Die Volksaufklärung, verstanden als praktische Reform- und Erziehungsbewegung, die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts die Prinzipien einer mündigen und toleranten Gesellschaft an möglichst breite Bevölkerungskreise zu vermitteln suchte, ist in den vergangenen beiden Jahrzehnten als Gegenstand der deutschen Aufklärungsforschung auf ein stetig wachsendes Interesse der Fachkollegen gestoßen. Insbesondere Holger Böning und Reinhart Siegert haben mit ihrem seit 1990 erscheinenden und auf vier Bände angelegten biobibliographischen Handbuch zur Volksaufklärung sehr reichhaltiges Material zusammengetragen, das schon jetzt ganz deutlich werden lässt, wie überaus umfangreich das Schrifttum für die Hand des “gemeinen Mannes” im Zeitalter der Aufklärung im deutschen Sprachraum war [1].
Eine in dieser Hinsicht besonders wichtige literarische Gattung des 18. Jahrhunderts, die moralisch-sittliche Beispielerzählung, ist jedoch trotz aller Fortschritte der einschlägigen Forschung bislang noch kaum erfasst und erst recht nicht systematisch ausgewertet worden. Mit ihrem neuen Handbuch zur narrativen Volksaufklärung hat die Würzburger Volkskundlerin Heidrun Alzheimer-Haller diese Forschungslücke nun endlich auf eindrucksvolle Weise geschlossen: Ihrem selbstgestellten Anspruch, Autoren, Strukturmerkmale, Distribution, Rezeption und Funktion der moralischen Geschichten des Zeitalters der Aufklärung gründlich zu beschreiben und umfassend zu interpretieren, wird sie in ihrer umfangreichen Studie vollauf gerecht.
Um die spezifischen Charaktermerkmale der von ihr untersuchten Textsorte zu kennzeichnen, grenzt Alzheimer-Haller die moralische Geschichte zunächst deutlich von den der Form nach durchaus verwandten Gattungen der spätmittelalterlichen oder barocken Exempel, Legenden, Märchen oder Fabeln ab. Im Gegensatz zu diesen literarischen Vorläufern, so die Autorin, zeichne sich die moralische Geschichte nämlich durch „ihre Kürze und ihre alltagsweltlichen, durchgehend profanen Inhalte“ aus und fordere den Leser eher implizit als direkt „zur Nachahmung vorbildlichen bzw. zur Ablehnung unangebrachten Handelns ihrer Protagonisten“ (112) auf. Zudem zielten die moralischen Geschichten des Zeitalters der Aufklärung stets darauf ab, durch eine besonders anschauliche und die Einbildungskraft der Leser herausfordernde Sprache nicht nur den Verstand, sondern auch „das Herz des Menschen“ (118) zu erziehen. In Anlehnung an die Prinzipien der moralischen Vorlesungen eines Christian Fürchtegott Gellert habe dies auch schon zu Beginn der 1770er Jahre der philanthropische Pädagoge Johann Bernhard Basedow als einer der ersten und wichtigsten Verfasser moralisch-sittlicher Beispielerzählungen wiederholt ausgeführt (vgl. ebd.).
Indem Alzheimer-Haller sich Bönings und Siegerts Auffassung anschließt, dass die belehrende Gebrauchsliteratur als Aufklärungsliteratur für das Volk seit den 1770er Jahren bis weit in die 1840er Jahre Verbreitung fand, kann sie in einer stupenden Textrecherche annähernd 1000 Titel zusammenstellen, wodurch die zwischen 1780 und 1848 in Deutschland veröffentlichten moralischen Geschichten wohl nahezu vollständig abgebildet werden. Sämtliche von ihr erfassten Titel hat sie in Form eines ausführlichen Anhangs zum Handbuch als „Bibliographie narrativer volksaufklärerischer Literatur“ aufgelistet. Aus diesem gewaltigen Quellencorpus hat die Autorin wiederum 50 Schriften ausgewählt, deren Inhalt sie einer besonders gründlichen und systematischen Analyse unterzieht: Neben so einflussreichen Texten wie Friedrich Eberhard von Rochows ‚Kinderfreund’ von 1776 und Christian Gotthilf Salzmanns ‚Elementarbuch’ von 1782/3 sind dies unter anderem auch Anna Steins heute nicht mehr so bekanntes ‚Tagebuch’ von 1846 oder die im Jahre 1848 von Heinrich Schwarz verfassten ‚Erzählungen und Parabeln für die liebe Jugend’.
Die von Alzheimer-Haller „stichprobenartig durchgeführte Sequenzanalyse der moralischen Geschichten“ (121) lässt eine durchweg stabile Erzählstruktur dieser Textsorte erkennen, die nach einem sehr einfachen Schema aufgebaut ist: 1. Der männliche oder weibliche Protagonist der Erzählung wird mit einer verlockenden oder beängstigenden Situation konfrontiert; 2. Nach Überwindung großer innerer oder äußerer Widerstände ringt er sich zu einer „schönen Tat“ durch; 3. Schließlich empfängt der Held für seine Tat eine entweder ideelle oder materielle Belohnung, die den Leser zur Nachahmung der moralisch guten Handlung animieren soll: Tugendhaftes Handeln, so der Tenor der moralischen Geschichten, zahlt sich also stets aus und führt bei strikter Befolgung letztlich unweigerlich zur Verbesserung der persönlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse.
Nach Alzheimer-Haller sind die von den Autoren der moralischen Geschichten bevorzugt dargestellten Tugenden „Ordnung, Fleiß, Sparsamkeit, Reinlichkeit, Ehrlichkeit, Zufriedenheit, Mäßigung, Häuslichkeit, Gottesfürchtigkeit und Toleranz“ (135). Auch die Aufgeschlossenheit für wissenschaftliche Neuerungen wird in den moralisch-sittlichen Beispielerzählungen immer wieder angemahnt, wobei auffallend häufig auf die segensreiche Wirkung des von Benjamin Franklin um 1750 erfundenen Blitzableiters hingewiesen wird. Dass die moralischen Geschichten ihre Leser zu rational agierenden, emotional ausgeglichenen, sozial engagierten und mündigen Persönlichkeiten erziehen wollen, dürfte aufgrund dieses von Alzheimer-Haller präsentierten Befundes unstrittig sein. Dass aber die ständische Ordnung – wie von der Autorin ebenfalls behauptet – in den moralischen Geschichten niemals in Frage gestellt wird, scheint eine etwas einseitige Interpretation der Quellen zu sein: Zumindest Salzmann, der doch in Alzheimer-Hallers Untersuchung einen gewichtigen Part einnimmt, hat Franklin jedenfalls nicht nur als Erfinder des Blitzableiters, sondern auch als politisch nachahmenswürdigen Begründer des ersten demokratischen Freistaats der Moderne beschrieben und verehrt [2].
Doch welcher Berufsgruppe gehörten nun die Autoren der moralisch-sittlichen Beispielerzählungen mehrheitlich an und welche Bevölkerungsgruppe las deren mit großem pädagogischen Elan verfassten Texte? Bei der Beantwortung dieses Fragenkomplexes spricht Alzheimer-Hallers Untersuchung eine deutliche Sprache: Vor allem (protestantische wie katholische) Landgeistliche und seit dem 19. Jahrhundert dann auch immer häufiger (Volks-)Schullehrer konnten mit ihren moralischen Geschichten neben den ihnen anvertrauten Kindern und Jugendlichen hauptsächlich Bauern, Dienstboten, Handwerker, Hebammen sowie städtische und ländliche Unterschichten erreichen. Dass ein Adliger wie Rochow für die auf seinen Gütern wirtschaftende Landbevölkerung moralische Geschichten verfasste, war demzufolge eine große und dadurch umso bedeutsamere Ausnahme.
Erstaunlich ist, wie „massenhaf[t] und weiträumi[g]“ (150) die moralischen Geschichten laut Alzheimer-Hallers Studie in Deutschland verbreitet waren, wobei die Autorin des Handbuchs allerdings zurecht einräumt, dass „die historische Rezeptionsforschung“ an „ihre Grenzen stößt“, wenn es um die Frage geht, in welchem Grade „die Massen mittels volksaufklärerischer Literatur tatsächlich beeinflusst worden sind“, da dies „auch für aktuelle Kommunikationsprozesse kaum zu beantworten sei“ (140). Dennoch: Alzheimer-Hallers Handbuch bietet nicht zuletzt auch durch ein 85 Seiten starkes Register der in den moralischen Geschichten vorkommenden Motive, Tugenden und Laster einen tiefen Einblick in die Gedankenwelt jener Autoren, die zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum bis 1850 einen entscheidenden Beitrag leisteten. Allen mit Aufklärungsstudien befassten Studenten und Dozenten sei dieses Buch daher mit Nachdruck zur Lektüre empfohlen.
[1] Böning, Holger/Siegert, Reinhart (1990): Volksaufklärung. Biobibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850. Band 1: Die Genese der Volksaufklärung und ihre Entwicklung bis 1780. Stuttgart. Dies. (2001): Volksaufklärung. Band 2: Der Höhepunkt der Volksaufklärung 1781-1800 und die Zäsur durch die Französische Revolution. Stuttgart.
[2] Vgl.: Salzmann, Christian Gotthilf (1797): Der Bote aus ThĂĽringen. Band 10. Schnepfenthal.
EWR 5 (2006), Nr. 1 (Januar/Februar 2006)
Handbuch zur narrativen Volksaufklärung
Moralische Geschichten 1780-1848
Berlin, New York: de Gruyter 2004
(899 S.; ISBN 3-11-017601-7; 198,00 EUR)
JĂĽrgen Overhoff (Hamburg/Potsdam)
Zur Zitierweise der Rezension:
JĂĽrgen Overhoff: Rezension von: Alzheimer-Haller, Heidrun: Handbuch zur narrativen Volksaufklärung, Moralische Geschichten 1780-1848. Berlin, New York: de Gruyter 2004. In: EWR 5 (2006), Nr. 1 (Veröffentlicht am 13.02.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/11017601.html
JĂĽrgen Overhoff: Rezension von: Alzheimer-Haller, Heidrun: Handbuch zur narrativen Volksaufklärung, Moralische Geschichten 1780-1848. Berlin, New York: de Gruyter 2004. In: EWR 5 (2006), Nr. 1 (Veröffentlicht am 13.02.2006), URL: http://klinkhardt.de/ewr/11017601.html