Dieses Buch ist eine Herausforderung, den Blick zu weiten auf die gesamte Spannbreite kindlicher Entwicklungsbedürfnisse und pädagogischer Prozesse. Es macht Mut, eben diese Spannung auszuhalten und auszugestalten zwischen den Polen Selbststeuerung und Erziehung, Wahl-Angebot und Anforderung, Begleiten und Einfluss nehmen.
Bernd Ahrbeck verweist auf jene Seite der kindorientierten Pädagogik, die wir leicht aus den Augen verlieren in der Freude, den Unterricht ganz geöffnet zu haben für die Lernbedürfnisse und –zugänge der Kinder. Es ist wunderbar, wie vieles, das man ihnen früher kleinschrittig beibrachte, sie selbst entdecken und in großen Schwüngen kreativ erarbeiten können. Doch daneben haben sie andere elementare Bedürfnisse, die uns in anderer Weise fordern. Kinder brauchen auch Erziehung. Der Autor belegt von mehreren Wissenschaftsbereichen her, was das heute und für die Kinder von heute bedeutet. Anderes als in der autoritären Vergangenheit natürlich. In die Kälte, Härte, Fühllosigkeit von damals führt kein Weg zurück. Im Gegenteil, wir sind eingeladen, noch genauer zu erspüren, was die Kinder außer Spaß, Erfolg und Zustimmung zu ihrer Entwicklung nötig haben, aber nicht so leicht ausdrücken können.
Das ist zum einen die Orientierung an konturierten Erwachsenen. Die Lehrerin, der Lehrer sind mit ihrer gefestigten Persönlichkeit, ihren vielseitigen Interessen und Kompetenzen entscheidende Lerngegenstände. Aber nur wenn sie immer wieder deutlich in den Mittelpunkt treten, etwa als Vorbilder und Garanten kultivierter Umgangsformen, können sie den Kindern Lust darauf machen, auch so erwachsen zu werden, und ihnen längerfristige Perspektiven, Vorstellungen von Zukunft eröffnen. Es reicht einfach nicht aus, Lernangebote zu machen, sich zurückzunehmen, die Kinder zu begleiten und auf ihre Selbstregulierungskräfte zu vertrauen. Wenn z.B., wie ich in einem Band zum Demokratie-Lernen lese, LehrerInnen zusehen, wie die Kinder jahrelang vergeblich versuchen, sich mit ihrer so gut erdachten "Stop-Regel" gegen Quälereien zu schützen, geben sie einer ganz unerwachsenen Angst nach, sich bei denen, die sich nicht stoppen lassen wollen, unbeliebt zu machen. Erziehungsvergessenheit nennt Ahrbeck Fälle dieser Art und analysiert viele davon. Diese PädagogInnen vernachlässigen vor allem ihre Aufgabe als Anwälte der aggressiven Jungen, missachten deren dringenden Nachholbedarf an Entwicklung zur Menschlichkeit. Dafür müssen sie mit ihnen gezielt in Gruppen arbeiten – das positive Beispiel aus dem Demokratie-Band - und ihnen immer wieder vermitteln, dass sie ihnen durchaus zutrauen, verständnisvolle, kommunikative, warmherzige Menschen zu werden. Selbst meine mattesten Sonderschulkinder wurden munter, wenn ich ihnen sagte, welches Bild ich mir von jedem machte, was ich ihm zutraute und was ich entschieden von ihm erwartete. Einiges erboste sie auch, und es gab kräftigen Streit.
Das ist das zweite: die Reibung mit einem Erwachsenen, der nahe genug an das Kind herantritt. Die Auseinandersetzung wird umso heftiger, je klarer die Lehrperson die Ansprüche und Spielräume definiert. Diesen Konflikt braucht ein Kind neben dem freundlichen Gewährenlassen auch, um seine eigenen Konturen zu erkunden und zu markieren. Ahrbeck zeigt aus psychoanalytischer Sicht, dass der Weg heraus aus der Mutter-Kind-Beziehung über den Grundkonflikt mit dem Vater oder mit einer anderen wichtigen Bezugsperson führt. Diese dritte Größe im Beziehungsdreieck setzt den unendlichen Wünschen des Kindes an die Mutter ein Ende, aber auch ihrer unendlichen Macht. Das bringt beiden zugleich Schmerz und Befreiung. Eine Kollegin schafft schon am Schulanfang die nötige Klarheit: "Ich freue mich, das ihr da seid! Aber ich bin nicht eure Mutti. Die Mutti ist zum Liebhaben, und ich bin eure Lehrerin." Aufseufzen und Aufatmen folgt regelmäßig. Schulkind zu werden, wird wirklich zu einem großen Schritt, auch wenn fließende Übergänge ihn erleichtern.
Als dritte Bezugsgröße tritt an das Schulkind auch die Gesellschaft mit ihrem Reproduktionsanspruch heran. Das ist nach PISA wieder mehr anerkannt, wie das Ringen um einen Kanon von Mindest-Anforderungen zeigt. Bei aller Relativierung und Vielfalt möglicher Lern- wie Lebensziele sind Kinder doch darauf angewiesen, das macht Ahrbeck sehr deutlich, dass die Erwachsenen, die für ihre Entwicklung verantwortlich sind, diese Verantwortung spürbar wahrnehmen. Das heißt, dass sie sich der Zielfrage stellen und zu den Zielen, die sie setzen, stehen, auch wenn sie mit den Kindern die einzelnen Lernvorhaben aushandeln und planen. Neben die vorhandenen, teilweise durch Medien manipulierten Interessen der Kinder können so neue Interessen treten, geweckt durch neue Anforderungen.
Außerordentlich hilfreich, allseits abgestützt durch viele Literaturhinweise, ist dieses Buch für das Studium und die kritische Analyse der verschiedenen theoretischen Positionen, die in den letzten Jahrzehnten eine weit reichende Erziehungsabstinenz zu legitimieren versuchten, z.B. die Konsequenzen, die postmoderne Pädagogen wie Giesecke aus der Globalisierung zogen, und die Lerntheorie des radikalen Konstruktivismus, nach der jedes lernende System Schöpfer seiner internen Strukturen ist. Es braucht zwar Angebote aus der Umwelt, heißt es da, selektiert und verarbeitet sie aber nach höchsteigenen Mustern. Wer dieses biologische Axiom geradewegs auf Menschen anwendet, noch verstärkt durch die neoliberalistischen Normen der sog. freien Marktwirtschaft, gelangt zu problematischen Verhaltensweisen. Das wird am Beispiel der sozialen Arbeit mit schwer gefährdeten Kindern und Jugendlichen verdeutlicht. Sie ist z.B. in Hamburg zur kundenorientierten Dienstleistung geschrumpft, die den Betroffenen die Entscheidung über die gewünschte Hilfeleistung überlässt, und das auch in Krisen- und Grenzsituationen, in denen sie dazu gar nicht mehr in der Lage sind.
So wichtig es ist, die jungen Menschen als Experten ihres Lebens ernst zu nehmen, so nötig ist es gleichwohl, dabei auch ihre Grenzen zu achten. Die untersuchten Theorien erweisen sich für ein komplettes Konzept des Kindseins als nicht zureichend. Kinder sind zwar schon als Säuglinge viel kompetenter und selbständiger, als wir dachten, dazu referiert der Autor zahlreiche empirische Forschungen über das frühe Lebensalter. Aber sie sind zugleich in hohem Maße bedürftig, angewiesen auf die emotionale Bindung an verlässlich anwesende, ihnen zugewandte Menschen. Sie finden sich besser, als wir es fassen können, in unserer Konsum- und Medienwelt zurecht und nehmen doch Schaden, wenn wir sie mit einem Übermaß unverdaulicher Medieninhalte allein lassen. Nach wie vor, so Ahrbecks Botschaft, haben wir als Erwachsene den Generationenvertrag zu erfüllen, der nachwachsenden Generation ein mündiges und erfülltes Leben in dieser komplexen Welt zu ermöglichen. Vielleicht findet jemand dafür ein weniger problembeladenes Wort als Erziehung.
Ich empfehle sehr, dieses Buch zu lesen und sich aufzuregen – über die kritisierten Positionen oder Ahrbecks eigene oder beide - und dann selbst zu formulieren, was Kinder von Erwachsenen brauchen. Seminare in der Lehreraus- und -fortbildung, Lehrer- und Erzieherkonferenzen dürften darüber sehr lebhaft werden. Auf die Ergebnisse wäre ich neugierig, der Autor sicher auch.
EWR 3 (2004), Nr. 6 (November/Dezember 2004)
Kinder brauchen Erziehung
Die vergessene pädagogische Verantwortung
Suttgart: KohlHhammer 2004
(171 Seiten; ISBN 3-17-017973-X; 19,80 )
Marion Bergk (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Marion Bergk: Rezension von: Ahrbeck, Bernd: Kinder brauchen Erziehung, Die vergessene pädagogische Verantwortung, Suttgart: KohlHhammer 2004. In: EWR 3 (2004), Nr. 6 (Veröffentlicht am 30.11.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/17017973.html
Marion Bergk: Rezension von: Ahrbeck, Bernd: Kinder brauchen Erziehung, Die vergessene pädagogische Verantwortung, Suttgart: KohlHhammer 2004. In: EWR 3 (2004), Nr. 6 (Veröffentlicht am 30.11.2004), URL: http://klinkhardt.de/ewr/17017973.html