Der Unterricht und die Förderung heterogener Lerngruppen ist an deutschsprachigen Sekundarschulen noch immer eher die Ausnahme als die Regel. Am Vorherrschen frontaler Unterrichtssettings hat sich hier kaum etwas verändert. Daher verdienen die Bemühungen um eine Individualisierung und Binnendifferenzierung der Lernangebote in dieser Schulstufe besondere Aufmerksamkeit. Genau solche individualisierten und differenzierten Lernangebote sind typisch für den gemeinsamen Unterricht von Schülerinnen und Schüler mit und ohne Behinderungen in der allgemeinen Schule. Die integrationspädagogische Praxis der vergangenen zwei Jahrzehnte hat in sowohl in Form von Schulversuchen als mittlerweile auch in Form von schulgesetzlich verankerten Regelangeboten ein beachtliche Vielfalt gelungener Beispiele hervorgebracht. Diese sind jedoch der Fachöffentlichkeit noch immer nur schwer zugänglich, da sie als Zwischen- und Abschlussberichte wissenschaftlicher Begleitforschung häufig nur als "graue Literatur" erschienen sind. Einen Überblick kann man sich u.a. bei dem von Ulf Preuss-Lausitz/Rainer Maikowski herausgegebenen Band "Integrationspädagogik in der Sekundarstufe. Gemeinsame Erziehung behinderter und nichtbehinderter Jugendlicher", Beltz 1998, verschaffen.
Hier setzt auch das zu besprechende Buch von Feyerer und Prammer an. Es referiert Erfahrungen aus fast einem Jahrzehnt zieldifferenter Unterrichtsarbeit in Integrationsklassen, aus der integrationspädagogisch orientierten Lehrerbildung sowie Befunde aus der wissenschaftlichen Begleitforschung. Entstanden ist ein sowohl theoriegeleitetes wie auch praxisorientiertes Handbuch des integrativen Unterrichts in der Sekundarstufe I, dessen Beispiele und Vorschläge aus Österreich anschlussfähig an die Unterrichtspraxis in Deutschland sind.
Das Eingangskapitel systematisiert historische und aktuelle Positionen aus Philosophie und Pädagogik, die sich zur Legitimation zieldifferenten, d.h. integrativen Unterrichts heranziehen lassen. Diese legitimatorische Absicherung integrativen Unterrichts ist besonders im Rahmen der integrationspädagogischen Lehrerbildung bedeutsam, weil das professionelle Interesse an integrativem Unterricht nicht primär auf veränderten Unterrichtsmethoden und reformierten Lehrinhalten basiert, sondern ein verändertes pädagogisches Grundverständnis von Schule, Leistung und Unterricht zur Voraussetzung hat. Es setzt die Erkenntnis voraus, dass die Heranbildung selbstverantwortlicher und emanzipierter Bürger den Ansprüchen einer demokratischen Gesellschaft nur dann genügen kann, wenn weder Menschen mit Behinderungen noch andere ausgeschlossen werden. Daher kann, wie die Autoren formulieren, "Integration ohne grundlegende Hinterfragung persönlicher Werte und Einstellungen nicht funktionieren" (23).
Hieran anschließend gehen die Autoren der Frage nach, welches Modell schulischer Integration sich in der Sekundarstufe I besonders bewährt hat. Zur Auswahl stehen hier sowohl kooperative Arbeitsformen, in denen Sonderschulen oder Sonderschulklassen kooperieren, als auch integrative Arbeitsformen, die als Integrationsklassen mit behinderten und nicht behinderten Schülern an allgemeinen Schulen bestehen. Das Votum der Autoren bezieht sich eindeutig auf die Integrationsklassen, da sie Kooperationsmodelle eher als Übergangsformen zu weiter reichenden integrativen Modellen auffassen. In diesem Zusammenhang werden ebenfalls Rahmenbedingungen und Organisationsformen des gemeinsamen Unterrichts in der Sekundarstufe I beschrieben. Den Stand der wissenschaftlichen Begleitforschung voraussetzend verzichten die Autoren an dieser Stelle auf die Diskussion der Frage, ob zieldifferente Integration in der Sekundarstufe I möglich ist und begnügen sich zu Recht mit der Auflistung der erforderlichen schulorganisatorischen Rahmenbedingungen.
Breiten Raum nimmt hingegen die Diskussion der pädagogischen Umsetzung des individualisierten, differenzierten und offenen Unterrichts ein. Hier werden insbesondere solche Formen der Wochenplan- Projekt- und Freiarbeit vorgestellt, die in der Grundschule schon seit längerem zunehmend Verwendung finden, in der Sekundarstufe jedoch noch immer eher zögerlich genutzt werden. Zudem thematisieren die Autoren ein besonderes Problem des integrativen Unterrichts in der Sekundarstufe I, indem sie die Möglichkeiten und Schwierigkeiten der differenzierten Förderung im Fachunterricht zur Sprache bringen. Neben den hier enthaltenen Überlegungen wünschte sich der Leser jedoch konkretere, auf einzelne Unterrichtsfächer bezogene Beispiele.
Im Zusammenhang mit veränderten Unterrichtssituationen diskutieren die Autoren die Notwendigkeit einer alternativen Leistungsbeurteilung, die sich weniger auf relative Ziffernnoten und vielmehr auf individuelle Entwicklungsberichte stützen muss, um dem Anspruch einer individualisierten pädagogischen Förderung entsprechen zu können. Diese Argumentation dürfte nicht nur für Leserinnen und Leser, für die die Integration in der Sekundarstufe I ein neues Thema ist, von Interesse sein, denn bis zur Durchsetzung alternativer Bewertungsformen in dieser Schulstufe ist es noch ein besonders weiter Weg. Weil die Ursache hierfür auch weiterhin in Vorbehalten gegenüber dem gemeinsamen Unterricht zu sehen sind, referieren die Autoren empirische Befunde zu den Auswirkungen dieses Unterrichts auf die Entwicklung von Schülern mit und ohne Behinderungen, um verbreitete Zweifel und Einwände auszuräumen.
Die aktuelle Situation und das zentrale Anliegen gemeinsamer Erziehung in der Sekundarstufe fassen die Autoren im letzten Kapitel prägnant wie folgt zusammen: "Soll Integration auch in der Sekundarstufe wirksam verankert werden, dann ist ein Paradigmenwechsel von einer nach Leistung selektierenden Schule in einer konkurrenzorientierten Leistungsgesellschaft zu einer kindgerechten Schule für alle in einer solidarischen Gemeinschaft notwendig. Die Integration ist damit auch als dynamischer Prozess zu sehen, der den Auftrag zur Schulentwicklung inkludiert. Die Ziele der Inklusion sind aber von der Alltagsrealität der Sekundarstufe noch weit entfernt."
Ein solcher Paradigmenwechsel kann durch nichts besser befördert werden als durch eine beharrlich auf Veränderung drängende und sie geduldig durch zukunftsweisende Beispiele bewirkende Unterrichtspraxis. Dem dient dieses Buch. Und es bietet besonders Lehrerinnen und Lehrern auch sehr konkrete Hilfe, indem alle Beispiele einer solchen Unterrichtspraxis (wie z.B. Wochenplan und Freiarbeit, das Arbeiten am gemeinsamen Gegenstand im Projektunterricht, das Schreiben von Entwicklungsberichten, das Erstellen von Förderplänen) auch auf einer CD-ROM zusammengefasst sind, die bei den Autoren bestellt werden kann.
EWR 2 (2003), Nr. 5 (September/Oktober 2003)
Gemeinsamer Unterricht in der Sekundarstufe I
Anregungen fĂĽr eine integrative Praxis
Weinheim/Basel: Beltz 2003
(200 Seiten; ISBN 3-407-57208-5; 15,90 EUR)
Rainer Maikowski (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Rainer Maikowski: Rezension von: Feyerer, Ewald / Prammer, Wilfried: Gemeinsamer Unterricht in der Sekundarstufe I, Anregungen fĂĽr eine integrative Praxis, Weinheim/Basel: Beltz 2003. In: EWR 2 (2003), Nr. 5 (Veröffentlicht am 01.10.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/40757208.html
Rainer Maikowski: Rezension von: Feyerer, Ewald / Prammer, Wilfried: Gemeinsamer Unterricht in der Sekundarstufe I, Anregungen fĂĽr eine integrative Praxis, Weinheim/Basel: Beltz 2003. In: EWR 2 (2003), Nr. 5 (Veröffentlicht am 01.10.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/40757208.html