Einen großen Teil seines Buches verwendet Reiser dann dazu, die Rahmenbedingungen pädagogischen Handelns genauer zu umreißen. Dabei ergibt sich für ihn, dass psychoanalytische wie systemtheoretische Ansätze dafür nicht ausreichen, denn: mithilfe psychoanalytischer Überlegungen könnten die Wahrheitsansprüche pädagogischen Handelns theoretisch nicht gefasst werden, während bei systemisch-konstruktivistischen Ansätzen die Gefahr bestünde, dass diese Wahrheitsansprüche überhaupt zum Verschwinden gebracht würden. Aus diesem Grund greift Reiser in den letzten Kapiteln Habermas’ Überlegungen zum Kommunikativen Handeln auf, um damit die Geltungsansprüche pädagogischen Handelns nach Wahrheit, Richtigkeit, Wahrhaftigkeit und Verständlichkeit (114) in seiner pädagogischen Professionstheorie angemessen zu berücksichtigen.
Helmut Reiser möchte mit diesem Buch jedoch noch mehr erreichen: Er möchte ein „fundiertes theoretisches Konzept der menschlichen Entwicklung“ (7) vorstellen, um auf dieser Basis einen von Dogmatismen und Polarisierungen freien und positiven Begriff von Erziehung zu entwickeln. Wie versucht Reiser, dieses anspruchsvolle Vorhaben einzulösen?
Reiser beginnt seine Überlegungen mit einer raschen Diskussion verschiedener psychoanalytischer bzw. psychoanalytisch-pädagogischer Ansätze, um zu dem Ergebnis zu kommen, dass eine triebtheoretische Fassung der Psychoanalyse keine hinreichende Basis für pädagogisches Handeln biete, sehr wohl jedoch die selbstpsychologische Theorie der Motivationssysteme nach Lichtenberg. Jedoch betont er, dass „die Umsetzung der Psychoanalyse nicht innerhalb einer psychoanalytischen Pädagogik, sondern innerhalb des pädagogischen Konzepts der Themenzentrierten Interaktion“ (19) erfolgen könne.
Die zweite grundlegende Perspektive, die für Reiser im Rahmen einer pädagogischen Handlungstheorie zu berücksichtigen ist, ist – wie gesagt – die systemische Perspektive. Während seiner Ansicht nach eine psychoanalytische Perspektive eher dort nutzbringend angewendet werden kann, wo es um einen dichten Kontakt mit Menschen gehe, bei dem sich Übertragungs- und Gegenübertragungsdynamiken entwickeln, biete der systemische Ansatz bessere Möglichkeiten bei Beratungsverläufen und Kurzzeitkontakten.
Im darauf folgenden Abschnitt konkretisiert Reiser drei Bedingungen, denen ein professionelles Konzept genügen muss:
- Ein professionelles Konzept muss so offen formuliert sein, dass verschiedene pädagogische Handlungsfelder damit beschrieben werden können (46);
- darüber hinaus muss es aber so formuliert sein, dass es noch als Steuerungssystem für pädagogisches Handeln fungieren kann (46);
- schließlich soll es die Möglichkeit bieten, Prozesse einzuleiten, in denen eine Passung zwischen individuellen biographischen Erfahrungen und berufsspezifischen Rollenanforderungen stattfinden kann (53).
In einem abschließenden Kapitel behandelt Reiser dann die Grundelemente, Grundlagen und Grundformen des erzieherischen Handelns, die sich auf der Grundlage der TZI ergeben. Den Erziehungsbegriff, den er dabei im Laufe seines Buches entwickelt, bestimmt er schließlich so: Darunter verstehe er „die intentionale Einwirkung auf die korrelierende Entwicklung von Autonomie und Interdependenz durch Arrangements der Beziehungsgestaltung und des Weltbezugs“ (123).
Der Durchgang durch diese verschiedenen, teilweise sogar miteinander in Widerspruch stehenden theoretischen Ansätze, die Reiser immer wieder daraufhin untersucht, welchen Beitrag sie für die Formulierung eines pädagogischen Konzeptes leisten können, macht deutlich, dass es ihm in diesem Buch nicht um die Entwicklung einer stringenten wissenschaftlichen Konzeption geht. Vielmehr entscheide sich „(d)ie Verwendung eines Theorems … nach der konzepteigenen Logik und der Nützlichkeit für die Bewältigung der pädagogischen Paradoxien“ (121). Letztlich entscheidet also das Kriterium der Nützlichkeit von theoretischen Ansätzen für die pädagogische Praxis bzw. für die Entwicklung eines pädagogischen Konzeptes darüber, ob ein theoretischer Ansatz als berücksichtigenswert erscheint. Dieser Anspruch, den Reiser damit formuliert, klingt zwar plausibel, ist jedoch seinerseits selbst nur schwer zu diskutieren, denn was die/der eine PraktikerIn als nützlich erachtet, muss für eine/n anderen PraktikerIn noch gar nicht nützlich sein.
Wendet man sich jedoch den theoretischen Überlegungen zu, die Reiser in seinem Buch entfaltet, so lassen sich sehr wohl Anknüpfungspunkte für Diskussionen finden. Ein Anknüpfungspunkt für eine kritische Diskussion könnte mit der Frage nach der Relevanz der Habermasschen Überlegungen für die Entwicklung eines theoretischen Rahmens für pädagogische Konzepte gegeben sein. Kivelä hat sich mit einer ähnlichen Frage beschäftigt und kommt zu dem Schluss, dass in Habermas’ Diskurstheorie unterstellt sei, dass die handelnden Subjekte bereits in die lebensweltlichen Normen etc. integriert seien [1]. Doch gerade in pädagogischen Situationen fehle dieser lebensweltliche Kontext noch, da die Heranwachsenden die sprachlichen Konventionen noch nicht beherrschten, die Rollenerwartungen noch nicht erfüllten etc., sie also eben durch die pädagogische Interaktion mit all diesen Kontexten erst vertraut gemacht werden müssten. Dieser Aspekt scheint bei Reiser nicht hinreichend gewürdigt zu sein, denn im Zusammenhang mit der Vorstellung der Habermasschen Überlegungen entsteht der Eindruck, als ob die an einer erzieherischen Interaktion beteiligten Person ununterschieden in den Kontext lebensweltlich kommunikativen Handelns eingelassen seien.
Auch die Darstellungen systemtheoretischer Überlegungen zur Theorie psychischer Systeme und der Stellenwert der TZI mag da oder dort diskussionswürdig sein, doch muss abschließend festgehalten werden: Reiser legt mit diesem Buch ein sehr bemerkenswertes Buch zu einem Bereich vor, der vielleicht bislang zu wenig Berücksichtigung gefunden hat – nämlich die Frage, welche Rahmenbedingungen für die Formulierung eines professionellen Konzeptes gegeben sein sollten. Dass er dabei das, was er als „professionelles Konzept“ beschreibt, im Winnicottschen Sinne als „intermediären Raum“ zwischen „Theorie“ und „Praxis“ zu etablieren versucht, erscheint dabei besonders bedenkenswert. Denn mit seiner Fassung des „professionellen Konzeptes“ bemüht sich Reiser in beeindruckender Weise um die Entwicklung von Brückenschlägen zwischen „Theorie“ und „Praxis“, wobei genau dieser Brückenschlag, dieser allmähliche Übergang von komplexen theoretischen Überlegungen hin zu pädagogisch nutzbarem Wissen Gegenstand seiner Untersuchung ist.
[1] Kivelä A (1998): Gibt es noch eine Theorie pädagogischen Handelns? In: Zeitschrift für Pädagogik 44, S. 603-616.