Das Buch "Rousseau oder Die wohlgeordnete Freiheit" ist nach Bekunden von Hentig ein nicht-wissenschaftliches Essay (S. 108), welcher dazu verführen will, "Rousseaus Bücher selber zu lesen" (S. 16). Ein zentrales Anliegen des Autors ist es, die gespaltene öffentliche Meinung über Rousseau durch eine leidenschaftliche Rekonstruktion seiner Gedankengänge zu revidieren, denn Zuspruch und Abwendung von Rousseau sind eng sowohl mit seinem Werk als auch mit seinem Leben verknüpft (vgl. S. 98). "Und nur ganz selten und ganz verhalten hört man, daß einer gesteht, er sei von Rousseaus Leidenschaft ergriffen, von seinen Gedanken überzeugt." (S. 107-108). Subjektiv kann man sich hier der Annahme einer apologetischen Intention Hentigs nicht entziehen.
Seine Ausgangsfrage im Vorwort "Warum Rosseau lesen?" (S. 9) wird durch den Hinweis beantwortet, dass durch ein nicht-wissenschaftliches, aber leidenschaftliches Lesen, heutige Eltern und Lehrer für den Versuch empfänglich gemacht werden sollen, "Abstand zu den eigenen Institutionen und Wörtern, Gewohnheiten und Erwartungen" nehmen zu können (S. 16).
Insofern unser Autor von einer sehr engen Verknüpfung von Person und Werk ausgeht ("Bei Rousseau erklärt die Biographie vieles, was für sich rätselhaft bliebe, ja sie schreibt gleichsam am Werk mit", S. 19), beginnt Hentigs Essay mit einer knappen Skizze des Lebens von Rousseau (Kapitel I), denn: "Welcher andere Lebenslauf, der so zerrissen, so ungereimt und wechselvoll ist, hat ein derart in sich gerundetes, in sich stimmiges Werk hervorgebracht?" (S. 20). In Kapitel II stellt Hentig das Werk Rousseaus als "Vierfüßler" (S. 83) vor: die Lehre vom Menschen (Erster und Zweiter Discours), die Theorie der Gesellschaft (Contrat Social), die Pädagogik (Emil) und seine Rechtfertigungsschriften. Die holzschnittartige Darstellung der wichtigsten und zentralsten Argumente Rousseaus endet in einem Plädoyer für das Lesen insbesondere der Verteidigungsschriften, "weil man sich sonst leicht auch die anderen Schriften erspart, sofern man sie nämlich für das Werk eines Schwärmers, eines Unglaubwürdigen, eines Phantasten hält" (S. 87). Das Kapitel III skizziert die Wirkung und die Rezeption des Rousseau’schen Denkens. Insbesondere die moderne Pädagogik ist von zwei Vorgaben Rousseaus beeinflußt: dem Empirismus, welche der Forderung nach Beobachtung der Kinder nachkommt und der Stufung der Erziehung nach Kindesalter. Hentigs Ausführungen enden mit knappen Hinweisen auf kritikfähige Punkte bei Rousseau (z.B. männlich zentrierte Erziehung).
Das "Bekenntnis" Hentigs im Nachwort bezieht sich auf die enorme Wirkung Rousseus auf sein eigenes Denken (vgl. S. 108). Der Autor will vor allem die Größe des Pädagogen durch Taten, seine Person und seine Gedanken sprechen lassen. Folglich finden sich zahlreiche Zitate, um Rousseau dadurch "unmittelbar zu Wort kommen" zu lassen (vgl. S. 16). Hentig muss sich durch den kritischen Leser aber die Frage gefallen lassen, welche Bedeutung die "Leidenschaft" für eine Rousseau-Lektüre hat: Denn was ist der Vorteil einer nicht-wissenschaftlichen, dafür aber leidenschaftlichen Lektüre? Indem der Autor diese Frage nicht beantwortet, sind seine eigenen gedanklichen Voraussetzungen - für ein Essay legitim - dadurch aber nur bedingt auf andere Rezipienten übertragbar. "Wir alle schreiben, wenn wir über Rousseau schreiben, über uns selbst" (S. 109). Dieser Satz zeigt deutlich Hentigs Ausgangspunkt. Sein Schreiben über Rousseau ist sehr stark mit seinen "eigenen Lebens- und Denkproblemen durchsetzt" (S. 106).
Fraglich bleibt daher der Nutzen des Buchs als über die Zugriffsmöglichkeit auf die zahlreichen Zitate hinaus, denn nach eigenem Bekunden haben viele Forscher "alles gesagt, was man sagen kann" (S. 108). Ein wissenschaftliches Werk wollte Hentig bewusst nicht schreiben. Um einen Überblick über das Leben und das Werk Rousseaus zu erhalten, könnten dann auch die einschlägigen Lexika und Monographien konsultiert werden. So kann nur noch angeführt werden, dass durch die von Hentig angestrebte leidenschaftliche Rekonstruktion von Leben und Werk Rousseaus der moderne Leser zum eigenen Lesen des großen Pädagogen angeregt werden soll, um eine praktische Wirkung zu erzielen. Hentigs Klage lautet: "Aber nichts [von den Gedanken Rousseaus] mündet in unseren Denkformen, unserem Glauben, unserer Demokratie, unserem pädagogischen Alltag." (S. 107) Wenn dies aber stimmen sollte, dann bleibt immer noch fraglich, welche Bedeutung die Wissenschaft, insbesondere die Geisteswissenschaft, in der modernen Gesellschaft besitzt, wenn dieser (als nicht vorhanden postulierte) Einfluss mit Hentig nicht konstatiert werden kann.
EWR 3 (2004), Nr. 1 (Januar/Februar 2004)
Rousseau oder Die wohlgeordnete Freiheit
München: Beck 2003
(124 Seiten; ISBN 3-406-50649-8; 14,90 EUR)
Martin Fabjancic (Trier)
Zur Zitierweise der Rezension:
Martin Fabjancic: Rezension von: von Hentig, Hartmut: Neu rezensizertes Buch, Rousseau oder Die wohlgeordnete Freiheit, München: Beck 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 1 (Veröffentlicht am 05.02.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/40650649.html
Martin Fabjancic: Rezension von: von Hentig, Hartmut: Neu rezensizertes Buch, Rousseau oder Die wohlgeordnete Freiheit, München: Beck 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 1 (Veröffentlicht am 05.02.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/40650649.html