Eine Zusammenführung zentraler sonderpädagogischer Fragestellungen und Probleme – nicht nur für Studierende der Sonderpädagogik, sondern auch für Wissenschaftler, in der Praxis Tätige und Interessierte kann eine hilfreiche Unterstützung beim Ein- oder Überblick in für sie relevante Themenfelder sein. Für Herausgeber und Autoren jedoch stellt dieser Anspruch eine große Herausforderung dar - zumal in einer dynamischen und thematisch breit angelegten, zuweilen wenig systematisch strukturierten Disziplin wie der Sonderpädagogik. Das Anliegen von Annette Leonhardt und Franz B. Wember, den "aktuellen Wissensstand zu bündeln, grundlegende Orientierungen im Bereich der pädagogischen Rehabilitation darzustellen und offene Fragen anzusprechen", findet in dem hier zu besprechenden Band seine Form in insgesamt 36 Beiträgen namhafter Sonder- und Heilpädagogen, Erziehungswissenschaftler und Psychologen.
Der erste Themenschwerpunkt bezieht sich auf historische und systematische Aspekte der der Sonderpädagogik, die die Disziplin bis heute prägen und für ein angemessenes Verständnis des Faches von grundlegender Bedeutung sind. Hierzu gehören neben der Darstellung der historischen Konstituierung der Sonderpädagogik, ihres (Selbst)-Verständnisses und der Entwicklungsgeschichte ihrer zentralen Begriffe auch die Erörterung wissenschaftstheoretischer und empirischer Grundlagen des Faches. Aktuelle Diskussionen im Bereich der Bioethik und der Genforschung einerseits, die insbesondere schwerstgeschädigte und mehrfach behinderte Menschen betreffen und zunehmende Forderungen nach Integration und Normalisierung andererseits zeigen das Spannungsfeld auf, in dem sich Sonderpädagogik zu bewähren hat.
Nicht nur das Fach insgesamt, sondern auch seine Teildisziplinen haben in den vergangenen Jahren, insbesondere in der Auseinandersetzung um die angemessene Förderung von Kindern mit Behinderungen und Beeinträchtigungen, einen grundlegenden Wandel erfahren. Dieser schlägt sich besonders nachhaltig im Bereich der sonderpädagogischen Diagnostik nieder. Diesem Sachverhalt werden die Herausgeber durch einen eigenen Themenschwerpunkt "Probleme und Methoden der Diagnostik" gerecht. Hier wird dem Leser eine fundierte Einführung in diagnostische Gütekriterien sowie in Grundlagen der psychologischen Testtheorie und schließlich eine kritische Einordnung der einzelner Methoden und Verfahren in den Bereich der sonderpädagogisch- psychologischen Diagnostik geboten. Außerdem werden in diesem Kapitel – differenziert nach den Bereichen Lernen, Erleben und Verhalten, Schriftsprache und Mathematik - spezifische diagnostische Vorgehensweisen und Verfahren zum Teil sehr anschaulich beschrieben. Der dieses Kapitel abschließende Beitrag beschäftigt sich mit dem von der Sonderpädagogik bisher vernachlässigten Thema der "Leistungsbeurteilung und Zensurengebung bei besonderem pädagogischem Förderbedarf."
Die historisch entstandene Ausdifferenzierung der sonderpädagogischen Fachrichtungen bildet die Systematik für den Themenkomplex "Behinderungen als pädagogisches Problem". In jeweils einem Abschnitt werden zunächst die Symptomatik, Ätiologie und die Diagnostik sowie die Möglichkeiten der pädagogischen Intervention und Förderung bei Beeinträchtigung der auditiven oder visuellen Wahrnehmung, der sprachlichen Kommunikation, des Lernens, des Erlebens und Verhaltens sowie der geistigen und körperlichen Entwicklung erörtert. Mit diesen Beiträgen gelingt es den Herausgebern, das in der sonderpädagogischen Fachliteratur häufig unausgewogene Verhältnis zwischen Diagnostik und pädagogischen Konsequenzen zu korrigieren; den ausführlichen diagnostischen Überlegungen folgt hier eine differenzierte Darstellung pädagogischer Handlungsmöglichkeiten, die nach den verschiedenen Beeinträchtigungsformen getrennt vorgestellt werden. Die Besprechung je einer Beeinträchtigungsform durch verschiedene Autoren führt - trotz unterschiedlicher inhaltlicher Ausrichtung der Beiträge - mitunter zu Wiederholungen, aber auch die unterschiedliche, theoriegeleitete Verwendung verschiedener Begriffen (z.B. Lernen) verwirrt möglicherweise Leser ohne differenzierte sonderpädagogische Vorkenntnisse. Diese, zuweilen weniger systematische, Darstellung wurde aber von den Herausgebern des Handbuches zugunsten der Darstellung der Vielfalt der theoretischen Grundpositionen durchaus in Kauf genommen. Die sich in jedem Kapitel wiederholende Struktur des Beitrags ermöglicht es dem Leser trotzdem, zu jeder Behinderungsform übersichtliche Informationen zu erhalten. Allerdings besteht bei dieser Form der Systematisierung die Gefahr, dass Überlappungen, die sich beispielsweise zwischen Beeinträchtigungen des Lernen sowie des Verhaltens und Erlebens ergeben, nicht ausreichend Berücksichtigung finden.
Im abschließenden Kapitel "Pädagogisches Handeln bei Behinderungen" werden ausgewählte Aspekte nicht nach den einzelnen Behinderungsarten differenziert, sondern unabhängig von der Art der Beeinträchtigung diskutiert. Zunächst werden in jeweils einem eigenen Abschnitt die Möglichkeiten der institutionellen Förderung behinderungsübergreifend in den Bereichen Frühförderung, Vorschulerziehung sowie in Einrichtungen der Allgemeinen Schule und der Sonderschule beschrieben. Auf der Ebene des Unterrichts werden die Ansätze und Methoden des offenen bzw. des strukturierten Unterrichts dargestellt und damit gemachte Erfahrungen durch empirische Forschungsergebnisse veranschaulicht. Schließlich gelangt auch die in der Sonderpädagogik bislang vernachlässigte Gruppe der Erwachsenen mit Behinderungen in den Blick, indem Probleme "behinderter Lebenslagen" über die verschiedenen Lebensalter (Jugend, Erwachsenenalter, ältere Menschen) hinweg thematisiert werden.
Mit dem vorliegenden Handbuch ist somit eine umfassende Übersicht über zentrale Probleme und Fragestellungen der Sonderpädagogik in ihrer professionellen wie in ihrer disziplinären Variante erschienen. Durch Auswahl der Autoren und der Beiträge ist es den Herausgebern gelungen die Vielfalt und Komplexität der Disziplin angemessen darzustellen. Der Balanceakt zwischen einer Übersicht und der notwendigen thematischen Beschränkung ist fast immer gelungen. Durch die zum Teil sehr umfangreichen, ergänzenden Literaturhinweisen am Ende jedes Beitrages wird interessierten Lesern und Leserinnen der vertiefte Zugang zu den einzelnen Problemen erffnet. Der Versuch der Herausgeber, Informationen über den Stand der Fachwissenschaften, Anregungen für Praxis der Förderung in Schule, Familie, Berufsausbildung und sozialer Integration zugleich zu vermitteln, kann als gelungen bezeichnet werden. Besonders hervorzuheben sind die zahlreichen Beiträge, die Verknüpfungen zu anderen Disziplinen wie Psychologie, Soziologie, Medizin, Geschichte und Ethik herstellen und damit den interdisziplinären Charakter der Sonderpädagogik kenntlich werden lassen. Leider vermisst der Leser in diesem umfangreichen und differenziert gegliederten Band ein Stichwortverzeichnis sowie ein Personenregister. Dies erschwert eine schnelle und systematische Handhabung des Buches.
EWR 2 (2003), Nr. 5 (September/Oktober 2003)
Grundfragen der Sonderpädagogik
Bildung – Erziehung – Behinderung
Weinheim/Basel: Beltz 2003
(892 Seiten; ISBN 3-407-57204-2; 78,00 EUR)
Andrea Reibert (Erfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Andrea Reibert: Rezension von: Leonhardt, Annette / Wember, Franz B. (Hg.): Grundfragen der Sonderpädagogik, Bildung – Erziehung – Behinderung, Weinheim/Basel: Beltz 2003. In: EWR 2 (2003), Nr. 5 (Veröffentlicht am 01.10.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/40757204.html
Andrea Reibert: Rezension von: Leonhardt, Annette / Wember, Franz B. (Hg.): Grundfragen der Sonderpädagogik, Bildung – Erziehung – Behinderung, Weinheim/Basel: Beltz 2003. In: EWR 2 (2003), Nr. 5 (Veröffentlicht am 01.10.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/40757204.html