Der Übergang zum 21. Jahrhundert lädt zum Rückblick ein. Was bleibt vom "sozialpädagogischen Jahrhundert?" C. Wolfgang Müller hat selbst intensiv an der Ausgestaltung der Sozialen Arbeit im 20. Jahrhundert mitgewirkt und ist ein ausgewiesener Kenner der historischen Forschung in der Disziplin. Schon dieser Kontext dürfte den Leser neugierig machen, wie Müller die "Hauptentwicklungslinien" der Sozialen Arbeit zeichnet. Das Buch ist entsprechend eine Erzählung geworden, in der persönliches Erleben der Geschichte und die theoretische Aufarbeitung historischer Ereignisse und Entwicklungen ineinander übergehen. Wer Müllers Schriften zur Geschichte der Sozialen Arbeit kennt, wird nicht überrascht sein, dass das Jugendamt und die Entwicklung der Methoden sowie des Berufes im Mittelpunkt der Betrachtungen steht.
Das 20. Jahrhundert beginnt in einer für die Soziale Arbeit nachdrücklich wirkenden Aufbruchstimmung. Es beginnt mit dem Vorhaben, ein Jahrhundert des Kindes zu werden. Für Müller sind die Jugendbewegung und die soziale Frage die generativen Kerne der Sozialen Arbeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Erst durch die Jugendbewegung und die soziale Frage erfahren die Leitkategorien der Sozialen Arbeit "Helfen und Erziehen" die für dieses Jahrhundert charakteristische Profilierung. Dabei kommt es Müller nicht darauf an, den Forschungsstand im Detail zu skizzieren, sondern es geht ihm darum, die Zeit plastisch zu verdeutlichen und kritisch zu kommentieren. Gemäss dieser Erzähllogik führt uns Müller durch das Jahrhundert. Die Weimarer Jahre erscheinen als Zeit der Institutionalisierung und Kämpfe um die soziale Ausgestaltung und Reform der sozialen Hilfe- und außerschulischen Erziehungseinrichtungen, der Nationalsozialismus wird als "Schritt in den Abgrund" dargestellt und die Nachkriegsjahre münden letztlich in einer Neuorientierung Sozialer Arbeit durch Methoden und Gesetze.
Müllers Erzählung sortiert dabei auch "die stürmischen 70er Jahre" in die Geschichte ein und lässt sie nicht zum Scheitelpunkt der Sozialen Arbeit im 20. Jahrhundert werden. Denn Müllers Ausgangspunkt ist in erster Linie die Entwicklung der praktischen Sozialen Arbeit vor Ort. Von diesem Ausgangspunkt bemisst er das Auftreten neuer Entwicklungen, wie z.B. die "Pflege der eigenen Person und der Selbsthilfe" und den "Auftritt auf der Bühne des Marktes". So führt Müller durch sein sozialpädagogisches Jahrhundert, in dem die selbstbewussten Erziehungsbewegungen und sozialen Hilfeformen ihren Weg in und durch die politischen Extreme finden.
Die "Tendenzen und Perspektiven", die in seinen Augen das 20. Jahrhundert zurücklässt, kennzeichnen darum auch noch einmal die Soziale Arbeit als einen entgrenzten Beruf, der ohne große Aufregung in die Zukunft blicken kann. Denn die Soziale Arbeit kann, so hat der Leser oder die Leserin spätestens jetzt gelernt, auf einen breiten Erfahrungsschatz und umfassendes Wissen aufbauen. Es wäre zu begrüßen, wenn in den nächsten Jahren noch einige Protagonisten und Protagonistinnen der Sozialen Arbeit des 20. Jahrhundert zurückblicken würden und wie Müller ein Profil der Sozialen Arbeit herausarbeiten.
EWR 1 (2002), Nr. 1 (Januar bis März 2002)
Helfen und Erziehen
Soziale Arbeit im 20. Jahrhundert
Weinheim und Basel: Beltz Verlag 2001
(268 Seiten; ISBN 3-407-55842-2; 19,90 EUR)
Wolfgang Schröer (Dresden)
Zur Zitierweise der Rezension:
Wolfgang Schröer: Rezension von: MĂĽller, C. Wolfgang: Helfen und Erziehen, Soziale Arbeit im 20. Jahrhundert, Weinheim und Basel: Beltz Verlag 2001. In: EWR 1 (2002), Nr. 1 (Veröffentlicht am 01.01.2002), URL: http://klinkhardt.de/ewr/40755842.html
Wolfgang Schröer: Rezension von: MĂĽller, C. Wolfgang: Helfen und Erziehen, Soziale Arbeit im 20. Jahrhundert, Weinheim und Basel: Beltz Verlag 2001. In: EWR 1 (2002), Nr. 1 (Veröffentlicht am 01.01.2002), URL: http://klinkhardt.de/ewr/40755842.html