Neben Handbüchern zur Kindheitsforschung und der frühen Kindheit ist mit der von Annemarie Fritz, Rüdiger Klupsch-Sahlmann und Gabi Ricken herausgegebenen Publikation erstmals ein Handbuch erschienen, das „Kindheit und Schule“ in einen vielperspektivischen Zusammenhang bringt. Dieses geschieht vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Wandlungsprozesse, die zwangsläufig Auswirkungen auf die Aufwachsbedingungen heutiger Kinder haben und zu einer Diversifikation von Kindheitsmustern führen. Erfreulicherweise steht dabei aber nicht die – in der Literatur vielfach in ihrer Ausschließlichkeit hervorgehobene – negative Blickrichtung auf die heutige Kindheit und ihre Einschränkungen im Vordergrund; vielmehr werden gerade auch die Chancen der veränderten Bedingungen als Optionen für vielfältige Gestaltungen dieser Biographie- und Entwicklungsphase betont. Sie stellen für Schule und Unterricht neue Herausforderungen dar, die – gerahmt durch das Konzept einer „Pädagogik der Vielfalt“ – gerne unter dem Stichwort „Heterogenität“ zusammengefasst werden und ein didaktisches Handeln erfordern, das individualisierte Lernangebote macht, aber auch konstruktivistische Welterschließungen und die Vernetzung von Wissen ermöglicht.
Indem die Herausgeber nach den Veränderungen der Kindheit (1), deren Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung (2), der Relevanz neuer Lernkonzepte (3) sowie nach didaktischen Konsequenzen (4) fragen, nehmen sie eine sachlogische Anordnung der Beiträge in vier Bereichen vor:
In einem ersten Komplex werden zunächst die historischen Perspektiven von Kindheit beleuchtet (Elke Nyssen), dann ihre aktuellen Wandlungsprozesse in einer die Chancen und Risiken balancierenden Darstellung konturiert (Helmut Stange), die zentrale Bedeutung der Familie in der schulischen Entwicklung diskutiert (Grit im Brahm) und die pädagogischen sowie gesellschaftlichen Funktionen der Grundschule skizziert (Klaus Klemm). Die Kapitel sind inhaltlich eng verzahnt. Dadurch wird einerseits ein breiter Überblick geboten, andererseits können Argumentationsstränge verfolgt und gesellschaftliche sowie institutionelle Strukturen (hier der Familie und der Schule) als Rahmenbedingungen für pädagogisches Handeln perspektivisch eingeblendet werden.
Sie werden im zweiten Themenfeld spezifiziert, indem der vielfach betonte Bewegungsmangel (Jürgen Kretschmer) und die unzureichenden Sprachkompetenzen (Hermann Schöler) sowie Wahrnehmungsstörungen (Waldemar von Suchodoletz) heutiger Kinder problematisiert, der Schriftspracherwerb unter expliziter Berücksichtigung der Vorläuferkompetenzen (Helmut Skowronek/Heiner Jansen) dargestellt und psychische Gesundheit (Peter Paulus) neben multikulturellem Verstehen (Gaby Herchert) als notwendige Voraussetzungen für eine stabile Selbst- und Gemeinschaftsentwicklung diskutiert werden.
Abschließend wird die Frage nach geschlechtstypischen Selbstkonzept- und Lernentwicklungen (Heidrun Hoppe/Elke Nyssen) gestellt und wissenschaftliche Forschung als zukunftsweisende Option bewertet (Heinrich Bauersfeld). Dieser unter der Überschrift „Bedingungen heute: Entwicklungsrisiken und Entwicklungschancen“ entfaltete Perspektivenreichtum ist nicht nur in seiner Themenvielfalt, sondern ebenso in der Darbietung von Basiswissen und den in kritischer Distanz zahlreich entfalteten Aspekten beeindruckend. Die Artikel sind für die Leserschaft ein unbedingter Gewinn, auch wenn sie zum Teil unterschiedliche Zugänge darstellen. So stehen die ersten vier Beiträge in dem Anliegen, die oft alltagstheoretisch erhobene Kritik gegenüber der mangelnden kindlichen Bewegung, dem geringeren Sprachvermögen, einer auffälligen Wahrnehmungsreduktion und einer – durch
(inter-)nationale Leistungsvergleichsstudien belegten – geringeren Lesekompetenz differenzierter zu betrachten. Es gilt, sie zu bestätigen, wo sie auf einer empirisch überprüfbaren wissenschaftlichen Grundlage beruht, sie aber auch hinsichtlich falsch gezogener Schlussfolgerungen zu entkräften. Anders dagegen die zwei folgenden Abhandlungen. Sie betonen die Notwendigkeit, Entwicklungsverläufe durch Stärkung des Gesundheitserlebens und (inter-)kulturelle Bildung positiv zu unterstützen. Damit geraten sie eher in den Fokus förderlicher Unterstützungen. Abschließend erweisen sich die beiden letzten Beiträge vorwiegend als eine Bestandsaufnahme, die zukunftsorientierte (didaktische) Handlungs- und Forschungsperspektiven zu entfalten suchen. Ein – zugestandener Weise umfangreicheres – Handbuch hätte in diesen Kontexten weitere Entwicklungsrisiken und -chancen aufgreifen können; ich denke da beispielsweise an die Themen „Übergänge“, „Kinderarmut“ und „Integration“.
Die kritische Auseinandersetzung mit kognitiven Entwicklungstheorien (Annemarie Fritz/Gabi Ricken/Karl-Dieter Schuck), die Forderung nach ganzheitlichen Unterrichtskonzepten (Holger Probst/Jan Kuhl), multiplen Darstellungen im Unterricht (Tina Seufert/Steffi Zander/Roland Brünken) und einem bewegungsunterstützten Lernen (Dietrich Eggert/Dennis Koller) bestimmt die Inhalte der vierten Beitragssammlung. Ihr zentraler Bezugspunkt ist der Blick auf die Ermöglichung eines vernetzenden Lernens und die Analyse lernpsychologischer Implikationen „alter“ und „neuer“ Unterrichtskonzepte. Hervorzuheben ist das gelungene Vorgehen, erkenntnistheoretische Ableitungen mit deutlichem Bezug auf die Kindheit zum sachlogischen Argumentationsfaden zu verknüpfen, dabei aber zugleich praxisnah zu argumentieren.
Der letzte Bereich widmet sich ausschließlich didaktischen Fragestellungen, die Antworten auf die benannten Herausforderungen der gesellschaftlichen Veränderungen, insbesondere aber den Anspruch, das Lernen des Lernens nach lernpsychologischen Prinzipen zu organisieren, suchen. Hierbei werden didaktische Ansätze des offenen Unterrichts (Falko Peschel) sowie das Stationenlernen (Helena Metzmacher) einer kritischen Prüfung unterzogen, mathematisches Denken von Kindern in seinem Reichtum an Kreativität und Eigenlogik als eine besondere, sich der Erwachsenenwelt oft verschließende Leistung dargestellt (Christoph Selter), das automatisierte Lesen als wichtiger Bestandteil des Leseprozesses hervorgehoben (Franz B. Wember), Handlungsorientierung im naturwissenschaftlichen Sachunterricht (Kornelia Möller) und der Umgang mit digitalen Medien (Renate Schulz-Zander) als neue Kompetenz bewertet und abschließend mit dem Anspruch eines moralischen Lernens (Georg Lind) und demokratischen Handelns (Karin Meendermann) ein innovativer Denkanstoß gegeben. Der Themenkanon und die Gedankenvielfalt sind beeindruckend, lassen aber die Beschreitung differenter Argumentationsebenen offensichtlich nicht vermeiden. Auch wenn im Zentrum des Buches deutlich ein Nachdenken über die eigenen Sichtweisen von Kindern steht, so haben die ersten zwei Beiträge doch eine stärker didaktische Orientierung, die beiden sich anschließenden sind auf inhaltlich-erkenntnisleitende Prozesse orientiert, während es in den folgenden eher darum geht, die Zugänge zum Lernen zu unterstützen und das Lernen selbst in einem gemeinsamen Miteinander zu konsolidieren.
Meine punktuell nachfragende Haltung ist keine einschränkende Kritik, sondern der Suche nach dem die Einzelbeiträge verbindenden Element geschuldet. Dieses lässt sich in weiten Bereichen als den von neuen Kindheitsansprüchen auf die Schule und den Unterricht gerichteten Fokus konturieren. Dass dabei auch stets deutlich auf die positiven Veränderungen von Kindheit verwiesen wird, die Pädagoginnen und Pädagogen in die Pflicht nehmen, Lernwege in veränderter Weise zu unterstützen und die Professionalisierung des Lehrberufes zu ihrem eigenen Anliegen zu machen, ist ein besonderes Verdienst des Handbuches. Dieses kann in seinen einzelnen, jeweils in sich abgeschlossenen Beiträgen gelesen oder auch im Sinne eines Lehrwerkes für Studium und Weiterbildung genutzt werden. Es legt in gegenseitiger Wendung von Theorie- und Praxisanteilen informative Grundlagen, stellt Zusammenhänge her, sucht für neue Denk- und Sichtweisen zu sensibilisieren und regt – durch Literaturhinweise unterstützt – zu einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit den Themen an.
EWR 6 (2007), Nr. 5 (September/Oktober 2007)
Handbuch Kindheit und Schule
Neue Kindheit, neues Lernen, neuer Unterricht
Weinheim, Basel: Beltz 2006
(327 S.; ISBN 3-407-25418-4; 29,90 EUR)
Renate Hinz (Dortmund)
Zur Zitierweise der Rezension:
Renate Hinz: Rezension von: Fritz, Annemarie / Klupsch-Sahlmann, RĂĽdiger / Ricken, Gabi (Hg.): Handbuch Kindheit und Schule, Neue Kindheit, neues Lernen, neuer Unterricht. Weinheim, Basel: Beltz 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/40725418.html
Renate Hinz: Rezension von: Fritz, Annemarie / Klupsch-Sahlmann, RĂĽdiger / Ricken, Gabi (Hg.): Handbuch Kindheit und Schule, Neue Kindheit, neues Lernen, neuer Unterricht. Weinheim, Basel: Beltz 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/40725418.html