Im Rahmen von Bildungsarbeit als individueller (privater) und kollektiver (öffentlich-politischer) Erinnerungskultur versucht die historisch-politische Erwachsenenbildung seit den 1950er Jahren, ein Bewusstsein für die Gründe der Entstehung von Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Vorurteilsstrukturen sowie für Möglichkeiten ihrer Verhinderung über Aufklärung und Bildung zu schaffen. Mit der Überwindung des Ost-West-Gegensatzes entstand in den 1990er Jahren eine europäisch geprägte Erinnerungskultur, die nationale Besonderheiten ebenso diskutiert wie sie versucht, über transnationale Vergleiche gegenseitiges Verständnis für nationale Bedingungen und Entwicklungen zu wecken.
Vor dem Hintergrund internationaler Ansätze der Vergangenheitsbewältigung, die fragen, „wie Juden und Deutsche, Juden und Christen glaubwürdig miteinander Vergangenheit aufzuarbeiten vermögen, gemeinsam trauern und hoffen können“ (11), setzt sich die Habilitationsschrift von Elke Theile mit der Frage auseinander, welche Aufgabe die Erwachsenenbildung bei einer „Bildungsarbeit des Erinnerns“ übernehmen kann, denn „Auschwitz ist eine historische Wahrheit, und das Erinnern an den Holocaust und auch der Umgang mit der Erinnerung, die Erinnerungskultur, sind eine Herausforderung für Pädagogik und Erwachsenenbildung“ (13).
Die Tatsache, dass bis heute Antisemitismus, Intoleranz und Hass in Deutschland existieren, dass Synagogen, jüdische Kindergärten und Schulen polizeilich geschützt werden müssen, sind Ausgangspunkt der Untersuchung und Begründung für eine Bildungsarbeit des Erinnerns. Zielsetzung ist es nicht nur zu fragen, wie in der Erwachsenenbildung gegenwärtig Erinnerungskultur als Bildungsprozess praktiziert wird, sondern auch zu untersuchen, welchen Stellenwert das Thema Erinnerungskultur für die Disziplin der Erwachsenenbildungswissenschaft hat und inwiefern es zur Legitimierung und Erkenntnisgewinnung genutzt wird. Die Auseinandersetzung mit antisemitischen und nationalistischen Traditionsströmungen, die in der deutschen Gesellschaft weiterhin auszumachen sind, sowie das Aufdecken von Vorurteilsstrukturen sind Aufgaben einer erinnerungskulturorientierten Erwachsenenbildung. Über ein reflexives Erinnerungskonzept will die Erwachsenenbildung einen Beitrag zur „Bildungspraxis in einer multikulturellen Gesellschaft leisten, um eine Beziehung des Vertrauens in Gegenwart und Zukunft aufzubauen“ (31).
Um herauszufinden, wie sich die Erwachsenenbildung der Aufgabe stellt, „Fragen nach dem Woher, d.h. den Wurzeln, dem Warum, dem Was, dem Wie und dem Wohin des Phänomens Erinnern und Gedenken“ (30) zu klären, stellt die Autorin zunächst den theoretischen Rahmen vor, innerhalb dessen sie die Frage der Erinnerungskultur erörtern und analysieren wird.
Elke Theile rekurriert auf kulturwissenschaftliche Ansätze, vor deren Hintergrund die Funktion der Erinnerungskultur für die Gegenwart geprüft wird. Dabei geht es ihr vor allem darum zu verdeutlichen, dass Kultur im positiven Sinn eine gesellschaftlich inkludierende Funktion übernimmt. Ausgehend von der Überlegung, dass „unterschiedliche Gesellschaften aufgrund der jeweiligen Denk- und Verhaltensmuster die Strukturierung für die Orientierung und das Handeln ihrer Mitglieder in der Welt in unterschiedlicher Weise vornehmen, bleibt Kultur grundlegend mit Vielfalt verbunden und menschliches Handeln für die missbräuchliche Instrumentalisierung dieser Unterschiede verantwortlich“ (17). Eine negative Instrumentalisierung der Kultur bedeute dagegen, Kultur als Rechtfertigungsargument für Diskriminierung und Unterdrückung einzusetzen, wie es der Nationalsozialismus praktizierte, indem er sich auf die „Eigenart und Überlegenheit der eigenen Rasse“ berief und damit sein unmenschliches Handeln begründete (16).
Wichtig ist in diesem Zusammenhang das Konzept einer „Tiefenkultur“ einer Gesellschaft nach Galtung, der davon ausgeht, dass in Gesellschaften Konflikte entstehen und sich die Fragen stellen, wie eine Gesellschaft mit diesen Konflikten umgeht und sie löst. Konflikte bedeuten Gewalt, die differenziert werden kann in strukturelle und kulturelle Gewalt. Kulturelle Gewalt ist symbolisch zu verstehen, sie wirkt in „Religion und Ideologie, in Sprache und Kunst, Wissenschaft und Recht, Medien und Erziehung […], um direkte und strukturelle Gewalt zu legitimieren“ (18). Aufgabe von Bildungsarbeit ist es, die durch kulturelle Gewalt transportierten Vorurteile, die sich in Antisemitismus, Rassismus und Nationalismus ausdrücken können, aufzudecken und Erkenntnis-, Wahrnehmungs- und Handlungsdispositionen zu initiieren, die zu „Frieden stiftenden Maßnahmen“ führen (18). Theile zieht aus dieser Aufgabe den Schluss: „Das erfordert eine nicht-positivistische Auffassung von Wissenschaft, die mit expliziten Werten und Bildungskategorien arbeitet und sich nicht mit der Analyse begnügt“ (18).
Zielsetzung der Studie ist einerseits, die praktizierte Erinnerungskultur der Erwachsenenbildung in Bezug auf den jüdisch-christlichen Dialog vorzustellen, wobei der „Schwerpunkt auf das Verhältnis von Opfern und Tätern und hier speziell auf die Beziehungsgeschichte Juden/Nichtjuden mit ihren Vorurteilsstrukturen“ (21) gelegt wird. Andererseits will die Arbeit untersuchen, ob sich aus dieser Art der Erinnerungskulturarbeit Hinweise ergeben, wie solche Konzepte für die aktuelle politische Bildungsarbeit in einer multikulturellen Gesellschaft genutzt werden können.
Um dieses Ziel zu erreichen, spannt die Arbeit einen weiten Bogen: Zunächst werden als Grundlage Ergebnisse der Antisemitismusforschung aus Geschichtswissenschaft, Politikwissenschaft, Kommunikationspsychologie und Theologie referiert (Teil A). Im zweiten großen Teil (B) stellt Elke Theile Probleme und Perspektiven der erinnerungskulturorientierten Erwachsenenbildung dar, wobei eine theoretische Diskussion über das Problem von Vorurteilsstrukturen als Bildungsbarriere und als Bildungsziel im Mittelpunkt steht (Kap. 1). Im zweiten Kapitel werden Ansätze und Schwerpunkte der Erinnerungskulturarbeit referiert. Beispiele sind der jüdisch-christliche Dialog nach Auschwitz, das jüdische Lehrhaus als Modell identitätsbildender Erinnerungskulturarbeit, integrative und interkulturelle Bildungsarbeit und anderes.
Der dritte Teil (C) stellt die Ergebnisse einer qualitativen Erhebung vor. Die Autorin führte mit Erwachsenenbildnerinnen und Erwachsenenbildnern, die in der Erinnerungskulturarbeit in verschiedenen Gedenkstätten tätig sind, Experteninterviews durch, die sich an den vier Leitfragen orientieren:
- „Welche biographischen Schlüsselelemente haben Sie bewogen, sich für die Erinnerungskulturarbeit zu engagieren?“
- „Wie sehen Sie die Beziehung Juden/Nichtjuden in Deutschland heute und – nach ihren Erfahrungen – die Möglichkeiten und Grenzen der Verständigung angesichts eines ‚neuen Antisemitismus’?“
- „Welche (erwachsenenpädagogischen) Formen des Erinnerns im Umgang mit Antisemitismus praktizieren Sie für Erwachsene, sind neue Formen geplant?“
- „Was soll und kann nach Ihrer Einschätzung Erinnerungskulturarbeit für die Bildung Erwachsener leisten?“ (34)
Die Autorin stellt im ersten Kapitel dieses Teils (C) zunächst die Rahmenbedingungen historisch-politischen Lernens in der Erwachsenenbildung vor, wobei es um die Spezifität von Lernorten der Erinnerungskultur und Methoden geht.
Im zweiten Kapitel werden die Interviewergebnisse, die mit insgesamt sieben Erwachsenenbildnerinnen und Erwachsenenbildnern an verschiedenen Einrichtungen geführt wurden, einzeln analysiert, um dann vor dem Hintergrund der Leitfragen vergleichend interpretiert zu werden.
Die Habilitationsschrift stellt eine theoretisch und inhaltlich anspruchsvolle Untersuchung dar, die erstens als eine kulturwissenschaftliche Studie über Vorurteilsstrukturen und ihre Thematisierung und Bearbeitung in historisch-politischen Erwachsenenbildungskontexten gelesen werden kann. Sie ist sehr informativ in Bezug auf den pädagogischen Umgang mit dem Problem Vorurteile und gibt Einblicke in Lösungsansätze. Zweitens gibt die Studie einen interessanten Überblick sowohl über historische Beispiele von Erinnerungskulturarbeit als auch über aktuelle Ansätze und ihre theoretischen Begründungen in der Erwachsenenbildung. Der empirische Teil gibt drittens Aufschlüsse über professionstheoretisch diskutierte Themen wie die Entwicklung eines ethischen Standpunkts in Bezug auf die individuelle Bildungsarbeit und eines interkulturellen Bewusstseins bei Erwachsenenbildner/innen. Zudem wird durch die Interviewergebnisse gezeigt, wie in der konkreten Bildungsarbeit didaktisch-methodische Konzepte entwickelt, erprobt und begründet werden mit dem Ziel, Vorurteilsstrukturen aufzubrechen und eine reflexive Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex zu eröffnen. Die Untersuchung kann in unterschiedlicher Weise Gewinn bringend gelesen werden. Sie bietet theoretisch interessierten Leser/innen wie Bildungsarbeiter/innen in der Praxis eine Fülle von Anregungen und Reflexionsmöglichkeiten der eigenen Arbeit.