Mit seiner Dissertation zur Biopolitik im Klassenzimmer legt Marcelo Caruso eine materialreiche Studie zur Ordnung der Führungspraktiken in den bayerischen Volksschulen vom Ende der Restaurationsperiode bis zum 1. Weltkrieg vor. Im Rückgriff auf Michel Foucault unternimmt er den Versuch, die historische Schul- und Unterrichtsforschung mittels der Untersuchung von Führungstechniken (Gouvernementalität) und der Analyse von Biopolitik neu in den Blick zu nehmen. Caruso interessieren die Formen und Denkweisen der Regierung im Schulunterricht, wobei der Begriff der Regierung einen weiten Sinn gewinnt, wie er ihn im 17. Jahrhundert noch hatte: Regieren umfasst nicht nur staatspolitisches Handeln, sondern umgreift auch die Regierung der Familie, des eigenen Lebens oder das Regieren von Kindern. Diese Form von Gouvernementalität wird im 19. Jahrhunderts durch Biopolitik ergänzt. Foucault beschreibt damit eine historische Verschiebung der Machteinwirkung. Biopolitik konstituiert sich um den gesamten Lebensprozess der Bevölkerung: Geburt, Aufwachsen, Krankheit, Tod. Wurde vorher auf den Körper des Einzelnen gezielt, wird nun das Leben der Bevölkerung in den Dienst der Regierungsmacht genommen. Im 19. Jahrhundert ist es vor allem der Liberalismus, der persönliches Handeln und staatliche Regierungsformen unter biopolitischer Perspektive neu verbindet.
Entsprechend untersucht Caruso die Volksschulreformen von 1869-1918 unter einer spezifischen Perspektive: nämlich im Hinblick auf die Veränderungen des "Regierungsstils" (16) bzw. der Führungspraktiken an bayerischen Volksschulen. Diese innerschulischen Reformen, durch die sich eine neue pädagogische Leitungskultur entfaltet, stehen in einem Zusammenhang mit biopolitischen Regulierungstechniken des Staatsapparats. Sie führen zu einer Ablösung der katholisch geprägten Volksschule mit katechetischer Pädagogik und autoritärer Aufsichtsstruktur durch eine Unterrichtsführung, die das Wachsen und Werden des Kindes zu einem neuen, produktiven Interventionsfeld macht. Auf diskursiver Ebene tritt an die Stelle einer mechanistisch-physikalischen Deutung pädagogischer Prozesse ein biologisch-organisches Paradigma. Mit ihm veränderte sich das biopolitische Arrangement von Unterricht und Schule: Die Schulprozesse wurden einer steuernden Leitung unterstellt, die die Eigenaktivität der Kinder im Unterricht förderte. Die veränderte Auffassung von Kindheit wie auch die entsprechend veränderte Form des Unterrichts setzte sich in der Schulpraxis jedoch nicht einfach widerstands- und reibungslos durch. Entsprechend verweist Caruso auf eine Vielzahl pädagogischer und schulpolitischer Auseinandersetzungen im untersuchten Zeitraum.
Caruso interpretiert die von ihm analysierten Umbrüche im bayerischen Volksschulwesen als biopolitischen Grundsatzstreit. Unter curriculumstheoretischer Perspektive gerieten dabei die Herbartianer mit ihrer Kulturstufentheorie ins Abseits. Zwar rückten sie Lernprozesse bereits als Wachstumsprozesse in den Blick, doch blieben sie einem äußerlichen Entwicklungsmodell verhaftet, das schematisch an die Kinder herangetragen werden konnte. Die biopolitische Reformperspektive hingegen musste verstärkt die inneren Kräfte des Kindes aufnehmen, um sie zum Wohle des Staates zu fördern. Die Reformtätigkeit war "von dem Übergang vom Primat des Äußeren zum inneren Zwang geleitet" (235).
Über schulinterne Reformmaßnahmen hinaus mussten die biopolitischen Leitvorstellungen der neuen Pädagogik auch in staatliche Regierungstechniken übersetzt werden. Die Verkopplung der "Führungskultur der Volksschule mit der politischen Regierung" (479) schlug sich zunächst in neuen Lehrplänen nieder, die immer differenziertere Vorgaben für den Unterricht enthielten. Gleichzeitig wurde die Lehrplanentwicklung durch neue Rahmenvorgaben in staatliche Reformmaßnahmen eingebunden. Allerdings verboten sich dabei direktive, zentrale Eingriffe, denn sie hätten die traditionelle, von schulpolizeilichem Habitus getragene Volksschule gestärkt.
Wie stark sich in diesem Reformprozess kulturelle mit ökonomischen Interessen verknüpften, macht Caruso am Beispiel der Diskussion um die Einführung des 8. Schuljahres in Landau deutlich (197 ff.): Die Gewerbetreibenden der Stadt Landau setzten sich mit einer Petition für die Zurückdrängung der religiös geprägten Sonntagsschule ein und befürworteten stattdessen das 8. Volksschuljahr. Auf diese Weise sollte den erweiterten Qualifikationsanforderungen zukünftiger Arbeiter Rechnung getragen werden (201). Zwar wehrten sich die katholisch geprägten ländlichen Volksschulen noch längere Zeit gegen einen erweiterten weltlichen Fächerkanon der Schule, doch konnten auch sie sich den neuen Normen "der guten Unterweisung" (321) von Kindern auf Dauer nicht entziehen. Dieses Beispiel zeigt, wie sehr der politische Impuls für eine biopolitische Führungskultur in den Schulen von der Erstarkung des städtischen Liberalismus ausging: "Der Liberalismus als Regierungstechnologie arbeitete immer mit der Erkenntnis, Prozesse vorantreiben zu müssen, deren Regelhaftigkeiten Natur eher als eine vorpolitische begriff" (475). Diese vorpolitischen Bereiche waren pädagogisch gesehen die "Kinder als Heranwachsende" (321 ff.), in soziologischer Perspektive die Verstärkung bürgerlicher Individualisierung und ökonomisch gesehen der Markt.
Der biopolitische Blickwinkel der Reform, die ihre Aufmerksamkeit auf Kinder als wachsende Lebewesen, als produktive Ressource zu richten begann, zog eine Fülle schulischer Veränderungen nach sich. Sie lassen sich an zahlreichen neuen "Technologien des Schulraums" (478) und deren Verkopplung nachzeichnen: Im Bereich der Unterrichtsmaterialien gewinnt z. B. die geographische Karte als Mittel der Veranschaulichung und Förderung der Vorstellungskraft des Kindes (275) an Bedeutung. Das Schreiben in Schulhefte statt auf Schiefertafeln lieferte ein zusätzliches Instrument, die Entwicklung der Schreibfähigkeit zu kontrollieren (265). Dem korrespondierten veränderte Unterrichtstechniken: etwa Verdrängung des katechetischen durch das aktivierende Fragen (381), die Verstärkung narrativer Leseübungen, die an die Stelle mechanischer Lesemethoden die Förderung des Verständnisses des Gelesenen setzten (419), schließlich das Zugeständnis thematisch frei gewählter Aufsätze, um den Schülern Gelegenheit zu geben, ihre narrativen Fähigkeiten zu entwickeln und zugleich Aufschluss über die Kinderseele und ihre Fördermöglichkeiten zu erhalten (461 ff.).
Dies sind nur Ausschnitte aus den materialreichen Quellen, mit denen Caruso die verschiedenen Auseinandersetzungen um das biopolitische Wachstumsmodell der reformierten Volksschulen im 19. Jahrhundert belegt. Auch wenn es dabei um die Steigerung und Intensivierung von Machtprozeduren geht, so handelt es sich doch nicht um einen linearen Prozess, der gleichsam ein neues Modell von langer Hand implementiere. Vielmehr geht es um das Zusammenspiel vielfältiger Korrekturen und Innovationen gängiger Praxis, um das "Umdeuten, Umbilden und Abändern" (379) des seitherigen Volksschulunterrichts. Die Reform kommt nicht nur als Bruch mit der Tradition ins Spiel, sondern wahrt durchaus auch Kontinuität, vor allem mit der überkommenen Untertanen-Mentalität, die als Schulziel nicht entfallen sollte. Weiterhin stand die Herausbildung von Persönlichkeitscharakteristika auf der Tagesordnung, die den monarchistisch verfassten Teilstaaten wie auch dem Kaiserreich zuarbeiteten. Allerdings wurden nun paternalistische religiöse Autoritätsformen weniger durch rigiden Zwang und äußere Kontrolle, sondern durch internalisierte "Techniken des Selbst" (479) in Szene gesetzt. Caruso sieht hier eine säkularisierte "Pastoralmacht" (Foucault) am Werk, die die Entwicklung von Autorität und Gehorsam zunehmend über innen geleitete, fürsorgliche und umsichtige Disziplinarprozeduren realisierte.
Eine kritische Abwägung des Gouvernementalitäts-Ansatzes wird in Marcelo Carusos Promotionsschrift nicht vorgenommen. Dafür hat er eine detaillierte Studie über die Prinzipien und Techniken der gouvernementalen Volksschulpolitik und Führung des Unterrichts im Königreich Bayern erbracht. Der Autor verfällt nicht dem Problem, das aktuellen Studien zu Gouvernementalität angelastet wird: die verengende Zentrierung auf programmatische Aussagen staatlicher Vorschriften. Caruso bringt immer wieder soziale Konflikte und die Ungleichzeitigkeit der Umsetzung des biopolitischen Paradigmas ins Spiel. Dazu gehören individuelle Widerstände von Lehrern an ländlichen Volksschulen oder die bereitwilligere Rezeption des neuen Paradigmas in Stadtschulen. Hierfür wertet er vielfältige historische Quellen aus.
Die Dissertation wird ein wichtiger Baustein in der Entwicklung eines gouvernementalen Ansatzes in der Historischen Pädagogik sein. Aber auch gouvernementale Ansätze der Kritik gegenwärtiger Schulreformen können darin reichlich historisches Grundlagenmaterial finden.
EWR 3 (2004), Nr. 6 (November/Dezember 2004)
Biopolitik im Klassenzimmer
Zur Ordnung der Führungspraktiken in den Bayerischen Volksschulen (1869 – 1918)
Weinheim: Deutscher Studien Verlag 2003
(522 Seiten; ISBN 3-407-32051-5; 49,90 )
Jörg Schroeder (Darmstadt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jörg Schroeder: Rezension von: Caruso, Marcelo: Biopolitik im Klassenzimmer, Zur Ordnung der Führungspraktiken in den Bayerischen Volksschulen (1869 – 1918), Weinheim: Deutscher Studien Verlag 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 6 (Veröffentlicht am 30.11.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/40732051.html
Jörg Schroeder: Rezension von: Caruso, Marcelo: Biopolitik im Klassenzimmer, Zur Ordnung der Führungspraktiken in den Bayerischen Volksschulen (1869 – 1918), Weinheim: Deutscher Studien Verlag 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 6 (Veröffentlicht am 30.11.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/40732051.html