EWR 4 (2005), Nr. 1 (Januar/Februar 2005)

Sabine Gruehn / Gerhard Kluchert / Thomas Koinzer (Hrsg.)
Was Schule macht
Schule, Unterricht und Werteerziehung: theoretisch, historisch, empirisch
Weinheim/Basel: Beltz 2004
(273 Seiten; ISBN 3-407-32055-8; 34,90 )
Was Schule macht Der vorliegende Band ist eine Festschrift zum 60. Geburtstag von Achim Leschinsky. Er versteht sich als ein Beitrag zur Standortbestimmung von Schule und Unterricht aus historischer, theoretischer und empirischer Perspektive. Einige wenige Beiträge befassen sich zudem mit Anschlussbereichen der Schule, mit dem vorschulischen wie auch dem der Hochschule, und der Erziehungswissenschaft. Die 16 Aufsätze des Bandes wurden von zum Teil namhaften Erziehungswissenschaftlern und Bildungsforschern erstellt und in drei Kapitel mit schultheoretischen und schulgeschichtlichen Aufsätzen (erstes Kapitel), Artikel zur Schul- und Unterrichtsforschung (zweites Kapitel) sowie Beiträge zur schulischen Werteerziehung (drittes Kapitel) differenziert. Einleitend nehmen die Herausgeber eine hilfreiche inhaltliche und forschungsmethodologische Einordnung der Buchbeiträge vor und würdigen außerdem die wissenschaftlichen Arbeiten von Achim Leschinsky.

Das erste Kapitel "Schultheorie und Schulgeschichte" vereinigt fünf Beiträge, die sich mehrheitlich mit schultheoretischen Gegenständen befassen. Allen gemein ist, dass sie aktuellen Fragestellungen unter Berücksichtigung ihrer historischen Dimension nachgehen. Heinz-Elmar Tenorth befasst sich zunächst mit der Schulpflicht in Deutschland. Er setzt sich dazu kritisch mit Ulrich Oevermanns professionstheoretischen Überlegungen und dessen Kritik an der allgemeinen Schulpflicht auseinander. Dazu geht Tenorth in einem ersten Schritt historischer Entwicklung, Form und Legitimation von Schulpflicht nach und konfrontiert in einem zweiten Schritt Oevermanns Argumentation zur Funktion des Schulwesens und zu den Gewichtungen professioneller Aufgaben mit einer Reihe kritischer Einwürfe und Rückfragen. Einen zentralen Ansatzpunkt dabei bildet die von Oevermann der Schule unterstellte therapeutische Funktion, die er als Grund für das Professionsdefizit der pädagogischen Praxis und Wurzel seiner Kritik an der Schulpflicht sieht.

Gerhard Kluchert setzt sich in seinem Beitrag mit dem spannungsvollen Gegenüber von Schultheorie und Schulgeschichte auseinander. Er würdigt Achim Leschinskys frühere bildungshistorische Untersuchungen als beispielhaft für die Thematisierung dieses Verhältnisses. In seinen Betrachtungen geht Kluchert exemplarisch der Frage nach dem Nutzen schulgeschichtlicher Forschungen für den schultheoretischen Erkenntnisgewinn nach; auch in der Umkehrrichtung belegt er an Beispielen (Herausbildung eines modernen Schulsystems im 19. Jahrhundert; Schule in der Diktatur; Schule in der Sowjetischen Besatzungszone und Schule in der DDR) die Verwendung schultheoretischer Modelle im Rahmen solcher schulhistorischer Forschungen. Er gelangt dabei zu dem Schluss, dass Schultheorie und Schulgeschichte wohl gerade "in ihrer Differenz füreinander fruchtbar sind" (45) und eine spannungsfreie Verbindung in einem Modell "Schulgeschichtstheorie" eher unrealistisch sei.

Die Schule als Ort politischer Bildung und Demokratieerziehung thematisiert Thomas Koinzer. Dazu kennzeichnet er zunächst Marksteine politischer Bildung in der Schule und der Etablierung eines entsprechenden Unterrichtsfaches nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Daran anschließend werden bedeutsame Normen wie Unabhängigkeit, Leistung, Universalismus und Spezifizität charakterisiert und auf ihre Bedeutung für die Herausbildung politischer, demokratischer bzw. zivilgesellschaftlicher Kompetenzen befragt. Eine abschließende Skizze pädagogischer Handlungsmöglichkeiten, basierend auf aktuellen Befunden zum Demokratie- und Politikverständnis bei Kindern und Jugendlichen, begründet u.a. die Notwendigkeit vermehrter pädagogischer und fachdidaktischer Anstrengungen in drei Punkten. Erstens geht es um die Qualitätssicherung in der politischen Bildung durch die Festlegung von Mindeststandards, zweitens um die schulische Aneignung von "Demokratiekompetenz" über die Vermittlung von Kenntnissen und politischer Urteilsfähigkeit hinaus und drittens um eine Stärkung und Qualifizierung der Lehrkräfte im Prozess demokratischen Lernens in der Schule.

Am Beispiel Baden-Württembergs beschreibt Helmut Köhler die länderspezifische Entwicklung des Schulsystems innerhalb der föderalistischen Struktur der Bundesrepublik in ihrer historisch geprägten gesellschaftlichen und politischen Rahmung. Die Entwicklung von Haupt- und weiterführenden Schulen sowie von beruflichen Ausbildungsschulen wird dabei als originärer, in sich konsistenter und folgerichtiger Prozess abgestimmter Entfaltung der Teilsysteme im Rahmen von Schulentwicklung charakterisiert.

Hans-Georg Herrlitz geht in seinem Beitrag der Frage einer internationalen Vernetzung in der deutschen Erziehungswissenschaft nach. Dazu nimmt er eine quantitative Analyse ausgewählter erziehungswissenschaftlicher Fachzeitschriften hinsichtlich ihres "Internationalitätsprofils" für den Zeitraum 1945-2002 vor. Daneben untersucht er internationale Verflechtungen der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) beginnend mit ihrer Gründung. Beide Analysen dokumentieren eine lang anhaltende Vernachlässigung und rückläufige Tendenz internationaler Vernetzung im Zeitraum von 1971 bis 1985.

Das zweite Kapitel umfasst sieben äußerst unterschiedliche Aufsätze der Schul- und Unterrichtsforschung. Die Spannweite der Themen reicht von Schulentwicklung und Schulforschung, über die Zeitnutzung an (Haupt-)Schulen bis zu neueren Ansätzen und alten Problemen bei der Selbstständigkeit von Schulen. Peter Martin Roeder befasst sich mit dem frühen Lernen und einer kompensatorischen und systematischen Förderung im Rahmen vorschulischer Erziehung. Dazu werden einige aktuelle konzeptuelle Überlegungen und Entwicklungen, ausgewählte empirische Befunde (Hamburger Eingangsstufenversuch) und auch Vorläufer zur Integration zwischen vorschulischen und schulischen Einrichtungen in den Blick genommen.

Gundel Schümer beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit den Möglichkeiten und Grenzen von Schulleistungsstudien zur Erklärung von Leistungsunterschieden zwischen unterschiedlichen Bildungssystemen. Sie geht der bildungspolitisch hoch interessanten Frage nach, "wie die Autoren der Studien den Erfolg ihrer Ländervergleiche selbst einschätzen, ob sie – allen anfänglichen Vorbehalten zum Trotz – Leistungsunterschiede zwischen Ländern erklären, ob sie Zusammenhänge der Leistungen mit bestimmten Rahmenbedingungen interpretieren oder lediglich problematisieren" (115). Sie verdeutlicht anhand ausgewählter Studien sehr anschaulich, dass einfache (bivariate) Erklärungsmuster von Leistungsunterschieden offensichtlich nicht ausreichen und der soziale und kulturelle Kontext der Bildungssysteme umfassend berücksichtigt werden muss.

Sabine Gruehn geht in ihrem Beitrag auf die Zeitnutzung im Unterricht an Hauptschulen ein. Auf der Basis von Unterrichtsprotokollen aus Hauptschulen werden Ausführungen zur tatsächlichen Nutzung der Unterrichtszeit unter Berücksichtigung von schulspezifischen Unterschieden, zu Schülerfehlzeiten und zu Formen der Unterrichtsgestaltung getroffen. Herauskristallisiert werden kann, dass die Unterrichtszeit an den untersuchten Schulen von den Lehrkräften und Schülern sehr unterschiedlich (aus)genutzt wird, eine ausschließliche Lehrtätigkeit eher selten ist, wenngleich frontale Lehrformen und interessanterweise Einzelarbeit den Unterricht stark dominieren sowie die Fehlzeiten der Schüler an den Schulen stark differieren. Erkennbar wird aus den Beschreibungen, dass weitere systematische und vertiefende Analysen erforderlich sind, um entsprechende Zusammenhänge zur Zeitnutzung im Unterricht zu ermitteln.

Mit der Verarbeitung von Frustrationserfahrungen bei Schülerinnen und Schülern mit und ohne Migrationshintergrund setzt sich ein empirischer Beitrag von Paul Walter auseinander. Ihm geht es um den Nachweis, dass kulturelle Hintergründe auf die Anpassungsprobleme von Schülern aus Migrantenfamilien einen Einfluss haben und dementsprechend bei Untersuchungen, aber auch der pädagogischen Arbeit berücksichtigt werden müssen. Vor diesem Hintergrund plädiert er dafür, dass die Pädagogik mit einem doppelten Auftrag "zugleich Identitätsbalance und kulturelle Veränderungsprozesse" ermöglichen sollte (168).

Kai S. Cortina und Jürgen Baumert vergleichen – ausgehend von Strukturunterschieden und anhand von unterschiedlichen Längsschnittstichproben – die Gründe für Studienverzögerungen und -abbrüchen in den USA und Deutschland miteinander. Sie kommen zum Ergebnis, dass in den USA eher finanzielle Gründe und in Deutschland eher die soziale und akademische Integration für Verzögerungen und Abbrüche ausschlaggebend sind. Hilfreich wäre an dieser Stelle allerdings eine stärkere Einbindung der Ergebnisse und Daten der Hochschulforschung, beispielsweise des Hochschulinformationssystems (HIS), gewesen.

Der englischsprachige Beitrag von Christine Schaefers und Ewald Terhart basiert auf einem Tagungsbeitrag und beschäftigt sich mit den Partizipationsmöglichkeiten von Schulen im Rahmen von neuen Verfahren bei der Einstellung von Lehrern. Beschrieben werden vor allem das neue Einstellungsverfahren in Nordrhein-Westfalen sowie entsprechende Ergebnisse einer Befragung aus diesem Bundesland. Die Autoren kommen zum Fazit, dass das neue System zwar nicht unbedingt die offiziellen Ziele erreicht, dafür aber zu einer stärkeren Verantwortlichkeit bei den Lehrerinnen und Lehrern für die Lehrerkooperation und die Schulqualität führt.

Die Ausführungen von Petra Gruner stützen sich auf ein Modellprojekt im Land Brandenburg zum Thema "Selbstständige Schulen und Schulaufsicht" (SeSuS). Sie befassen sich mit dem Rollenverständnis von Schulleitern und Schulräten. Deutlich wird, dass es bei ihnen theoretisch und historisch begründbare Unsicherheiten und Probleme bei der Entwicklung eines neuen Selbstverständnisses gibt. Nicht ohne Grund trägt der Beitrag daher den Titel "Selbstständigkeit von Schule – neue Initiativen und alte Handlungsprobleme für Schulen und Schulaufsicht." Besonders interessant sind dabei die in dem Modellprojekt erkennbaren, kontroversen Vorstellungen der Schulleiter zu ihrer künftigen Rolle in einer selbstständigen Schule. So berichtet Petra Gruner, dass einige der am Modellprojekt beteiligten Schulleiter sehr zurückhaltend gegenüber einer Eigenverantwortlichkeit in materieller, finanzieller und personeller Hinsicht eingestellt waren, da sie einen Verlust der traditionellen, ‚pädagogischen Rolle’ befürchteten.

Das dritte Kapitel umfasst ebenfalls vier sehr unterschiedliche Beiträge, hat allerdings im Gegensatz zum zweiten Kapitel einen klar abgrenzbaren thematischen Zuschnitt. Im Mittelpunkt steht die schulische Werteerziehung unter besonderer Berücksichtigung der moralischen und religiösen Entwicklung. Dietrich Benner beschäftigt sich mit dem Thema "Moral und Bildung", Hermann Giesecke mit dem Beitrag der Schule zur Werteerziehung sowie Hans-Peter Füssel und Henning Schluß mit unterschiedlichen Aspekten des Religionsunterrichts. Dietrich Benner setzt sich in seinem theoretisch sehr anspruchsvollen und zugleich sehr spannenden Artikel mit der Bedeutung negativer moralischer Erfahrungen für die Moralentwicklung auseinander. Er geht beispielsweise auf Reflexionen zur Moral bei Platon und Aristoteles, Kant, Rousseau, Schleiermacher und Herbart ein. Er plädiert letztlich nicht für starre Regeln des Guten oder eine normative Moral, sondern stattdessen für eine reflektierte Moral und Moralerziehung, die in experimentierender und individueller Form Erfahrungsmöglichkeiten und Meinungsbildungen im Umgang mit negativer Moral initiiert.

Hermann Giesecke geht mit einem eher pragmatischen Ansatz der Frage nach, welchen Beitrag die Schule zur Wertbildung leisten kann. Nach einer Klärung der Grenzen schulischer Werteorientierung setzt er sich mit den Möglichkeiten zur Wertbildung auf der Ebene des Unterrichts, des Vorbilds der Lehrer, der Normen der Institution und der Schulkultur auseinander. Herauskristallisiert wird, dass es in der schulischen Wertbildung um die Reflexion (und nicht die Vermittlung) von Werten, um authentische Lehrerinnen und Lehrer, um die Erläuterung der schulischen Regeln für die Schüler sowie um die gemeinsame Gestaltung des sozialen Umgangs miteinander geht.

Hans-Peter Füssel betont in seinem Beitrag einerseits die hohe verfassungsrechtliche Bedeutung des Religionsunterrichts und andererseits die geringe Bedeutung des Religionsunterrichts im schulischen Alltag. Darauf aufbauend setzt er sich mit der künftigen Entwicklung des Religionsunterrichts und der diesbezüglichen Rolle des islamischen Religionsunterrichts in Deutschland auseinander. Er fordert einen Religions- und Weltanschauungsunterricht für alle Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, der zu einem Dialog in einer pluralistischen Gesellschaft beitragen und in einem toleranzfördernden Klima in den Schulen stattfinden soll.

Henning Schluß beschäftigt sich ebenfalls mit dem Religionsunterricht. Er setzt sich allerdings mit der aktuellen Tendenz auseinander, pädagogische, politische und religiöse Entscheidungen durch juristische Institutionen zu bewerten und überprüfen zu lassen (z.B. Kopftuchurteil, Kruzifixurteil, LER-Vergleichsvorschlag). Diese Verlagerung pädagogischer Probleme auf die juristische Ebene bewertet er mit einem kritischen Blick, weil dies seines Erachtens dazu führen kann, "den pädagogischen Diskurs zu beschädigen oder einzuschränken". Dies verdeutlicht er – an einigen Stellen möglicherweise zu detailliert – anhand der juristischen Debatte um das Fach LER und den "moralisch-evaluativen Unterricht" (Leschinsky). Deutlich wird zweifelsohne, dass eine juristische Bearbeitung pädagogischer Fragestellungen zumindest mit erheblichen Nebenwirkungen verbunden ist. Ob seine implizite Hoffnung erfüllt wird, dass pädagogische Fragen zukünftig pädagogisch bzw. politisch beantwortet werden, dürfte jedoch fraglich sein.

Zusammenfassend betrachtet bietet der Band einerseits einen guten Einblick in die Vielfalt pädagogischer Themen und Fragestellungen, die von Achim Leschinsky überwiegend selbst bearbeitet wurden und andererseits eine Vielzahl durchweg interessanter theoretischer, historischer und empirischer Beiträge zum Thema Schule. Bereits der Titel "Was Schule macht. Schule, Unterricht und Werteerziehung: theoretisch, historisch, empirisch" deutet an, dass es in dem Band über Schule hinaus nicht um ein bestimmtes Thema geht. Diese thematische Heterogenität ist eine Stärke, zugleich aber auch eine leichte Schwäche der Festschrift. Insofern machen die einzelnen Beiträge neugierig auf eine Weiterführung der Diskussion in den einzelnen Fachdiskursen.
Andreas Seidel / Karsten Speck (Potsdam)
Zur Zitierweise der Rezension:
Andreas Seidel / Karsten Speck: Rezension von: Gruehn, Sabine / Kluchert, Gerhard / Koinzer, Thomas (Hg.): Was Schule macht, Schule, Unterricht und Werteerziehung: theoretisch, historisch, empirisch, Weinheim/Basel: Beltz 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 1 (Veröffentlicht am 31.01.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/40732055.html