Der von Jörg Zirfas vorgelegte Einleitungsband „Pädagogik und Anthropologie“ gehört in die bei Kohlhammer erscheinende Reihe „Grundriss der Pädagogik/Erziehungswissenschaft“, in der bereits Bände im Bereich allgemeiner Erziehungswissenschaft erschienen sind (Treml, Koller). Im Zuge fortschreitender Verschulung des Hochschulstudiums durch Modularisierung und Curricularisierung scheint der Bedarf an einführender und weiterführender Studienliteratur immer noch nicht gedeckt zu sein. Aus innerdisziplinärer Sicht mag der nicht abreißende Strom von neuer Einführungsliteratur allerdings auch auf Bestrebungen schließen lassen, sich trotz der Schwierigkeiten erziehungswissenschaftlicher Begründungsversuche der disziplinären Grundlagen zu versichern. Beide genannten Aspekte können für die Gestaltung von Einführungen im Bereich allgemein pädagogischen Denkens als bedeutsam gelten; denn in einer Zeit, in der die Auseinandersetzung der Studierenden mit den Studieninhalten bis zur Abschlussprüfung vornehmlich durch Sekundärquellen und ‚aufbereitete’ Literatur bestritten wird, kommt den Konzeptionen, Zielsetzungen sowie der konkreten Umsetzung von Einführungen besondere Bedeutung zu. Dieser Punkt verschärft sich noch angesichts der genannten wissenschaftstheoretischen Situation der Erziehungswissenschaft.
Jörg Zirfas kommt aus einer spezifisch pädagogisch anthropologischen Perspektive auf diese Problematik in seinem Buch zu sprechen. Nach der Darlegung „vier kleiner Geschichten“ zum Zusammenhang von Pädagogik und Anthropologie (darunter „Der Mensch als Mängelwesen“ und „Das Kind als Erlöser“) fragt der Autor danach, welche der Geschichten heute als am plausibelsten gelten kann. Zirfas erklärt hier die Unmöglichkeit und Unangemessenheit eines festgestellten anthropologischen Grundlegungsdiskurses – angesichts der doppelten Historizität pädagogischer Anthropologie. Aus diesem Grund kann ein solcher Band nicht im Sinne eines Kanons pädagogisch anthropologischen Denkens konzipiert werden; er bleibt demgegenüber auf die Möglichkeiten und Perspektiven anthropologischen Denkens ausgerichtet. Dieser, sich zu Menschenbildanthropologien kritisch verhaltende, heuristische Zugang zum Gegenstand impliziert zugleich eine Problematisierung des Verhältnisses von Pädagogik und Anthropologie, deren Wechselverhältnis nach Zirfas nicht im Sinne einer Determinationsbeziehung verstanden werden kann. Die einzelnen Kapitel fokussieren abgesehen vom ersten Kapitel, welches die anthropologische Grundlegungsproblematik vertieft, charakteristische Dimensionen menschlicher Existenz: Liminalität, Temporalität, Korporalität, Kulturalität, Sozialität und Subjektivität. In den Kapiteln verbinden sich historische Rekonstruktionen der Themenbereiche mit der Auseinanderlegung exemplarischer Einzelmotive. Das letzte Kapitel gibt einen Ausblick.
Der Abriss pädagogisch anthropologischer Konzeptionen, der im ersten Kapitel vorgenommen wird, beschränkt sich auf die modernen Diskussionen zur Anthropologie (v.a. Rousseau, Kant, Schleiermacher und die anthropologischen ‚Klassiker’ des 20. Jh.). Er gipfelt in einem differenzierenden Systematisierungsversuch, zu dem u.a. der integrativ-basale Ansatz (Flitner, Roth), der phänomenologische (Langeveld, Rang, Lassahn) sowie der dezidiert plurale, historische Ansatz (Kamper, Wulf, Gebauer) gehören, dem sich auch Zirfas verpflichtet fühlt. Die Auflistung der Ansätze, ihr implizites Nebeneinander, ist allerdings unbefriedigend, insofern die systematischen Dimensionen anthropologischen Fragens außen vor bleiben, welche allererst die pädagogisch-philosophischen Herangehensweisen an den Menschen plausibel machen. In dieser Hinsicht muss auch der historische Abriss äußerlich und willkürlich bleiben: Die Problematizität anthropologischen Fragens „Was ist der Mensch?“, die alle genannten Ansätze bewegt, und die sich schon im inneren Spannungsverhältnis der aristotelischen Bestimmung des Menschen als zoon logon echon ausdrückt, wird nicht eigens entwickelt. Der Verschränkung von Anthropologie und Anthropologiekritik, die Zirfas in der Formulierung eines „bilderlosen Bildes“ des Menschen fasst, kann der Leser ohne Vorkenntnisse daher kaum als das systematische Leitproblem anthropologischen Forschens (ein Leitproblem, das sich auch in einer „bescheidenen“ historischen pädagogischen Anthropologie nicht ausschalten lässt) ausmachen.
Das Kapitel zur Liminalität exponiert die Frage menschlicher Veränderung, menschlichen Fortschreitens und Werdens. Zirfas zeichnet die historische Entwicklung des Vervollkommnungsgedankens im Hinblick auf Bildungs- und Erziehungsaspirationen nach (Stichwort: perfectibilité). Im zweiten Teil des Kapitels geht Zirfas auf die problematische Rückseite menschlicher Vollkommenheitsbestrebungen ein, wenn er den damit verbundenen Normalisierungsdruck und den entsprechenden Horizont sozialer Erwartungen für Menschen expliziert, die mit Behinderungen leben. Hier wird die Verquickung von anthropologischer Bestimmung und gesellschaftlichen Ausschlusstendenzen einleuchtend auf den Punkt gebracht.
Im Kapitel zur Temporalität rekonstruiert der Autor historisch die Durchsetzung der Zeit zum bestimmenden Organisationsmaß menschlichen Lebens und der Lebensplanung sowie deren Institution in Erziehungs- und Bildungsprozessen, während im zweiten Teil des Kapitels das Verhältnis des Menschen zu sich im Gedächtnis (individuell und kulturell) behandelt wird.
Das Kapitel zur Korporalität exponiert zunächst die moderne Disziplinierungsgeschichte des Körpers (Foucault), wobei die Formation des Menschen zum Schüler besonders einleuchtend am Ritual der Prüfung konkret gemacht wird. Darauf folgend wendet sich Zirfas dem Ekel zu, an dem als Grundmoment menschlicher Existenz die Verschränkung von Körperlichem und Sozialem plausibilisiert wird.
Im Kapitel zur Kulturalität bezieht sich Zirfas besonders auf einen – der Berliner anthropologischen Forschung verpflichteten – von Performativität und Theatralität bestimmten Kulturbegriff, dessen (aktuelle) Tragfähigkeit vor allem am Inszenierungscharakter sozialer Wirklichkeit aufgezeigt wird. Zirfas’ Darlegung scheint in der Tat geeignet, den einführenden Leser über den alles und nichts sagenden Kulturbegriff hinaus zur Gestaltung von Lebensläufen und Lebenslagen in heutigen Gesellschaften zu führen. Es schließt sich ein Abschnitt über Fremdheit als vielschichtige Erfahrung von Differenz an, wobei nicht klar wird, wie dieser Anschluss zu denken ist, d.h. wie dieser Abschnitt sich in die Logik des Kapitels fügt.
Entgegen der oft auftretenden individualistischen Tendenz anthropologischen Nachdenkens geht das darauf folgende Kapitel auf die Sozialität ein: Gewendet auf die pädagogische Beziehung liegt eine Explikation des Themas anhand des Generationsbegriffs nahe, der von der Antike bis heute rekapituliert wird. Im zweiten Teil wählt Zirfas den Themenkreis „Rituale und Ritualisierungen“ aus, da diese für „die Entstehung und Praxis von Religion, Gesellschaft und Gemeinschaft, Politik und Wirtschaft, Kunst und Kultur, Erziehung und Bildung […] unerlässlich“ sind (140). Zirfas stellt hier einerseits vor, wie Soziales durch Rituale allererst zur Erscheinung kommt, konstitutiert wird, und wie andererseits die Ritualforschung die Verhältnisse im Sozialen analysieren kann, wobei für eine Pluralität der Forschungsansätze und Ritualbegriffe plädiert wird. Bei der Rekonstruktion der unterschiedlichen Ritualmodelle wären Veranschaulichungen hilfreich gewesen.
Im siebten Kapitel zur Subjektivität geht es erstens mit Kant um die Autonomieproblematik, zweitens um „Identitätsbildungen“ (historisch-systematisch). Die Erarbeitung des Autonomiegedankens erscheint verkürzt, da die für den Kantischen Subjektivitätsbegriff relevante Doppelstruktur von empirisch-transzendental nicht entfaltet wird – in dieser Doppelung wird das Rätsel anthropologischer Selbstverständigung fassbar und erscheint daher für die vorliegende Einführung besonders relevant. Es stellt sich zudem die Frage, ob in der mit Kant nachvollzogenen Autonomie als Erziehungsziel nicht eine Paradoxie von Erziehung steckt, die auch auf indirektem Wege (also als Bereitstellung von Bedingungen, dass der Zögling autonom werden kann) nicht auflösbar ist.
Was mich an dem Einführungsband von Jörg Zirfas besonders überzeugt, ist, dass der Band sich nicht im Wiederkäuen der immer gleichen (anthropologischen) Klassiker erschöpft: Neben den zentralen Figuren der pädagogischen Theoriegeschichte werden aktuelle kulturwissenschaftliche Themenkreise behandelt und in der pädagogischen Diskussion marginalisierte Denker, wie z.B. Freud oder Sartre, einbezogen. Ich denke, dass der Band an dieser Stelle seinen "heuristischen" Anspruch einlöst. Die Aktualität, die Vielseitigkeit und die Nähe zur Forschung ist etwas, was vielen Einführungen heute fehlt, die sich auf Theoriebestände von vor 30 Jahren beziehen. Gleichwohl darf sich die Heuristik nicht vom Anspruch, sich systematisch des anthropologischen Nachdenkens zu versichern, entlasten. Damit ist nicht der Anspruch einer Architektonik anthropologischer Fragestellungen gemeint, aber doch der einer philosophisch vertieften Problematisierung, z.B. der anthropologischen Differenz (der Ausblick, der mit einem Streiflicht auf Themen, wie z.B. der Dialektik von Geschwindigkeit und Langeweile, ziemlich unverbunden und unverbindlich erscheint, hätte hier Raum geboten). Eine solche systematisch reflexive Vorgehensweise halte ich aus einem weiteren Grund für ein Desiderat: Studierende in einen erziehungswissenschaftlichen Forschungsbereich einzuführen, heißt auch, sie in das Denken dieses Bereichs, u.a. in wichtige Denkfiguren, einzuführen. Vorliegend hätte dies (möglicherweise zu ungunsten der inhaltlichen Fülle) eine andere Textgestaltung erfordert: mehr gedanklich entwickelnd und diskursiv kritisch (wie dies beispielsweise in der Einführung Kollers geschieht) als zusammentragend. Des weiteren ist die Tatsache, dass viele altgriechische und lateinische Begriffe weder übersetzt noch ihr Hintergrund erklärt werden, als nachteilig für die Zielgruppe des Textes zu bewerten.
Die behandelten Themenkreise scheinen mir indessen gut gewählt, wenn man auch fragen kann, ob im Kapitel über Korporalität nicht auch der Selbstbezug des Menschen in seiner Leiblichkeit hätte thematisiert werden müssen, oder ob aus erziehungs- und bildungstheoretischer Sicht das Grundgefühl der Scham (im Hinblick auf die Identitätskonstitution im Spannungsfeld des Sozialen) nicht nahe liegender gewesen wäre als der Ekel. Möglicherweise hätte auch die Theatralität und Performanz im Kapitel zur Kulturalität zugunsten der Pluralität und Differenz des Kulturellen nicht einen so großen Raum einnehmen müssen (da im Zuge der Sozialität ausführlich über Ritualisierungen gesprochen wird). Über solche Schwerpunktsetzungen kann immer diskutiert werden. Insgesamt liegt hier ein interessantes und reichhaltiges Buch vor, das vor allem für Studierende mit Vorkenntnissen geeignet scheint, vertiefende Zugänge zu aktuellen anthropologischen Themen zu gewinnen.
EWR 4 (2005), Nr. 5 (September/Oktober 2005)
Pädagogik und Anthropologie
Eine EinfĂĽhrung
Stuttgart: Kohlhammer 2004
(206 S.; ISBN 3-17-017977-2; 17,00 EUR)
Christiane Thompson (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christiane Thompson: Rezension von: Zirfas, Jörg: Pädagogik und Anthropologie, Eine EinfĂĽhrung. Stuttgart: Kohlhammer 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/17017977.html
Christiane Thompson: Rezension von: Zirfas, Jörg: Pädagogik und Anthropologie, Eine EinfĂĽhrung. Stuttgart: Kohlhammer 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/17017977.html