EWR 2 (2003), Nr. 5 (September/Oktober 2003)

JĂĽrgen Oelkers / Fritz Osterwalder / Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.)
Das verdrängte Erbe
Pädagogik im Kontext von Religion und Theologie
Weinheim/Basel: Beltz Verlag 2003
(187 Seiten; ISBN 3-407-32040-X; 24,90 EUR)
Das verdrängte Erbe Jürgen Oelkers, Fritz Osterwalder und Heinz-Elmar Tenorth versammeln in diesem Band, der in der Reihe Beiträge zur Theorie und Geschichte der Erziehungswissenschaft erschien, Aufsätze, die den Zusammenhang der Disziplingeschichte der Pädagogik zu Theologie bzw. Religion beleuchten. Zielsetzung der Herausgeber ist es, "den wesentlichen Anteil und die fortdauernde Rolle der Religion und theologischer Denkformen für zentrale Dimensionen auch einer ,autonomen’ Pädagogik als Disziplin herauszuarbeiten" (7). Gegenüber der bisherigen Tradition, die die Vorgeschichte der modernen Pädagogik zum einen in der antik-humanistischen Didaktik" und zum anderen in den "christlichen Tugenddiskursen" begründet, wollen die Herausgeber "die Kontexte der Heranbildung der neuzeitlichen Pädagogik" (ebd.) erweitern.

Die Arbeiten gehen zurück auf Vorträge und Diskussionen während der Frühjahrstagung der Kommission Wissenschaftsforschung der DGFE vom 20.-22. März 1997 in Karlsruhe, die in der Folgezeit durch weitere Forschungsarbeiten neu gefaßt und weitgehend neu erarbeitet worden sind.

Hauptanliegen der Beiträge ist es, auf die "zunächst offen-prägende, dann transformierte und nur noch latent wirksame Rolle von Religion und Theologie" (9) für pädagogische Reflexionen zu verweisen und die vielfältigen theoretischen und sozialen Beziehungen von Theologie und Pädagogik aufzuzeigen. Zwar behandeln die Autoren relativ spezielle Themen; die chronologische Konzeption des Bandes konstruiert für den Leser dennoch ein geschlossenes Bild der Zusammenhänge von der Frühen Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert.

Jürgen Oelkers untersucht in seinem Beitrag den Einfluß des Empirismus der sich im 17. Jahrhundert formierenden Wissenschaften auf die Konstitution von Pädagogik. Er resümiert, dass die Pädagogik im Gegensatz zu den Naturwissenschaften im 17. Jahrhundert nicht vom "Umbau der Erkenntnis" profitierte. Sie wurde nicht zu einer eigenständigen, empirischen Wissenschaft, sondern blieb nachreformatorische "Kirchen-Pädagogik" (21). Fritz Osterwalder demonstriert, dass "eines der hervorragenden Argumente der neuzeitlichen Pädagogik, das die psychische Entwicklung als Folge von Erziehung deskriptiv und präskriptiv umfaßt", aus dem Kontext der theologischen und philosophischen Debatte um den Leib-Seele-Dualismus stammt. Er untersucht die im Zuge der Renaissance des Augustinismus im 16. und 17. Jahrhundert entwickelte Gnadenlehre Cornelius Jansens, besonders die sich daraus formierende Bewegung des französischen Jansenismus um das Benediktinerinnen-Kloster von Port-Royal, und wie diese sich auf die Konstitution von Pädagogik ausgewirkt hat. Mit dem Einfluß John Lockes auf die Empirische Pädagogik beschäftigt sich der Beitrag von Heinz Rhyn. Er rekonstruiert die bisher kaum thematisierten Rezeptionswege John Lockes innerhalb der europäischen Pädagogik. Die pädagogische Kant-Rezeption in den Jahren 1785 bis 1800 in Deutschland thematisiert Alfred Langewand. Er schließt seine Untersuchung mit der Feststellung, dass Kants Werk für die "pädagogischen Kantianer" durch eine moral-und religionspädagogische Umdeutung bzw. Deformierung "heilsgeschichtliche Qualität" (119) erreichte, was dazu führte, dass die Pädagogen – im Gewand des Kantianers – die Pastoren bleiben konnten, die sie waren. Anhand seiner Analyse der von Karl Volkmar Stoy 1861 herausgegebenen "Enzyklopädie der Pädagogik" kann Heinz Elmar Tenorth dann nachweisen, dass sich die Entstehung eines eigenständigen Berufs des Pädagogen nicht denken lässt ohne dessen theologische Wurzeln. Sein Beitrag zeigt, wie sich aus der "Tradition der menschenbeeinflussenden Berufe ein Schema des Denkens tradiert, das eigendynamische Bedeutung gewinnt" (143). Resümierend stellt er fest, dass die Profession der Erziehung zwar meint, sich aus der Kontrolle der theologischen Tradition gelöst zu haben, sich aber – trotz aller Autonomiebehauptungen – diesem "Erbe, das ihre Denkform regiert" (143), nicht entziehen kann. Wie die Lehrerschaft in der Schweiz des 19. Jahrhunderts die aus der Emanzipation des Lehrerberufs von seinen pastoralen Wurzeln entstehenden systematischen Abgrenzungs- und Selbstbehauptungsprobleme zu lösen versuchte, zeigt im Anschluß Martina Späni. Sie resümiert, dass dabei weniger eine säkulare Pädagogik entstand, sondern dass vielmehr eine "pädagogisch gewendete christliche Anthropologie" (154) zur Grundlage eines von kirchlichem Einfluss vermeintlich befreiten Schulunterrichts wurde. Die "Katholische Pädagogik vor der Moderne" behandelt Klaus-Peter Horn, mit dessen Beitrag der Band am Ende des 19. Jahrhunderts ankommt. Er untersucht die Auswirkungen des Kulturkampfes auf die Konstitution katholischer Pädagogik. Horn bescheinigt ihr ein "ungeschichtliches Verhältnis zur Geschichte" (165), was sie – wie er zusammenfasst – die Moderne nicht erreichen lässt.

Bereits der Titel des Bandes "Das verdrängte Erbe" verweist auf die Brisanz des Themas innerhalb des erziehungswissenschaftlichen Diskurses. Zwar sei – aus Sicht der Herausgeber – diese Fragestellung für die Disziplingeschichte der Pädagogik nicht fremd; und die Bedeutung von Religion und Theologie für die Theorie und Praxis von Erziehung sei schon immer gesehen worden. Dennoch besteht, das zeigen sowohl die Beiträge der einzelnen Autoren in diesem Band als auch ein Blick auf die eher spärliche Forschungsliteratur, die sich speziell dieser Fragestellung widmet, großer Nachholbedarf hinsichtlich der Einsicht in die Notwendigkeit, einer vermeintlich autonomen Erziehungswissenschaft ihr "verdrängtes Erbe" in Erinnerung zu rufen. Der vorliegende Band bietet dafür zahlreiche originelle Anregungen und Anknüpfungspunkte. Seinem Anspruch "der Pädagogik ihren Ort in diesem interdisziplinären Diskurs und die Herkunft einiger ihrer zentralen Konzepte zu zeigen und die Vergewisserung über die eigene Tradition weiter voranzutreiben" (15), wird der Band durchaus gerecht.

Die einzelnen Beiträge zeichnen sich aus durch ihre gute Gliederung und die jeweils ausführliche Literaturauflistung. Die Untersuchungen von Martina Späni und Klaus-Peter Horn sind thematisch weniger speziell gefaßt und dürften daher für den disziplingeschichtlich orientierten Erziehungswissenschaflter von größerem Interesse sein als die thematisch enger gefaßten Texte von Oelkers, Osterwalder, Rhyn, Langewand und Tenorth. Dennoch schaffen es gerade diese Spezialstudien, die zahlreichen sichtbaren und unsichtbaren Verstrickungen von Theologie und Pädagogik besonders zu veranschaulichen, was die Relevanz einer Spurensuche nach dem "verdrängten Erbe" umso deutlicher werden lässt. Die Einführung der Herausgeber "Pädagogik im Kontext von Religion und Theologie" beinhaltet neben der Darstellung des Forschungsstandes, die auf erhebliche Defizite aufmerksam macht, eine Kurzzusammenfassung der anschließenden Beiträge und erläutert deren innere Verbindung. Dadurch wird den sehr verschiedenen Themengebieten ein gemeinsamer Rahmen gegeben, so dass sie nicht nur chronologisch, sondern auch inhaltlich aufeinander aufbauen. Der Aufsatzband wirkt daher insgesamt rund und weist möglicherweise bereits den Weg für die Konzeption einer noch ausstehenden Gesamtgeschichte der Pädagogik im Kontext von Religion und Theologie.
Tina Dorit Naumann (Erfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Tina Dorit Naumann: Rezension von: Oelkers, JĂĽrgen / Osterwalder, Fritz / Tenorth, Heinz-Elmar (Hg.): Das verdrängte Erbe, Pädagogik im Kontext von Religion und Theologie, Weinheim/Basel: Beltz Verlag 2003. In: EWR 2 (2003), Nr. 5 (Veröffentlicht am 01.10.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/40732040.html