Welche Bürgerleitbilder braucht eine freie Gesellschaft? Wie sollen sich Bürgerinnen und Bürger in Politik und Gesellschaft beteiligen? Darf eine Demokratie diesbezüglich normative Vorgaben machen oder nur Handlungsräume abstecken? Diese Fragen beschäftigen nicht nur die demokratischen Gesellschaften der Gegenwart, sondern stehen mindestens seit dem Anbruch der Moderne im Zentrum der sozialen und politischen Kontroverse. Sie sind auch das Thema von Tom Hulmes „After the Shock City“, das am Beispiel von Manchester und Chicago zeigt, welche Rolle die Stadt für die Entwicklung von Bürgerleitbildern zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg in Großbritannien und den USA spielte. Hierbei handelt es sich um eine geschichtswissenschaftliche Studie, die sowohl für die allgemeine als auch für die Bildungs- und Erziehungsgeschichte wichtige Einsichten bietet.
Die These von Hulme ist, dass nicht allein Nation und Imperium, sondern ebenso städtische Krisendiskurse, Imaginationen und Interventionen die bürgerschaftlichen Leitbilder (citizenship) im Zeitalter von Urbanisierung und Industrialisierung prägten. In beiden Städten entwickelten die Verwaltungen, Schulen, Jugendfürsorge- und Wohltätigkeitsvereine verschiedene Projekte, um Verantwortlichkeit, Mitarbeit und Gemeinschaftsgeist der Stadtbewohner zu wecken, aber auch Männer und Frauen dazu zu bringen, ihre Rolle in der Gesellschaft zu akzeptieren und auszufüllen. Dazu trat in Manchester das Ziel, die Arbeiterschaft zu zivilisieren, in Chicago vor allem die Einwanderer zu assimilieren. Immer forderten aber diese marginalisierten sozialen und ethnischen Gruppen die städtischen Eliten in Verwaltung und Wohltätigkeitsvereinen heraus, forderten Mitsprache ein, verteidigten ihre eigenen Werte und Normen und entzogen sich dem Zugriff der Kommunalverwaltungen und städtischen Eliten. Erst der Zentralisierungsschub während des Zweiten Weltkriegs und der Ausbau des Wohlfahrtsstaates auf nationaler Ebene in den folgenden Jahrzehnten marginalisierten in beiden Ländern die Stadt als Produktionsstätte von demokratischen Bürgerschaftskonzepten.
Auf der Basis von Akten der Stadtverwaltung und lokalen Vereine, Zeitungsartikeln und zeitgenössischen Monografien zeigt Hulme anschaulich, dass der Versuch, Verantwortlichkeit, Kooperationswille und Zugehörigkeit zu fördern, in beiden Städten ein gewaltiges Bildungs- und Erziehungsprojekt war. Stadtverwaltungen, Vereine und Eliten entwickelten in den 1920er- und 30er-Jahren verschiedene Programme in Reaktion auf die Verwerfungen von Urbanisierung und Industrialisierung. Sie zielten vor allem (aber nicht nur) auf die städtische Jugend, die vor dem vermeintlich sündhaften Stadtleben abgeschirmt, vor politisch radikalen Gruppen geschützt und für die Mitarbeit an der Stadtgemeinschaft gewonnen werden sollte. In beiden Städten versuchten Pädagogen und Schulbuchautoren durch Gemeinschaftskundeunterricht (civics) die Stadt und Stadtverwaltung zu idealisieren und darüber hinaus Lokalpatriotismus sowie den Stolz auf Nation und Imperium diskursiv zu verbinden. Da jedoch die Schule nur eine geringe Reichweite hatte, strebten Verwaltung und Eliten danach, den Gemeinschaftsunterricht in den Stadtraum hineinzutragen. Indem sie Ausstellungen und Stadtfeste organisierten, versuchten sie bei den Bewohnerinnen und Bewohnern den Stolz auf die Errungenschaft ihrer Städte zu vergrößern. Im Zentrum dieser Festkultur standen historische Umzüge, die vor einem tausendfachen Publikum das Narrativ einer urbanen Erfolgsgeschichte in Szene setzten. Daneben boten verschiedene Vereine der Sozialen Arbeit und der Jugendfürsorge auch Freizeitangebote, um die Moral der durch das Stadtleben gefährdet scheinenden Jugend zu stärken. In beiden Städten versuchte die lokale Wohlfahrtsverwaltung schließlich auch die Bürgerinnen und Bürger durch die Vergabe von Leistungen zu einem verantwortlichen Leben zu erziehen. In diesem Kontext wurde der soziale Wohnungsbau zu einem wichtigen Mittel, um gerade die Arbeiterschaft in die Stadtgesellschaft zu integrieren.
Es ist faszinierend zu lesen, wie Hulme immer wieder verdeutlicht, an welche Grenzen diese bürgerschaftlichen Erziehungsprojekte in den sozial und kulturell tief zerklüfteten Stadtgesellschaften Manchesters und Chicagos stießen. In Manchester und Großbritannien stemmten sich vor allem konfessionelle und politisch konservative Schulmänner gegen eine Politisierung der Schule durch civics. In Chicago ließen dagegen Korruption und organisiertes Verbrechen die Idealisierung der Stadt durch die Gemeinschaftskunde verlogen erscheinen. Die Arbeiterklasse in Manchester und die ethnischen Minderheiten in Chicago, allen voran die afroamerikanische Gemeinschaft, nutzten die großen Stadtmessen für eigene Ausstellungen, auf denen sie politische Forderungen nach Mitbestimmung und Gleichberechtigung stellten. Das gilt auch für die historischen Festumzüge, in denen die marginalisierten sozialen und ethnischen Gruppen Ansprüche auf Gleichberechtigung anmeldeten und die eigenen Leistungen öffentlichkeitswirksam in Szene setzten. Die städtischen Freizeitangebote erreichten in beiden Städten nur eine begrenzte Zahl von Jugendlichen. Zudem nutzten die jungen Männer und Frauen die Angebote für eigene Zwecke und nicht für ihre vermeintliche moralische Besserung. Schließlich widersetzten sich die Empfängerinnen und Empfänger der Wohlfahrtsleistungen, etwa die Bewohnerinnen und Bewohner städtischer Sozialwohnungen, oftmals den Versuchen der Kommunalverwaltung, ihren Geschmack oder ihre Hausroutinen zu ‚verbessern’.
Obwohl Hulmes Studie durch ihre vielseitigen Aspekte besticht, fallen mindestens zwei Leerstellen ins Auge. Zum einen hätte noch genauer recherchiert werden können, welchen Einfluss die Projekte von Stadtverwaltung und städtischen Eliten auf das Leben und das Selbstbild der Einwohnerinnen und Einwohner hatten. Zum anderen bleiben auch die transnationalen bzw. translokalen Verknüpfungen zwischen beiden Städten manchmal etwas blass – so etwa im Bereich des Wohnungswesens und der Stadtplanung, wo das Chicagoer Public Administration Clearing House, das die amerikanischen und britischen Debatten breit vernetzte, nicht untersucht wird.
Wichtiger als diese Monita erscheinen dem Rezensenten jedoch die Impulse, die dieses Buch einer erweiterten Bildungs- und Erziehungsgeschichte bietet. Erstens liest sich Hulmes Buch als ein Plädoyer, Bildung und Erziehung weit zu fassen. Nicht nur Schule und Jugendfürsorge fallen darunter, sondern auch Feste, Umzüge, Wohlfahrtsprojekte, Wohnungsbau und Stadtplanung. Denn sie alle zielen auf die Erziehung ihrer Nutzerinnen und Nutzer, also darauf, bestimmte Einstellungen, Fähigkeiten und Moralvorstellungen zu formen, zu festigen und zu korrigieren. Zweitens lässt sich aus der Studie folgern, Bildung historisch breit zu kontextualisieren. Nicht nur Politik- und Sozialgeschichte, sondern ebenfalls kultur- und, im Fall von Hulme, stadtgeschichtliche Kontexte sind wichtig, um die Veränderung von Erziehung und ihre weite gesellschaftliche Bedeutung zu ermessen. Damit hängt schließlich drittens zusammen, dass sich aus Hulmes Buch ableiten lässt, die historische Rolle von Bildungs- und Erziehungsprogrammen für die Gestaltung von politischen und sozialen Ordnungen noch genauer in den Blick zu nehmen. Kontroversen um Bildung und Erziehung waren (und sind) stets auch gesellschaftliche Kämpfe um politische und soziale Ordnungskonzepte. Somit bietet auch Erziehungs- und Bildungsgeschichte einen wichtigen Zugang zum Verständnis der Konflikte in modernen Gesellschaften. Wer sich für eine solche Perspektive interessiert, dem sei das Buch von Tom Hulme empfohlen.
EWR 19 (2020), Nr. 4 (September / Oktober)
After the Shock City
Urban Culture and the Making of Modern Citizenship
Woodbridge: Boydell & Brewer 2019
(263 S.; ISBN 978-0861933495; 57,95 EUR)
Phillip Wagner (Halle-Wittenberg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Phillip Wagner: Rezension von: Hulme, Tom: After the Shock City, Urban Culture and the Making of Modern Citizenship. Woodbridge: Boydell & Brewer 2019. In: EWR 19 (2020), Nr. 4 (Veröffentlicht am 20.11.2020), URL: http://klinkhardt.de/ewr/0861933495.html
Phillip Wagner: Rezension von: Hulme, Tom: After the Shock City, Urban Culture and the Making of Modern Citizenship. Woodbridge: Boydell & Brewer 2019. In: EWR 19 (2020), Nr. 4 (Veröffentlicht am 20.11.2020), URL: http://klinkhardt.de/ewr/0861933495.html