine selbstbestimmte Teilhabe am Arbeitsleben darstellt. Über Optionen für den eigenen Lebensweg zu verfügen, muss auch dann noch möglich sein, wenn das Arbeitsleben zunächst auf unbestimmte Zeit in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) beginnt.
Der Sammelband enthält 14 Einzelbeiträge, die zu fünf Hauptabschnitten zusammengefasst sind. In einer ausführlichen Einführung rekonstruiert Lindmeier zunächst die Entwicklungslinien der beruflichen Bildung geistig behinderter Menschen seit den 1960er Jahren. Sie beginnen in den - rückblickend betrachtet - bescheidenen Konzepten der Anlernwerkstätten und widmen sich heute der Frage, wie auch Menschen mit geistiger Behinderung Zugang zu individuell angepassten, öffentlich aber anerkannten und ausbaufähigen (Teil-)Ausbildungsabschlüssen verschafft werden kann. Es liegt auf der Hand, dass dieser erweiterte Bildungsanspruch Rückwirkungen auf die berufsvorbereitende Abschlussphase der Schule für geistig behinderte Menschen haben muss.
Damit leitet der Einführungsbeitrag zu dem ersten Themenfeld über, in dem es um neue Wege der Vorbereitung auf das Arbeitsleben durch die allgemeinbildende Schule geht. Hier haben seit längerer Zeit Schülerfirmen von sich reden gemacht, wo es darum geht, zentrale Qualifikationen des Arbeitslebens in realitätsnahen Lernarrangements zu üben. Noch deutlicher wird die Koppelung von Schule und Arbeitswelt im Konzept der „Eingliederungswerkstufe“. Sie bricht die insulare, de facto auf eine WfbM-Tätigkeit zulaufende Berufsvorbereitung der herkömmlichen Werkstufe zumindest für einen Teil der Schüler auf. Die Lösung heißt hier: Kooperation und Vernetzung mit Partnerbetrieben des allgemeinen Arbeitsmarktes. Indem der Lernort Schule sich gegenüber seiner Umwelt öffnet, schafft er Lern-, Erfahrungs- und Wachstumschancen für seine Schüler, die sie auf ihren abgeschotteten Sonderwegen so nicht vorfinden können. Die Erfolge sprechen für sich, deutlich wird aber auch, wie vielfältig die Auswirkungen solcher strategischer Allianzen auf die Schule selbst sind.
Der zweite Themenblock widmet sich mit zwei Beiträgen berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen. Sie kommen zum Zuge, wenn nach Verlassen der Schule zu erwarten ist, dass der Jugendliche für eine spätere Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt grundsätzlich in Betracht kommt. Es überrascht, dass die Herausgeber hier einen Beitrag zu „Förderlehrgängen" und deren Integrationswirkungen eingestellt haben. Förderlehrgänge sind ein alter Hut, seitdem die Bundesagentur für Arbeit die Berufsvorbereitung benachteiligter und behinderter Jugendlicher im Herbst 2004 auf ihr „Neues Fachkonzept" umgestellt hat. Beweiskräftig führt der Beitrag den Leser aber zu dem Schluss, das „neu" und „best practise" nicht koinzidieren müssen, wenn mit dem Neuen das empirisch Altbewährte aus reiner Ökonomik zurückgenommen wird. – Auch der zweite Beitrag ist wohl der Entschiedenheit der Herausgeber zuzurechnen, dass das Innovative eines Ansatzes nicht am Datum, sondern an seinem Inhalt und Konzept festzumachen ist. So sehr auch das „Lüneburger Arbeitsvorbereitungsjahr" für sich spricht, es existiert schon längst nicht mehr (worauf der Beitrag allerdings hinweist). Hier hätte es dem Buch gut angestanden, neben dem Rückblick auf (leider) Vergangenes auch nach „lebenden" Beispielen guter Berufsvorbereitung Ausschau zu halten.
Entsprechend den Phasen der beruflichen Integration wendet sich der dritte Themenblock sodann der beruflichen Erstbildung zu, die innerhalb der WfbM oder in Form „ambulanter Berufsbildung“ unter ihrem Dach (so z.B. in Hamburg) durchgeführt werden kann. Hirsch beschreibt hier, wie berufliche Bildung durch Binnendifferenzierung ganz auf die individuell verschiedenen Lernpotentiale von Werkstattbeschäftigten zugeschnitten werden kann. Abgeleitet aus Ausbildungsrahmenplänen (anerkannter) Ausbildungsberufe werden den WfbM-Beschäftigten in Wismar heute vier differentielle Anforderungsniveaus („Ausbildungsstufen") angeboten, die bis auf das Niveau der Helfer/Werker-Ausbildungen nach dem Berufsbildungsgesetz hochreichen. Mit der Binnendifferenzierung bekommt Werkstattbildung klare konzeptionelle Konturen und Transparenz. Damit öffnet sie sich zugleich und leichter dem fachlichen Qualitätsdiskurs. Gleichzeitig profiliert sich die WfbM als Teil des Bildungssystems, der ebenso professionell zu operieren vermag wie andere Sektoren. – Um die Frage der „Qualifizierung der Qualifizierung" dreht sich auch der Beitrag von Grampp. Er stellt konzeptionelle Weiterentwicklungen vor, die die berufliche Bildung auf der Grundlage eigenständiger Berufe normalisieren sollen. Auch hier das Plädoyer, sich bei der Entwicklung dieser „autonomen Berufe" an allgemeinen Berufsausbildungen zu orientieren, und die herausdestillierten Berufsbilder auch öffentlich anerkennen zu lassen. An zwei Beispielen von WfBM zeigt der Autor, wie das von ihm entwickelte Arbeitspädagogische Bildungssystem (ABS) mit seiner differenzierten Modulstruktur den Weg zu einer normalisierten Berufsbildung der Werkstätten weisen kann. – Wenn auch das „Ambulante Arbeitstraining" in Hamburg in dem Buch zu Wort kommt, so nicht deshalb, weil es wirklich neu wäre, sondern weil es gemessen an den Zögerlichkeiten der Praxis immer noch innovativ ist. Vor dem Hintergrund einer 10jährigen Erfahrungszeit mahnt der Autor des Beitrags (Ciolek) an, ambulantes Arbeitstraining nunmehr weiter zu entwickeln. Gemeint sind die methodisch-didaktischen und die praktisch-betrieblichen Handlungskompetenzen der Fachkräfte. Was diese Professionalisierung konzeptionell beinhalten würde und welchen Nutzen sie für den nachhaltigen Eingliederungserfolg erwarten lässt, könnte der Beitrag freilich deutlicher herausarbeiten. – „Ambulantes Arbeitstraining" hat aber längst die Hamburger Stadtgrenzen überschritten, wie der vierte Beitrag des Themenblocks Werkstätten zeigt. Parallel zur „ambulanten Berufsbildung" arbeitet man in Mainz auch an einem systematischen Übergangsmanagement, dass neue Integrationschancen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erschließen soll. Übergangsmanagement verweist auf ein „modulares Baukastensystem", das den Gesamtprozess des Übergangs in Teilschritte, Maßnahmepakete und Einzelmaßnahmen gliedert. Während diese konzeptionellen Elemente sicher zukunftsweisend sind, wird man darüber streiten können, ob die Werkstätten ihr Bildungsprogramm zukünftig anreichern sollten, um jungen psychisch und lernbehinderten Jugendlichen eine berufliche Ausbildung i.S. anerkannter Ausbildungsberufe anzubieten. Vor dem Hintergrund der Normalisierung beruflicher Bildung und ihrer Wirksamkeit als Medium der Arbeits- und Sozialintegration sollten Werkstätten sich primär als nach außen wirkende Kompetenzzentren sehen und nur sekundär als Lernorte. Immerhin zeigt aber das Mainzer Beispiel, dass auch im Werkstattbereich an tragfähigen neuen Ideen gearbeitet wird, insbesondere in Richtung einer Qualifizierung für den allgemeinen Arbeitsmarkt.
Auch schwer geistig behinderte und mehrfach behinderte Menschen können an beruflicher Bildung partizipieren und von ihr profitieren. Das zeigen die Beiträge im vierten Abschnitt des Buches. Hirsch reklamiert nicht nur das Recht dieses Personenkreises auf berufliche Bildung, sondern zeigt am Beispiel der Werkstatt Schwäbisch Gmünd, was organisatorisch und methodisch-didaktisch getan werden kann und zukünftig getan werden muss, damit auch Menschen, die kontinuierlich Hilfe und Begleitung bei ihren alltäglichen Lebensvollzügen benötigen, am Arbeitsleben in der Werkstatt teilnehmen können. Einen ähnlichen Anspruch verfolgt eine andere (anthroposophisch ausgerichtete) Einrichtung, deren Konzept Kistner mit „Arbeit und Bewegung“ beschreibt. Herausgearbeitet werden die Bedeutung von Arbeit auch für schwerstbehinderte Menschen, die schwierige Suche nach einem individuell gestalteten Arbeitsplatz und die „Prinzipien am Arbeitsplatz“, zu denen u.a. das Prinzip der individuellen Arbeitsbewegung gehört.
Das letzte Themenfeld trägt die Überschrift „Lebenslanges Lernen in der beruflichen Fort- und Weiterbildung". Der Aspekt „Lebenslanges Lernen" wird zwar nicht ausdrücklich aufgegriffen, kommt aber durch die dargestellten Projektberichte ganz praktisch zum Ausdruck. Einer der gewiss spannendsten Beiträge ist der von Röhm über die Fortbildungsqualifizierung in Werkstätten. Röhm schildert am Beispiel der Sindelfinger Werkstätten, welche Entwicklungspotentiale Bildung freisetzt, wenn sie als zentrale Ressource begriffen wird, von der das Unternehmen Werkstatt als Ganzes profitiert. Dazu reicht es nicht, Fortbildung zur „Chefsache" zu erklären; als Schlüsselprozess muss sie sich in der Unternehmensorganisation wiederfinden. In Sindelfingen ist dies durch die Bildung eines „Zentralen Fortbildungsreferates" geschehen, das sämtliche Bildungs- und Fortbildungsprozesse in den acht Betriebsstätten konzipiert und steuert. Dargestellt werden das didaktisch-methodische Konzept, der Prozess und seine Wirksamkeit, aber auch der Fortbildungsbedarf der Fachkräfte, ohne den „Lebenslanges Lernen" nicht funktionieren kann. Erneut zeigt sich, wie eigene Ressourcen durch die enge Kooperation mit externen Partnern (hier: dem Berufsschulbereich) gestärkt werden können.
Welche neuen Berufsperspektiven und individuellen Entwicklungsmöglichkeiten von beruflicher Qualifizierung ausgehen können, belegen die beiden Aufsätze am Schluss des Bandes. Schüller beschreibt Konzept, Verlauf und Ergebnisse eines Projektes, in dem geistig behinderte Menschen zur Helferin/zum Helfer im Altenheim befähigt werden konnten. Nicht nur die arbeitspraktische Versiertheit der Teilnehmer zeigte erhebliche Lernzuwächse; auch die Schlüsselkompetenzen der Teilnehmer/innen erfuhren eine bemerkenswerte Entwicklung und Stabilisierung. Nicht selten entstanden aus den methodisch-didaktisch geplanten und kontinuierlich begleiteten Qualifikationspraktika sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze bzw. dauerhafte WfbM-Außenarbeitsplätze in den mitwirkenden Heimeinrichtungen. In dem Beitrag von Keller/Bender geht es anders als bei Schüller nicht um eine Qualifizierung auf Helfer-Niveau, sondern um die Vollausbildung geistig beeinträchtigter Menschen zum Verkäufer/zur Verkäuferin im Lebensmittel-Einzelhandel. Träger der dualen Ausbildung (Betrieb/Berufsschule) ist eine Integrationsfirma, die unter dem Namen „CAP“ mehrere Supermärkte betreibt. Welche Menschen von dieser Vollausbildung im Einzelnen profitieren, bleibt leider offen. Dennoch zeigt das Projekt, dass in den Mitarbeiter/innen von Werkstätten erhebliche Entwicklungspotentiale schlummern können, die in der Praxis erst punktuell erschlossen werden.
Der Sammelband bietet insgesamt einen hervorragenden Überblick über neuere Ansätze der beruflichen Förderung von Menschen mit geistiger Behinderung. Seiner Zielsetzung entsprechend stehen modellhafte Praxisbeispiele im Vordergrund, vielfach dargestellt von Autor/innen, die an der Projektentwicklung unmittelbar beteiligt waren. Eigenständige wissenschaftlich-theoretische Beiträge zur Berufs- und Arbeitspädagogik enthält der Band deshalb nicht. In allen dargestellten Projekten läuft die Vorstellung mit, auch für geistig behinderte Menschen berufliche Bildung zum Schlüssel für ‚mehr Integration’ zu nutzen. Mit der Fülle seiner Informationen spricht der Sammelband ein breites Publikum an: Fachkräfte, Studierende, Lehrer/innen, aber auch Wissenschaftler/innen, denen an der Weiterentwicklung der Praxis gelegen ist. Die Texte sind gut verständlich und mit vielen Abbildungen unterlegt. Dass der vorinformierte Leser an manchen Stellen gerne detailliertere Informationen für wünschenswert halten wird, ist zu vermuten. Dies ist allerdings kein Mangel des Buches, sondern der Preis eines Sammelbandes, der eine Übersicht geben will und damit Anregung zur Fortsetzung bildungspolitischer Konzeptentwicklung.
EWR 6 (2007), Nr. 3 (Mai/Juni 2007)
Berufliche Bildung von Menschen mit geistiger Behinderung
Neue Wege der Teilhabe am Arbeitsleben
(Reihe Sonderpädagogik)
(Reihe Sonderpädagogik)
Weinheim/Basel: Beltz 2006
(271 S.; ISBN 3-407-57214-X; 26,90 EUR)
Rudolf Bieker (Mönchengladbach)
Zur Zitierweise der Rezension:
Rudolf Bieker: Rezension von: Hirsch, Stephan / Lindmeier, Christian (Hg.): Berufliche Bildung von Menschen mit geistiger Behinderung, Neue Wege der Teilhabe am Arbeitsleben (Reihe Sonderpädagogik). Weinheim/Basel: Beltz 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 3 (Veröffentlicht am 12.06.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/40757214.html
Rudolf Bieker: Rezension von: Hirsch, Stephan / Lindmeier, Christian (Hg.): Berufliche Bildung von Menschen mit geistiger Behinderung, Neue Wege der Teilhabe am Arbeitsleben (Reihe Sonderpädagogik). Weinheim/Basel: Beltz 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 3 (Veröffentlicht am 12.06.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/40757214.html