Lev Vygotskij wurde 1896, im selben Jahr wie Jean Piaget, geboren. Außer dem Geburtsjahr haben beide bedeutenden Psychologen des 20. Jahrhunderts jedoch nur wenige Gemeinsamkeiten. Besonders deutlich unterscheiden sie sich in ihrem theoretischen Verständnis menschlicher Entwicklung: Piaget fasst die Entwicklung des Individuums primär als Aktivität des Individuums auf, in der die Umwelt ein Faktor ist, der individuelle Entwicklung lediglich in begrenztem Ausmaß beeinflussen kann. Vygotskij hingegen erklärt nachdrücklich, dass man menschliches Verhalten und menschliche Entwicklung nur dann angemessen begreifen könne, wenn die Eingebundenheit des Menschen in seinen sozialen Kontext gründlich reflektiert wird. Mit dieser Position avanciert er in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Begründer der sog. "Kulturhistorischen Schule" der sowjetischen Psychologie und zugleich zum Kritiker jener Entwicklungspsychologie, die den Blick lediglich auf das isolierte, autonome Individuum fokussiert und die Umwelt nur vage als fördernden oder behindernden Aspekt der individuellen Entwicklung interpretiert.
Obwohl er als einer der bedeutendsten Psychologen des letzten Jahrhunderts gilt, war Vygotskij ursprünglich kein ausgebildeter Psychologe. Stattdessen schloss er zunächst ein Jurastudium ab und begann erst anschließend, sich systematisch mit psychologischen Themen auseinander zu setzen. Am Ende seines kurzen Lebens (er starb schon 1934 in Moskau an Tuberkolose) hinterließ er zwar kein geschlossenes Gesamtwerk. Gleichwohl sind seine originellen wissenschaftlichen Arbeiten bis in die Gegenwart hinein für einen breiten Adressatenkreis interessant; nicht nur für Psychologen, sondern auch für Sozial- und Sonderpädagogen, für Wissenschafts- und Kunsttheoretiker sowie für Linguisten. An Fachleute aus diesen Disziplinen wendet sich auch der hier zu besprechende Band von Peter Keiler. Mit ihm wird im deutschen Sprachraum erstmals der Versuch unternommen, einen ausdifferenzierten Leitfaden durch die Biographie und das wissenschaftliche Werk des "Begründers" der Kulturhistorischen Schule zu geben. Besonderen Wert legt Peter Keiler auf die kenntnisreiche Analyse der Probleme der Verschränkung von Wissenschaft und Politik in der Biographie Vygotskijs, der schon in seinen letzten Lebensjahren Adressat politischer Kampagnen der Sowjetregierung war und dessen Schriften nach seinem Tod zwanzig Jahre lang verboten waren. Später, erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wurde er "wiederentdeckt" - insbesondere durch seine beiden Schriften "Denken und Sprechen" und "Psychologie in der Kunst".
Was macht das hier zu rezensierende Buch besonders lesenswert? Da ist die profunde Kenntnis des Gegenstandes durch den Verfasser: Peter Keiler war viele Jahre am Psychologischen Institut der Freien Universität tätig; dem Ort der Kritischen Psychologie in der Bundesrepublik, der maßgeblich durch Klaus Holzkamp geprägt wurde. Peter Keiler arbeitet seit mehr als zwei Jahrzehnten zu Problemen der Psychologiegeschichte und an der Rekonstruktion materialistischer Traditionen in der Psychologie. Dies ermöglicht ihm einen souveränen Umgang mit dem Gegenstand und einen systematischen Aufbau der Darstellung, der es auch einem mit Vygotskij weniger vertrauten Leser erlaubt, neben einem Zugang zur Biographie auch einen Zugang zur Theorie zu erhalten.
Keiler gliedert seine Studie in drei komplexe Teile. Teil I befasst sich mit den Anfängen der Psychologie als eigenständiger Wissenschaft in der Konstitutionsphase des Sowjetsystems, also im Kontext brisanter politischer Auseinandersetzungen.
Teil II gibt einen Überblick über das breite Schaffen Vygotskijs. Ein Kapitel ist hier dem Wandel des Blickes auf das Kind gewidmet, der sich von einem Verständnis des Kindes als einem "Naturwesen" zu einem Verständnis des Kindes als "Kulturwesen" vollzieht. Ein zweites Kapitel befasst sich mit Vygotskijs "Defektologie", konzipiert als Wissenschaft von der Behinderung, die einen radikalen Perspektivwechsel in der Psychologie und Pädagogik beinhaltet: "Die Blindheit als psychologischer Fakt ist keineswegs ein Unglück. Sie wird erst als sozialer Fakt zu einem solchen." (225ff.) Mit dieser Einschätzung greift Vygotskij übrigens einem theoretischen Konsens in der Heil- und Sonderpädagogik voraus, der sich in dieser Disziplin erst vor etwa dreißig Jahren etablieren konnte. Das hieran anschließende Kapitel widmet sich dem Verhältnis von Sprache und Denken (wobei in diesem Zusammenhang unbedingt auf das von Peter Keiler neu herausgegebene, ebenfalls 2002 bei Beltz erschienene Buch "Denken und Sprechen" von Lev Vygotzkij hinzuweisen ist). Das letzte Kapitel des II. Teils wendet sich schließlich dem entwicklungspsychologischen Modell der geistigen Entwicklung - "Zonen der nächsten Entwicklung" - und seiner Relevanz für den pädagogischen Alltag, speziell dem Unterricht, zu.
Im Teil III des Bandes wird Vygotskijs Psychologie vor dem Kontext der Auseinandersetzungen innerhalb der Stalin-Ära sowie vor dem Kontext der nachfolgenden "Tauwetterperiode" unter Chrustschow diskutiert. An den Schluss seiner Arbeit setzt Peter Keiler schließlich einen aufschlussreichen Überblick über die Rezeptionsgeschichte der Arbeiten Vygotskis.
Wer an der Geschichte materialistischen Denkens in Psychologie und Pädagogik interessiert ist, und wer darüber hinaus ein Interesse an Wissenschaft in totalitären Systemen hat, sollte zu diesem Buch greifen. Der materialreiche Band erlaubt einen facettenreichen und zugleich systematischen Überblick nicht nur über die Lebens- und Werkgeschichte Vygotskijs, sondern auch einen Überblick über die Rezeption seiner Arbeiten, insbesondere in der westlichen Psychologie. Aber auch jene finden Anregungen, die über Vygotskijs theoretische Modelle hinausdenken, indem sie etwa danach fragen, wie sein Entwicklungsstufenmodell in verschiedenen pädagogischen Zusammenhängen zur professionellen Orientierung und Selbstvergewisserung taugt. Zur Einordnung dieser Veröffentlichung in aktuelle Diskussionszusammenhänge bleibt abschließend darauf zu verweisen, dass der Ansatz Vygotskijs als der bedeutendste unter den "Kontextualisten" für die Entwicklungspsychologie unserer Zeit angesehen wird (Patricia Miller). Man sollte ihn, wie auch Peter Keiler in seiner Studie deutlich gemacht hat, deshalb nicht vorschnell auf Materialismus oder Marxismus verkürzen.
EWR 2 (2003), Nr. 4 (Juli/August 2003)
Lev Vygotskij – ein Leben für die Psychologie
Weinheim und Basel: Beltz Verlag 2002
(484 Seiten; ISBN 3-407-22126-6; 19,00 EUR)
Gernot Barth (Erfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Gernot Barth: Rezension von: Keiler, Peter: Lev Vygotskij – ein Leben für die Psychologie, Weinheim und Basel: Beltz Verlag 2002. In: EWR 2 (2003), Nr. 4 (Veröffentlicht am 01.08.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/40722126.html
Gernot Barth: Rezension von: Keiler, Peter: Lev Vygotskij – ein Leben für die Psychologie, Weinheim und Basel: Beltz Verlag 2002. In: EWR 2 (2003), Nr. 4 (Veröffentlicht am 01.08.2003), URL: http://klinkhardt.de/ewr/40722126.html