EWR 5 (2006), Nr. 3 (Mai/Juni 2006)

Rolf Göppel
Das Jugendalter
Entwicklungsaufgaben – Entwicklungskrisen – Bewältigungsformen
Stuttgart: Kohlhammer 2005
(258 S.; ISBN 3-17-017415-0; 24,00 EUR)
Das Jugendalter Spätestens seit Siegfried Bernfeld als Chronist und wissenschaftlicher Beobachter zugleich die Jugendphase als erziehungswissenschaftliches Feld eröffnete, blickt die erziehungswissenschaftliche Forschung immer wieder gebannt auf dieses Phänomen. Als Phänomen ist das Jugendalter am besten zu beschreiben, weil es sich aus einer verwirrenden Mischung von persönlichen Erfahrungen, biographischen Spuren, gesellschaftlichen Vorstellungen und wissenschaftlichen Deutungsmuster zusammensetzt. Rätselhaft bleibt das Jugendalter dennoch, weil es sich so vielstimmig allen Versuchen einer eindeutigen Definition zu entziehen scheint. In diesem Zusammenhang bringt Rolf Göppel Licht in diesen schillernden Lebensabschnitt, indem er fragt: „Jugend – was ist das eigentlich?“

Weil die Diskussion über das Jugendalter und über Jugendprobleme fest zum Alltagsdiskurs gehört (mit eindeutigen Konjunkturen über die Probleme der Jugend), ist diese Frage von hoher erkenntnistheoretischer Relevanz und durchzieht den gesamten ersten Teil des Buches. In diesem ersten Teil wird in einer schlüssigen und überaus anschaulichen Systematik das Jugendalter in unterschiedlichen theoretischen Deutungsperspektiven beschrieben. „Jugend als...“ ist dabei die leitende rhetorische Figur, um die unterschiedlichen theoretischen Positionen und disziplinären Zugriffe zu charakterisieren. Von den klassischen Positionen der Jugendpsychologie bis hin zu pädagogischen Positionen reicht dabei der weite Horizont. Erkennbare Präferenz haben dabei immer die Durchdringungen von affektiven und kognitiven Aspekten, von innerem Erleben und äußerer Welt.

So verwundert es nicht, dass gewissermaßen parallel zu der Beschreibung aus der theoretischen und disziplinären Sicht eine weitere Spur angelegt ist: Aus dem zum modernen Klassiker avancierten „Coming of age“ – Roman Crazy von Benjamin Lebert werden immer wieder Passagen eingestreut, die die ‚erlebte’ Jugend, das verwirrende Spiel um Ablösung, Liebe, Sexualität und das eigene Verhältnis zur Welt in einer ästhetisch kulturellen Verdichtung präsentieren. Wie aus einem kulturellen Speicher der Literatur bringen diese Beispiele die Formen des Erlebens von Jugend auf den Punkt, der heißt: Jugend ist und bleibt ein besonders intensives, subjektiv höchst unterschiedlich erlebtes Lebensgefühl. Weil diese Beschreibungen aus einer Innenperspektive eines jugendlichen Autors kommen, der den Sinn der Jugend als „großes Fadensuchen“ bezeichnet, ist es nur folgerichtig, dass diese inneren Bilder davon, was es bedeutet, Jugendlicher zu sein, weiter ausgelotet werden. Dies allerdings aus der schlüssig begründeten Perspektive einer „narrativen Pädagogik“, die autobiographische Alltagserzählungen und Geschichten exemplarisch zu lesen weiß:

Was kommt heraus, wenn man Jugendliche nicht mit standardisierten Fragebögen konfrontiert, in deren Fragestellungen und Antwortvorgaben sich immer schon die theoretischen Vorannahmen der Verfasser widerspiegeln, sondern einfach einen ganz weiten und offenen Erzählimpuls vorgibt? Was rückt bei den Jugendlichen selbst ins Zentrum, wenn sie in komprimierter Form versuchen, Auskunft über das Charakteristische ihres Lebensgefühls zu geben?“ (76)

In pädagogischer Hinsicht werden diese Geschichten Auskunft geben können über die Qualität von Konfliktmustern, die sich in Familien aufbauen, sowie über die individuellen Formen der Durchsetzungs-, Kompromiss-, und Abgrenzungsstrategien, die Jugendliche in ihren Ablösekämpfen mit den Erwachsenen verfolgen (vgl. 78).

Die im zweiten Teil des Buches präsentierten und interpretierten Geschichten stammen aus zwei Hauptseminaren, die Rolf Göppel als Hochschullehrer zum Thema „Entwicklungsaufgaben und Probleme des Jugendalters“ veranstaltet hat. Studierende hatten sich dabei entlang von Texten aus dem Lehrbuch von Helmut Fend „Entwicklungspsychologie des Jugendalters“ vor allem selbstreflexiv mit den eigenen Jugenderfahrungen auseinanderzusetzen. Dabei handelt es sich freilich um keinen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung, keine „problematische“ Klientel, wie etwa die strukturell benachteiligte Schülerschaft einer Hauptschule. Alle Auskunftgebenden stammen mehr oder weniger aus einem relativ homogenen „liberal-intellektuellen“ Milieu, die an einer Pädagogischen Hochschule auf das Lehramt hin studieren. Dennoch sind diese Erzählungen vielschichtig, spannend und von besonderem Interesse: Die These des Verfassers hierzu lautet nämlich, „dass die eigenen biographischen Erfahrungen generell von großer Bedeutung für die späteren pädagogischen Einstellungen und für den Umgangsstil mit Kindern und Jugendlichen sind“ (80).

Ein gelungener (selbst-) reflexiver Umgang mit der Bewältigung der Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz kann gerade bei dieser Klientel, die sich selbst noch in einer Grenz- und Übergangssituation der Ausbildung befindet, günstige Effekte bewirken. Sie bestehen sicherlich in der Etablierung einer fachlichen Expertise und pädagogischen Kompetenz Fallgeschichten, die sich im zukünftigen pädagogischen Alltag immer wieder ereignen werden, lesen und verstehen zu können. Typische Muster und extreme Varianten erkennen zu können sowie – das wäre ein nicht zu unterschätzender Aspekt – Gelassenheit zu entwickeln wären der Gewinn einer konsequenten Nutzung der Potentiale einer narrativen Pädagogik im Ausbildungskontext. Eine Aussage einer Studierenden zu den eigenen Auseinandersetzungen mit den zentralen Entwicklungsaufgaben des Jugendalters bringt klar auf den Punkt, was sich in den Begegnungen im pädagogischen Feld oft strukturell überschneidet: „Die Frage ‚Wer bin ich?’ stellt sich mir heute noch sehr oft. Eigentlich sollte man meinen, dass meine Adoleszenz lange genug vorbei ist und ich eine befriedigende Antwort auf diese Frage gefunden habe. Das ist leider nicht der Fall“ (246).

Im Sinne der Bildungsarbeit an der Universität – vor allem im Hinblick auf die künftige Lehrertätigkeit – wäre diese autobiographische (Fall-) Geschichte zu interpretieren als chancenreiches Offenhalten des „adoleszenten Möglichkeitsraumes“ (Vera King), um die Perspektive der Schülerinnen und Schüler nicht nur besser zu verstehen, sondern um ihnen ein bedeutsamer Erwachsener zu sein, der sie verantwortungsvoll durch das Jugendalter lotsen kann.
Es gehört sicherlich zu den spannenden Befunden des Buches, darauf zu insistieren, dass mit Ende der Jugendzeit bzw. in der Grenz- und Übergangssituation des Lernens an der Hochschule, die Entwicklungsaufgaben des Jugendalters noch lange nicht abgeschlossen sind. Sie pädagogisch zu erschließen, das heißt selbstreflexiv zu nutzen, in autobiographischen Erzählungen zum Ausdruck zu bringen, heißt zu erkennen, welche Räume es für die adoleszenten Potentiale gibt. Das wären die Impulse, die in der Lehrerausbildung noch lange nicht angekommen sind. So liefert das Buch von Rolf Göppel nicht nur eine überaus systematische Darstellung der theoretischen Deutungsmuster des Jugendalters (die freilich immer eine subjektive begründete Auswahl zeigen – jenseits der favorisierten entwicklungspsychologischen Komponenten wären sicherlich in methodologischer und theoretischer Hinsicht die ideologiekritischen Zugänge der US-Amerikanischen Critical Pedagogy sowie die Jugend-Forschungen aus dem Centre for Contemporary Cultural Studies in Groß-Britannien der Systematik hinzuzufügen), sondern vor allem ein eindrückliches Plädoyer für die Potentiale einer narrativen Pädagogik, die weit reichende Bildungsprozesse für angehende Lehrkräfte in die Wege leiten kann.

Wer wird dieses Buch mit Gewinn lesen? Durch den klaren Bezug auf die unterschiedlichen pädagogischen Felder werden trotz der interdisziplinären Referenzen vor allem Studierende der Erziehungswissenschaft, die sich einen Überblick über die strukturell zum Jugendalter gehörenden Krisen- und Konfliktmuster sowie deren theoretischen Deutungsmustern verschaffen wollen, angeregt nicht nur wieder die „Klassiker“ in den Originalquellen zu lesen, sondern auch die eigenen Disziplingrenzen zu überschreiten, um die schöpferischen Potentiale des Jugendalters im breiten Ausschnitt der empirischen und theoretischen Jugendforschung auszuleuchten. Für Lehrende könnte der bereits angesprochene selbstreflexive und autobiographische Zugang der narrativen Pädagogik neue Impulse für universitäre Bildungsprozesse anregen und für alle anderen pädagogischen Professionen wäre es sicherlich ein wichtiger Ertrag, nach der Lektüre des Buches die gegenwärtig dominierende Perspektive auf die frühkindlichen Bindungserfahrungen insoweit wieder zu relativieren, und eine Sensibilität dafür zu entwickeln, dass die Verfügbarkeit von und Beziehungsqualität zu bedeutsamen Erwachsenen im adoleszenten Möglichkeitsraum in der Tat produktive Möglichkeiten des Verarbeitens der bisherigen Lebensgeschichte, mithin Lernen, ermöglichen kann.
Sven Sauter (Hagen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sven Sauter: Rezension von: Göppel, Rolf: Das Jugendalter, Entwicklungsaufgaben - Entwicklungskrisen - Bewältigungsformen. Stuttgart: Kohlhammer 2005. In: EWR 5 (2006), Nr. 3 (Veröffentlicht am 30.05.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/17017415.html