„68 – Umbrüche in bildungsgeschichtlichen Perspektiven“ lautete der Titel der Konferenz, die im November 2008 in der Freien Universität Berlin stattfand und hier dokumentiert wird. Die einzelnen Beiträge werden von den Herausgebern in vier Kategorien geordnet: „Schüler“, „Jugendliche“, „Studierende“ und „Pädagogische Reflexionen“. In der ersten Kategorie beschäftigt sich Linda Apel mit der Schülerbewegung der 60er-Jahre und konzentriert sich dabei exemplarisch auf die Hamburger Gruppe des Aktionszentrums Unabhängiger und Sozialistischer Schüler (AUSS), gestützt auf eine Vielzahl unterschiedlicher Dokumente aus Privat- und Verwaltungsarchiven, Sammlungen, sowie auf eine größere Anzahl von Zeitzeugengesprächen. Darin zeigt sich, wie ähnliche Konstitutions- und Verfallsprozesse, die mit der Studentenbewegung insgesamt einhergingen, sich auch, gleichsam als Parallelverläufe, in der Schülerbewegung abspielten. So spielten in der Organisation des Schülerprotests bereits vor 1968 in Hamburg „nicht nur die Studentenbewegung, sondern die illegale KPD eine größere Rolle dabei, die Schüler zu mobilisieren“ (17). Das ist insofern interessant, als auch die Studentenbewegung insgesamt bereits in ihrer Frühphase unter einer sektiererischen Zersplitterung in unterschiedlichste ideologische Gruppen litt, deren Spektrum von Stalinexegeten, über Hochschulreformer bis hin zu den Teilen der „Neuen Linken“ reichte, die sich eher am us-amerikanischen Modell der Bürgerrechtsbewegung orientierte. 1 Ähnliches habe sich auch in der Schülerbewegung niedergeschlagen. Trotz ihrer kurzen Dauer und des raschen Zerfalls habe „die Schülerbewegung das Verhältnis zwischen Schülern und Lehrern dauerhaft verändert und Transformationsprozesse eingeleitet bzw. beschleunigt“ (29). Christian Ritzis Beitrag, der sich mit der Rezeption der Studentenbewegung in Schülerzeitschriften um 1968 herum befasst, legt indessen den Befund nah, dass es sich im Falle solcher Radikalisierungstendenzen wie den von Apel untersuchten, eher um Ausnahmen gehandelt habe. Von einer „Radikalisierung der Schülerzeitungen“ könne jedenfalls „kaum die Rede“ sein und „Plädoyers für den gesellschaftlichen Umsturz“ seien „eine Ausnahme“ (50) geblieben.
Unter der Kategorie „Jugendliche“ finden sich drei Beiträge, die sich mit Kampagnen und Initiativen aus dem jugendbewegten und studentischen Umfeld, aber auch aus dem Umfeld der Verbandsarbeit von Ende der 60er- bis Anfang der 70er-Jahre beschäftigen. Richard Münchmeiers Beitrag gilt der Jugendzentrumsbewegung, die er als „Politisierung reformpädagogischer Traditionen“ (52) versteht. Er konzentriert sich auf die Jugendinitiative zur Schaffung eines Arbeiterjugendzentrums in Bielefeld 1973, bringt hierdurch anschaulich in Erinnerung, wie sich die Jugendzentrumsbewegung in ideologischer und praktischer Nähe zum Häuserkampf der frühen 70er-Jahre realisierte, sich aber zugleich in eine reformpädagogische Tradition fügt: „Jugendzentrum oder Jugendhaus war damals ein Kampfwort gegen das erwachsenenorientierte Leben der Vereine bzw. gegen die Gruppenpädagogik der Jugendverbände, Ausdruck eines eher antipädagogischen Emanzipationsanspruchs und Verselbständigungswillens einerseits, Kennzeichen von Behauptungswillen und Aneignungsforderungen andererseits“ (57). Heinrich Eppe analysiert die Zeltlagerpädagogik 1970-1972 und kommt zu dem eher skeptischen Befund, dass hier „unter dem Einfluss der 68er-Bewegung“ zwar in einigen Bereichen „viele verkrustete Strukturen und sinnentleerte Traditionen aufgebrochen und abgeschafft“ (94) werden konnten, nichtsdestotrotz aber der politische Anspruch der direkten Demokratie wegen des zuteilen diffusen Demokratieverständnisses der Organisatoren nur sehr bedingt eingelöst wurde. Die vielleicht dramatischsten Entwicklungen sind, auch die politische Geschichte der Bundesrepublik betreffend, möglicherweise mit der Heimkampagne verbunden, zumal unter dem Gesichtspunkt des Zusammenhangs von „68“ und „Kritische Pädagogik“. Seit Längerem wird beispielsweise in der Literatur darauf hingewiesen, dass mit der Heimkampagne die unmittelbare Vorgeschichte der Roten Armee Fraktion (RAF) beginnt; dass sich genauer noch in ihrem Umfeld der Kontakt zwischen der ersten und zweiten RAF-Generation realisiert hat 2. Manfred Kappeler widmet sich der Heimkampagne, ohne leider die Verbindungslinien zwischen Sozial-, Politik- und pädagogischer Geschichte wirklich zu einer Pointe zusammenzuführen, welche die immense Bedeutung der Heimkampagne in der bundesrepublikanischen Geschichte und ihrer Verquickung mit der erziehungswissenschaftlichen Begleitreflexion sichtbar machte. Eine Gedächtnislücke schließt Kappeler indessen, wo er mit Nachdruck eine radikale Heimkritik in Erinnerung ruft, die bis in die Fünfzigerjahre zurückreicht. Die von Kappeler referierten Quellen verdeutlichen in der Tat eindringlich, dass die Kritik an der Heim- und Fürsorgeerziehung „in den zwei Jahrzehnten vor der Heimkampagne (...) voll entwickelt, umfassend publiziert und, davon muss ausgegangen werden, den Verantwortlichen in Politik und Verwaltung (...) bekannt“ (69) war. Desweiteren spannt Kappeler den Bogen von der frühen Heimkritik, über die darin bereits vorweggenommene Goffman’sche Kritik der „totalen Institution“, über die Beteiligung der Printmedien durch Ulrike Meinhof bis zum „runden Tisch Heimerziehung“.
Unter der Kategorie „Studierende“ versammeln sich sodann Beiträge von Ulrich Herrmann, der, exemplarisch für die Universität Tübingen, darauf hinweist, dass die Studentenbewegung bereits „seit Ende der 1950er-/Anfang der 1960er-Jahre auf gesamtgesellschaftliche bzw. spezifische (bildungs- und hochschul-)politische Herausforderungen“ (95) reagiert habe; von Carola Groppe, die eine sehr ausführliche und genaue Bestandaufnahme der Forschungsliteratur zur Studentenbewegung vorlegt, sich aber im Folgenden vorrangig für die involvierten Generationenprofile und die Radikalisierung der Konfliktlinien an der Universität interessiert; schließlich findet sich dort auch der stark autobiografisch geprägte Text von Ekkehart Krippendorff – „Unterwegs nach ‚68’“ –, in dem er aus der Sicht des 1934 Geborenen seinen Weg zur Universitätsassistentur rekapituliert – vom Fulbright-Stipendium in den USA Anfang der Sechzigerjahre, über die politischen Querelen, in die er wegen seiner journalistischen Arbeit 1965 geriet, bis hin zu einem aus vermutlich politischen Gründen gescheiterten Habilitationsvorhaben zwischen 1968 und 1970.
Mit insgesamt sieben Beiträgen umfasst die letzte Kategorie „Pädagogische Reflexionen“ nahezu die Hälfte des Bandes. Diethart Kerbs erinnert an den kunstpädagogischen Diskurs zwischen 1967-1977 und wie in jenen Jahren im Umfeld der Studentenbewegung Grundlagen geschaffen wurden „die Theorie und Praxis der ästhetischen Bildung (...) auf einer Welle der Zustimmung“ (164) reiten zu lassen, was indessen doch ausblieb, weil die ästhetische Bildung ihr anfängliches Prestige mit den Bildungsreformen verloren habe. Ein weiterer Beitrag von Ulrich Herrmann widmet sich nochmals dem Verhältnis von Geisteswissenschaftlicher Pädagogik und Kritischer Erziehungswissenschaft, laut Herrmann ein „Paradigmenwechsel, der keiner war“ (174). Zwar habe sich unter dem Eindruck der Frankfurter Schule ein Modernisierungsschub in der Erziehungswissenschaft vollzogen, der zwar einerseits zum „Verlust an geschichtlicher Tiefe und theoretischer Stringenz“ geführt habe, wobei andererseits längst „nicht gleich alles über Bord geworfen“ worden sei: Von einem Wechsel des „überkommenen pädagogischen Theorie- und Argumentationsparadigmas ... konnte keine Rede sein, eher von der Etablierung eines wechselseitigen Anregungspotenzials“ (174).
In gewisser Weise verbindet sich dieser Befund Herrmanns mit den Einschätzungen Andreas Gruschkas, die sich im darauffolgenden Beitrag nachlesen lassen. Ebenfalls mit autobiografischen Erzählungen gespickt, in denen sich der Autor seiner eigenen akademischen Sozialisation und seiner Einbindung in zahlreiche Forschungskontexte seit den 1970er-Jahren rückversichert, widmet sich sein Aufsatz explizit dem Zusammenhang der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule und der Pädagogik. Gruschka moniert vor allem, dass sich die Pädagogik damals nicht recht auf die Kritische Theorie eingelassen habe, was bis heute eine Hypothek darstelle: „So möchte ich es als eine Frage des Überlebens der Pädagogik als Denkform heute verstehen, ob sie sich dazu befreit, eine Kritische Theorie ihrer selbst zu werden“ (196).
Auch wenn es sich bei dem darauffolgenden Beitrag von Günther C. Behrmann, wie schon bei dem Essay Gruschkas, ebenfalls um den leicht überarbeiteten Wiederabdruck eines Textes handelt, stellt dieser auch im vorliegenden Band einen enormen Zugewinn dar. Behrmann widmet sich insbesondere der Funk-Kolleg-Reihe und ihrer bildungspolitischen Funktion. Was deren inhaltliche Programmatik angeht, rückt er den Beitrag der „Göttinger Schule“ (Blankertz, Klafki, Mollenhauer) in den Vordergrund, ebenso ihr Generationenprofil, und betont sehr kenntnisreich und detailliert die Verknüpfungen mit der medienpolitischen Landschaft Ende der 1960er-Jahre und den kulturpolitischen Einfluss, der aus dem Umfeld des Frankfurter Instituts für Sozialforschung herrührte.
Johannes Bilstein rekonstruiert die Rezeptionskultur psychoanalytischer Texte aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, wie sie im Kontext der antiautoritären Erziehung um „68“ herum etabliert wurde, während sich anschließend Meike Sophia Baader der Kinderladenbewegung im städtischen Raum zuwendet. Beschlossen wird das Buch mit Peter E. Kalbs Erinnerung an die Zeitschrift „betrifft: erziehung“ bzw. ihrer Einordnung in den Zusammenhang von Pädagogik, Studentenbewegung und Politisierung der Erziehung.
Die Konzentration, mit der sich der besprochene Band auf eben jenen Zusammenhang und auch auf seine kultur-, bildungs- und sozialgeschichtliche Relevanz einlässt, ist nicht nur eine Freude, sondern behebt auch ein Desiderat. Mindestens zweierlei wird durch die Lektüre des besprochenen Bandes auf eindrückliche Weise deutlich: Dass „68“ erstens in der Pädagogik und Erziehungswissenschaft historisch zurück bis in die Reformpädagogik der Weimarer Zeit und bis in unsere pädagogische und kulturgeschichtliche Gegenwart hineinreicht; und dass „68“ in der Pädagogik zweitens systematisch die Wiederentdeckung psychoanalytischer und freudomarxistischer Texte aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts genauso erfasst wie das Anknüpfen an die sozialpsychologischen und soziologischen Theorien aus dem Umfeld der Frankfurter Schule. Für sich genommen sind diese beiden Aspekte nicht eben neu, liegen mit diesem Buch nun aber in sowohl differenzierter als auch thematisch konzentrierter Form vor.
Insofern untermauert das Buch nicht nur eine These, die ebenfalls immer wieder vertreten wird – dass „68“ als Phänomen hierzulande die gesellschaftlichen Verhältnisse zu guten Stücken über die Pädagogik kommend erreicht hat –, sondern es gibt den daran beteiligten, komplexen Prozessen auch eine Kontur.
[1] S. dazu z.B. Koenen, Gerd: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967-1977. Frankfurt a. M.: Fischer Verlag 2002, 257ff
[2] Ebd.; s. a. Koenen, Gerd: Vesper – Ensslin – Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2003 (3. Aufl.), 233ff; Kunstreich, Timm: Grundkurs Soziale Arbeit. Sieben Blicke auf die Geschichte und Gegenwart Sozialer Arbeit. Bielefeld: Kleine Verlag 2001, Bd. II., 81ff; Schölzel-Klamp, Marita/Köhler-Saretzki, Thomas: Das blinde Auge des Staates. Die Heimkampagne von 1969 und die Forderungen der ehemaligen Heimkinder. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2010, 57ff
EWR 12 (2013), Nr. 2 (März/April)
68 – Engagierte Jugend und Kritische Pädagogik
Impulse und Folgen eines kulturellen Umbruchs in der Geschichte der Bundesrepublik
Weinheim / München: Juventa 2011
(264 S.; ISBN 978-3779911395; 26,60 EUR)
Alex Aßmann (Mainz)
Zur Zitierweise der Rezension:
Alex Aßmann: Rezension von: Baader, Meike Sophia / Herrmann, Ulrich (Hg.): 68 – Engagierte Jugend und Kritische Pädagogik, Impulse und Folgen eines kulturellen Umbruchs in der Geschichte der Bundesrepublik. Weinheim / München: Juventa 2011. In: EWR 12 (2013), Nr. 2 (Veröffentlicht am 03.04.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/3779911395.html
Alex Aßmann: Rezension von: Baader, Meike Sophia / Herrmann, Ulrich (Hg.): 68 – Engagierte Jugend und Kritische Pädagogik, Impulse und Folgen eines kulturellen Umbruchs in der Geschichte der Bundesrepublik. Weinheim / München: Juventa 2011. In: EWR 12 (2013), Nr. 2 (Veröffentlicht am 03.04.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/3779911395.html