Die vorliegende Monographie reiht sich ein in das groß angelegte Projekt eines Grundrisses der Pädagogik und auch der Erziehungswissenschaft, von dem derzeit bereits zwölf Bände erschienen sind. Am systematischen Anspruch des Gesamtvorhabens müsste jede einzeln bearbeitete Thematik zu messen sein – wenn denn dem Leser ein Einblick in dieses Vorhaben zur Verfügung stünde; dies jedoch ist nicht der Fall. So muss jede der Reihenmonografien ihren Stellenwert im Gesamtgebäude der Erziehungswissenschaft und der Pädagogik aus sich selbst heraus begründen.
Die Bedeutung, die das Geschlecht in Erziehungskontexten spielt, ist, obwohl den praktischen Erfahrungen unmittelbar präsent, in den systematischen Zusammenhang erziehungswissenschaftlicher Reflexionen doch erst marginal einbezogen worden. Insofern kann die Autorin mit Recht an verschiedenen Stellen ihrer Ausführungen auf Defizite der empirischen Forschung und der Theoriebildung verweisen und aus dieser Befundlage heraus zum Teil innovative Untersuchungsperspektiven in Vorschlag bringen. Sie strukturiert ihre Argumentation daher sinnvollerweise zunächst im Zugriff auf das empirische Wissen, das wir von der Geschlechterthematik besitzen; widmet sich dann in differenzierten Zugängen den theoretischen Grundlagen, mit denen sich die Geschlechterthematik von den Anfängen bis in die Gegenwart hinein fassen lässt und nimmt in einem letzten Zugang sowohl die ethischen wie differenztheoretischen Fragestellungen auf, die sie dann illustrierend auf die pädagogischen Handlungsfelder der Familie, des Kindergartens und der Schule bezieht.
In ihrer Monografie widmet sich die Autorin ausschließlich den „geschlechtstypischen“ Merkmalen, die sie von den „geschlechtsspezifischen“ Merkmalen als anlagebedingten unterscheidet. Erstere sind sozial bedingt und damit der Erziehung zugänglich. Die in diesem Sektor (vermeintlich) „auffindbaren Geschlechterunterschiede“ lassen sich auf drei Ebenen beobachten: der der Entwicklung (z.B. von Selbstbewusstsein), der Leistung (im Sinne kognitiver Fähigkeiten) und der des Verhaltens (z.B. in Hinsicht auf soziales Gruppenverhalten, Aggressivität o.ä.). Die Autorin hält hier allerdings mit Nachdruck fest, dass die empirischen Untersuchungen auf diesen Ebenen mit einer Fülle ungelöster methodischer Schwierigkeiten belastet sind. Dies findet seinen Grund nicht zuletzt in der Komplexität des Gegenstandes, in der von einfachen Ursache-Wirkungs-Relationen nicht die Rede sein kann, denn soziale geschlechtstypische Verhaltensweisen seien immer „Effekte gesellschaftlicher Konventionen“. So muss man auch angesichts der auf Schule und Beruf bezogenen empirischen Untersuchungen, die Differenzen in den kognitiven Fähigkeiten, den Interessenpräferenzen für Fächer zwischen Jungen und Mädchen zu identifizieren vorgaben, immer wieder festhalten, dass in ihnen vollkommen ungeklärt blieb, ob es sich bei den Unterschieden um „Effekte einer allgemeinen gesellschaftlichen Geschlechterordnung“ oder etwa um „Ergebnisse einer geschlechtstypischen Erziehung“ handelte.
Das empirische Wissen über die Entstehung von Geschlechterunterschieden ist also in weiten Teilen uneindeutig. Dass dies ein Kennzeichen des Geschlechterdiskurses auch schon in der Vergangenheit war, kann die Autorin in der Darstellung historischer Geschlechterverhältnisse und an den pädagogischen Klassikern (von Campe über Schleiermacher bis hin zu Nohl) plausibel machen. Ihre Exkurse in die Frauenbewegung (unter dem Topos der „geistigen Mütterlichkeit“) und in die Koedukationsdebatten (vom 19. Jahrhundert bis in die feministischen Diskurse des später 20. Jahrhunderts) verdeutlichen unmissverständlich, dass Wissen über (mögliche) elementare Differenzen (etwa) des schulischen Lernens von Jungen und Mädchen uns noch gar nicht zur Verfügung steht.
Ähnlich unsicher wie das empirische ist aber auch das theoretische Terrain der Geschlechterthematik. Das habe seine Ursachen nicht zuletzt darin, dass seit den Tagen Schleiermachers die erziehungswissenschaftliche Theoriebildung sich nicht mehr „prominent“ mit Fragen der Geschlechterordnung befasst habe. Rendtorffs Bemühungen gegenüber, nach dem Aufweis auch von Defiziten der soziologischen und der psychologischen Ansätzen, selbst Theorieperspektiven zu entwickeln, muss man allerdings mit Vorsicht begegnen. Dunkel bleibt ihre Schematisierung, Erziehung sei Aufgabe der Mutter, Bildung Aufgabe des Vaters, Mädchen würden bloß erzogen, Jungen aber auch gebildet – woraus dann etwas schroff (und nicht weiter entwickelt) der Imperativ folgt, Erziehung und Bildung seien „in einem Begriff“ zusammen zu fassen. Auch ihre (sehr weitschweifige) Reklamierung der Psychoanalyse, um daran die Sexualisierung des Geschlechterverhältnisses zu verdeutlichen; ihre seitenlange Beschäftigung mit dem Verhältnis von Sexualität und Tod, führt vom Kern der Theorieproblematik des Themas fort. Ins perspektivlose Schwanken gerät die Autorin schließlich auch dort, wo sie das differenztheoretische Denken so fundamental auf die Geschlechterordnung anwendet, dass man zwar mit ihr noch die Kritik an einer allzu naiven Gleichheitsthese teilen kann, nicht aber den Schritt, dass aus der Kritik des identitätslogischen Denkens die Unmöglichkeit von Definition überhaupt folgt, nachvollziehen mag. Damit würde man sofort jeden Versuch, die Geschlechterproblematik theoretisch-systematisch zu erfassen, ad absurdum führen.
Das will selbstredend auch die Autorin im Grunde nicht riskieren, und daher diszipliniert sie ihr Denken im abschließenden Teil der „Pädagogischen Erwägungen“ in Richtung auf eine erhellende Diskussion der moralphilosophischen Geschlechterdebatte. Deren explosive Frage, ob es eine „weibliche Moral“ gäbe, fokussiert den ethischen Diskurs – der traditionellerweise um die Gerechtigkeitsthematik kreist – auf das Problem von „care“ (Fürsorge) und verknüpft dies mit dem Professionsverständnis der Erziehungsberufe. In dieser Differenz wird eine moralische Grundproblematik angerissen (ohne das damit entstehende Dilemma lösen zu können): Gerechtigkeit setzt Unparteilichkeit, „care“ setzt Parteilichkeit zum Grunde – damit kann Un-Gerechtigkeit zu einem moralischen Impuls werden...
Im Durchgang durch „Pädagogische Handlungsfelder“, in denen die Geschlechterordnung gleichsam auf den Nägeln brennt (Familie, Kindergarten, Schule) kann die Autorin dann eine Reihe von Anregungen für weiterführende empirische Forschungen aufzeigen (z.B. welchen Logiken „geschlechtertypisches Spielen“ folgt). Hier wird die Autorin ein weiteres Mal innovativ und kann die Leser zu eigenem Nachdenken anregen. Insofern ist dies auch ein Buch, dessen Lektüre empfohlen werden muss – weil nur dann die theoretischen Probleme einer systematischen Reflexion des Verhältnisses von Erziehung und Geschlecht für die Erziehungswissenschaft produktiv bearbeitet werden können.
EWR 6 (2007), Nr. 2 (März/April 2007)
Erziehung und Geschlecht
Eine EinfĂĽhrung
(Grundriss der Pädagogik / Erziehungswissenschaft Bd. 30)
(Grundriss der Pädagogik / Erziehungswissenschaft Bd. 30)
Stuttgart: Kohlhammer 2006
(225 S.; ISBN 3-17-018660-4; 18,00 EUR)
Andreas von Prondczynsky (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Andreas von Prondczynsky: Rezension von: Rendtorff, Barbara: Erziehung und Geschlecht, Eine EinfĂĽhrung (Grundriss der Pädagogik / Erziehungswissenschaft Bd. 30). Stuttgart: Kohlhammer 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 2 (Veröffentlicht am 28.03.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/17018660.html
Andreas von Prondczynsky: Rezension von: Rendtorff, Barbara: Erziehung und Geschlecht, Eine EinfĂĽhrung (Grundriss der Pädagogik / Erziehungswissenschaft Bd. 30). Stuttgart: Kohlhammer 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 2 (Veröffentlicht am 28.03.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/17018660.html