Innerhalb der Bildungsdebatte erhält die Familie gegenwärtig eine gewisse Aufmerksamkeit. Die Herausgeber(innen) weisen auf die Aufgabe der Erziehungswissenschaft hin, den Diskurs um familiale „Erziehungs- und Bildungsleistungen, ihre sozialisatorische Funktion, wie auch ihre Bedeutung für die Fürsorge zwischen den Generationen […] kritisch zu begleiten, mit empirischen Befunden anzureichern und im Hinblick auf theoretische und praktische Konsequenzen zu reflektieren“ (7). Zugleich stellen sie jedoch fest, dass es nur wenige Bemühungen gibt, „eine eigene, disziplinäre Perspektive in der theoretischen Modellierung und empirischen Rekonstruktion der Familie als pädagogischem Feld“ (8) vorzunehmen. Mit dem vorliegenden Band will sich die erziehungswissenschaftliche Biographie- und Bildungsforschung theoretisch und empirisch dieser vernachlässigten Aufgabe stellen. Familiale informelle Bildungswelten sollen in ihrem Eigensinn thematisiert werden (9).
Der Band versammelt Beiträge der Jahrestagung der Kommission Qualitative Bildungs- und Biographieforschung (Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, Sektion Allgemeine Erziehungswissenschaft) aus dem Jahr 2008. Beachtet man diesen Kontext der Beiträge, so erscheint es wenig erstaunlich, dass hier eine Vielfalt an Studien mit unterschiedlichen theoretischen Ansätzen, Datenformen und Auswertungsmethoden vorgestellt wird.
Der Band ist in vier Teile gegliedert. Jeder Teil besteht aus drei bis vier Aufsätzen. Die vier Beiträge des ersten Teils (Familienwelten als Bildungswelten) stellen unterschiedliche Zugänge vor, wie Familie als ein Ort von Bildungsprozessen betrachtet werden kann. Dabei werden die familialen Prozesse als stark mit gesellschaftlichen Prozessen verwoben betrachtet. So behandelt Jutta Ecarius die Familie als einen identitätsbildenden Ort, an dem einerseits Kultur weitergegeben und produziert wird, der andererseits aber auch soziale Ungleichheit produziert. Andreas Lange untersucht im Anschluss an Melvin Kohn gesellschaftliche Veränderungsprozesse unter der Perspektive der Entgrenzung und beschreibt deren „potentielle […] Konsequenzen für innerfamiliale Bildungsprozesse“ (35). Während die beiden genannten Artikel theoretisch argumentieren, bearbeiten die beiden folgenden visuelle Daten. Hans-Rüdiger Müller, Kathrin Borg und Dorothee Falkenreck nähern sich dem „verborgenen Bildungssinn familialer Selbstpräsentation“ (53) durch Familienfotos, Hiromoto Makabe rekonstruiert das Sujet des „Gemeinsamen Schauens“ anhand von Bildern aus Japan und Europa.
Im zweiten Teil folgen vier Beiträge, die das Ineinandergreifen familialer und institutioneller Bildungsprozesse in den Blick nehmen. Anja Tervooren beleuchtet theoretisch und methodologisch Zusammenhänge zwischen schulischen und familialen Bildungsprozessen und schlägt einen ethnographischen Zugang zu ihrer Erforschung vor (94). Für die Rekonstruktion pädagogischer Generationsbeziehungen in Familie und Waldorfschule wählt Gunther Graßhoff einen multiperspektivischen Blick (Beobachtung, Video, Audio) auf zwei Fälle. Mit dem Bildungsaufstieg in drei Generationen befassen sich Ingrid Miethe und Christine Thon in den beiden folgenden Beiträgen. Die erste Autorin rekonstruiert den Bildungsaufstieg in Ost- und Westdeutschland im historischen Kontext mit Hilfe biographisch-narrativer Interviews mit erfolgreichen Bildungsaufsteiger(inne)n (140). Christine Thon führt biographische Interviews mit Bildungsaufsteigerinnen und rekonstruiert Kontinuitäten und Verschiebungen der Thematisierung von Bildung und bildungsbezogenen familiären Praxen.
Der dritte Teil des Bandes versammelt Beiträge, die sich mit Bildungs- und Sozialisationsprozessen an den Grenzen der Familie beschäftigen. Ulrike Loch untersucht Schulabbrüche und Gewalt Jugendlicher im Kontext der Familiengeschichte .Die Integration von Jugendlichen in das Bildungssystem könne laut Autorin gefördert werden, indem überfamiliale und historische Gewalt(tradierung) offen und unterstützend-kritisch kommuniziert würde. Mit Hilfe eines komplexen empirischen Vorgehens untersuchen Wassilis Kassis und Rahel Heeg emotionale Verbundenheit mit der Familie und Autonomie gewalttätiger Mädchen. Sie rekonstruieren eine durch intensive negative Gefühle geprägte Beziehung zum Vater als wichtige Einflussgröße für Gewaltbereitschaft weiblicher Jugendlicher. Ein inkonsistenter und harscher Erziehungsstil verstärke diesen Einfluss. Tanja Rausch und Katja Lorenz untersuchen Lebenspläne von Jugendlichen aus strukturschwachen Regionen Brandenburgs. Die Familienbindung spiele, so die Autorinnen, bei den Lebensplänen der Jugendlichen eine stärkere Rolle als Karriereabsichten oder Bildungsentscheidungen
Der vierte und letzte Teil des Bandes nimmt die Herausforderungen familialer Fürsorge und des Alters in den Blick. Heidrun Herzberg untersucht, wie das Phänomen zweier Professionalisierungsstränge in der Altenpflege „bei der Realisierung einer biographie- und familiensensiblen Haltung seitens der Professionellen [hinderlich] sein könnte“ (231). Die Perspektive der Familienangehörigen auf das Thema Altenpflege nimmt Barbara Dieris ein, wenn sie „die Aushandlung von Kümmerzuständigkeiten“ (239) untersucht. In den Kategorien des Sprechens und des Schweigens zeigt sie auf, wie die Familienmitglieder Zuständigkeiten aushandeln, obwohl ihnen ein passendes Vokabular fehlt. Der Band schließt mit einem Beitrag von Alexandra Retkowski mit dem Titel „Männliche Generationensorge. Deutungen familialer Sorgebeziehungen zwischen Gestern und Morgen“ (255). Die Autorin zeigt auf, „wie sich die Deutungen der Generationensorge […] entlang des Wandels gesellschaftlicher Subjektivierungsformen einerseits und der individuellen Familiengeschichte andererseits transformieren [können]“ (271).
In der Zusammenschau aller Beiträge kann festgehalten werden, dass diese eine erfreuliche Breite der theoretischen Zugänge aufweisen. Zudem variieren die Datenformen und Auswertungsmethoden der vorgestellten empirischen Studien. So finden sich die beinahe schon kanonartig etablierten Zugänge (dokumentarische Methode nach Bohnsack, Objektive Hermeneutik nach Oevermann, Fallrekonstruktion nach Rosenthal) für die Interview- oder Bildauswertung. Daneben gibt es aber auch neu erprobte Forschungszugänge wie das „empiriegestütztes Theoretisieren“ bei Kassis/Heeg (Grounded Theory Methodology nach Charmaz kombiniert mit schrittweiser quantitativer Korrespondenzanalyse) oder komplexe multiperspektivische Datenkombinationen wie etwa bei Graßhoff (Einzel- und Gruppeninterviews, Beobachtungen, Videoaufzeichnungen).
Die Artikel sind in klarer Sprache verfasst, empirische Designs werden nachvollziehbar vorgestellt und Ergebnisse mit Fallstudien illustriert. So sind meiner Ansicht nach die Beiträge dieses Sammelbands auch gut geeignet für einen Einsatz in der Lehre – als Beispiele für methodisches Vorgehen oder für die Darstellung empirischer Ergebnisse.
Der vorliegende Band kommt seinem Ziel, sich den neuen theoretischen und empirischen Herausforderungen der Familie als pädagogischem Feld zu stellen, in vielfältiger Weise nach. Wer einen schnellen Überblick über ausgewählte aktuelle Forschungsfragen in diesem Feld sucht, findet hier eine gelungene Zusammenstellung. Es ist dabei jedoch zu beachten, dass es sich um einen Sammelband handelt, der nicht den Anspruch erhebt, alle derzeitigen erziehungswissenschaftlichen Diskussionen im Kontext Familie anzusprechen. Der Band liefert keinen Überblick. So gibt es beispielsweise keine Beiträge, die sich mit einer international vergleichenden Perspektive oder mit Blick auf Migration dem Thema Familie nähern; Fragen der Bildungspolitik sind genauso wenig vertreten wie familiales Lernen in und durch Familienformen wie Patchwork- oder Ein-Eltern-Familien.
Wie eingangs genannt, tritt der Band an, das pädagogische Feld Familie mit einer „eigene[n], disziplinäre[n] Perspektive“ (8) zu untersuchen. Hier erscheint mir die vertretene Perspektive noch recht diffus. Es wird für mich nicht überzeugend deutlich, was nach Ansicht der Autor(inn)en eigentlich eine pädagogische Perspektive ist. Die Artikel sind überwiegend eher deskriptiv und tendenziell soziologisch ausgerichtet. Viele Beiträge weisen eine deutliche Defizitperspektive auf. So beschreibt beispielsweise Lange, wie in Folge der Entgrenzung des Wirtschafts- und Arbeitssystems „Tendenzen hin zu einer systematischen Selbstüberforderung“ (38) bestünden oder neue Belastungen für Familien auftreten würden. Der in dem Band vorherrschende problemorientierte Blick auf Familie war lange Jahre auch im Kontext der Eltern- und Familienbildung zu finden. Hier wurde die Defizitperspektive jedoch durch eine Ressourcenorientierung abgelöst. Es wäre meiner Ansicht nach überlegenswert, sich auch im Feld Familie den meiner Ansicht nach eigenen pädagogischen Fragen „wie kann ich erziehen?“, „wie können Lernen und Entwicklung gefördert werden?“ oder in ethischer Hinsicht „wohin kann ich erziehen?“ zuzuwenden. Dann könnten beispielsweise eher problemorientierte Fragen nach familialer Fürsorge und Pflege hin zu Überlegungen darüber, wie Lernprozesse aller Familienmitglieder unterstützt werden können, gewendet werden.
EWR 11 (2012), Nr. 4 (Juli/August)
Familie, Generation und Bildung: Beiträge zur Erkundung eines informellen Lernfeldes
Opladen: Barbara Budrich 2010
(292 S.; ISBN 978-3866493193; 33,00 EUR)
Ruth Michalek (Freiburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ruth Michalek: Rezension von: MĂĽller, Hans-RĂĽdiger / Ecarius, Jutta / Herzberg, Heidrun: Familie, Generation und Bildung: Beiträge zur Erkundung eines informellen Lernfeldes. Opladen: Barbara Budrich 2010. In: EWR 11 (2012), Nr. 4 (Veröffentlicht am 02.08.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/3866493193.html
Ruth Michalek: Rezension von: MĂĽller, Hans-RĂĽdiger / Ecarius, Jutta / Herzberg, Heidrun: Familie, Generation und Bildung: Beiträge zur Erkundung eines informellen Lernfeldes. Opladen: Barbara Budrich 2010. In: EWR 11 (2012), Nr. 4 (Veröffentlicht am 02.08.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/3866493193.html