EWR 4 (2005), Nr. 1 (Januar/Februar 2005)

Loïc Chalmel
Réseaux philanthropinistes et pédagogie au 18e siècle
Frankfurt a.M.: Peter Lang 2004
(270 Seiten; ISBN 3-03910-101-3; 46,90 )
Im Jahre 1889 publizierte Auguste Pinloche seine bahnbrechende und für die Erforschung des Philanthropismus weiterhin unerlässliche Arbeit zur "Réforme de l’éducation en Allemagne au dix-huitième siècle: Basedow et le philanthropinisme". Bei aller Anerkennung des Verdienstes dieses Werkes sei es, laut Loïc Chalmel, dahingehend unzureichend, dass es einige bedeutende Faktoren vernachlässige: Pinloche betrachte den Philanthropismus als genuin deutsche Erscheinung und ignoriere in seiner Darstellung die europäische Dimension der Bemühung um eine Verbesserung des Schulsystems. Nicht zuletzt lasse er wichtige kulturelle, wirtschaftliche und politische Aspekte außer Acht.

Diese vermeintliche Lücke in Pinloches Studie wollte Loïc Chalmel in seiner 2004 unter dem Titel "Réseaux philanthropinistes et pédagogie au 18e siècle" veröffentlichten Arbeit schließen. Sich methodologisch auf den Foucaultschen Begriff des Archivs berufend, kombiniert er "bio-soziale Genealogien" ("généalogies bio-sociales") mit der Darstellung sozialgeschichtlich relevanter und vernetzter Aspekte (XIII). Dabei fokussiert seine Studie auf Jean Frédéric Simon, einen Vertreter der pädagogischen Reformbewegung im 18. Jahrhundert, deren Entwicklung am politischen, sozialen, kulturellen und selbstverständlich auch pädagogischen Horizont seiner Zeit dargestellt werden soll.

Die Arbeit gliedert sich folgendermaßen: Nachdem der Verfasser den Ursprung der pädagogischen Reform philanthropischer Prägung dargestellt hat ("Naissance d’une idée pédagogique"), beschreibt er ihre geographischen und ideengeschichtlichen Komponenten und deren Vernetzung ("Une toile pédagogique tissée autour de l’idée de Réforme"), bevor er sich speziell mit der philanthropischen Reform in Dessau auseinandersetzt ("Pédagogie philanthropiniste"). Dann untersucht er deren Verbreitung im Oberrheingraben ("Un réseau de philanthropinums dans le couloir rhénan") und konzentriert sich anschließend auf das Wirken Jean Frédéric Simons als Organisator eines Mädcheninstituts in Straßburg ("De l’éducation des filles à l’école normale"), als engagierter Befürworter der französischen Revolution ("Dans la tourmente révolutionnaire") und als Mitbegründer der "Ecoles normales" ("Philanthropisme et école normale").

Als innovativ lässt sich der erste Teil der Studie wahrhaft nicht bezeichnen: Erstens fußt die Beschreibung des Wirkens von Simon und Johann Gottfried Schweighäuser am Dessauer Philanthropinum meistens auf dem bereits 1913 publizierten Buch von Bruno Stehle: Der Philanthropismus und das Elsaß. [1] Zweitens ist das vom Autor ausführlich beschriebene öffentliche Examen von 1776 der Forschung längst bekannt (man denke zum Beispiel an die Studien Hanno Schmitts, eines der besten Kenner des Philanthropismus, den Chalmel nirgendwo erwähnt).

Nach diesem enttäuschenden Einstieg widmet sich der Verfasser in "Une toile pédagogique tissée autour de l’idée de Réforme" einigen geschichtlichen bzw. kulturgeschichtlichen Aspekten, die er zurecht als unabdingbar für das Verständnis des Philanthropismus präsentiert. Ob die Beschreibung – von einer fundierten Analyse kann hier leider nicht die Rede sein – dieser Aspekte jedoch tatsächlich dienlich ist, darf bezweifelt werden: jeweils zwei Seiten zum Elsass, zur Schweiz und zum Heiligen Römischen Reich deutscher Nation dürften kaum als hinreichend bezeichnet werden, um der Komplexität der politischen Lage, die u.a. zur Entstehung des Philanthropismus beitrug, Rechnung zu tragen.

Ebenfalls als unzulänglich ist die Darstellung des Pietismus (27f.) und der Physiokratie (34f.) zu bezeichnen: hier wären bibliographische Verweise ausreichend (wobei der Verfasser offenbar weder die mittlerweile klassisch gewordene Physiokratieforschung von Georges Weulersse oder Kurt Braunreuther noch neuere Arbeiten, z.B. die von Keith Tribe, rezipiert hat) oder eine fundierte Analyse der Art und Weise, wie die Philanthropen diese Theorie übernahmen, notwendig gewesen. Nicht aufschlussreicher sind die Bemerkungen zu Rousseau ("Et «l’Emile» paru…" [sic]), zur Aufklärung, zum Sturm und Drang und zur Religion, die einem Proseminar würdiger sind als einer in der Reihe "Exploration" publizierten Studie. Ebenfalls ignoriert der Absatz zur Freimaurerei wesentliche Erträge der Forschung, die für diese Studie dahingehend hätten fruchtbar gemacht werden können, dass sie die Freimaurerei als eine der Erscheinungsformen der aufklärerischen Soziabilität betrachten. [2]

Darüber hinaus vermisst man einen Exkurs über den Illuminatenorden, dem eine besondere Bedeutung in der Verbreitung neuerer pädagogischer Thesen zukommt. Der Grund dafür ist möglicherweise, dass der Verfasser diesen Orden für eine bloße Freimaurerloge (202) hält. Zu bemängeln ist auch die Tatsache, dass er offensichtlich den Philanthropismus als pädagogische Reformbewegung und "Philanthropisme" als Urheber einiger "Sociétés philanthropiques" für deckungsgleich erachtet. Dass dies nicht uneingeschränkt der Fall ist, hätte in der Studie unbedingt herausgearbeitet werden müssen. Hierfür hätte der Verfasser freilich auf die dank der fundamentalen (und vom ihm nicht zitierten) Studien Christa Kerstings bekannten anthropologischen Auffassungen der Zeit eingehen müssen.

Liegt das wesentliche Problem der Ausführungen im zweiten Teil der Studie in der Unklarheit des Begriffes "philanthropisme", so subsumiert der Verfasser im pädagogischen Bereich im engeren Sinne vier Aspekte unter diesen Begriff: natürliche Religion, Mehrsprachigkeit des Lernens, Bild des Kleinkindes und Beziehung zwischen Bildern und Pädagogik. Den Philanthropismus Dessauer Prägung von seinem religiös-politischen Hintergrund zu trennen, ist zwar aus dem Blickwinkel des Autors legitim und konsequent, ließe sich doch sonst die europäische Dimension dieser Bewegung nicht nachweisen. Dieses Vorgehen versperrt jedoch den Blick für die Spezifität des Philanthropismus, wie sie sich zum Beispiel im Kampf gegen die protestantische Orthodoxie ausdrückte, obwohl diese in einigen angeführten Zitaten ein Kernproblem darstellt (siehe z. B. S. 82 das Zitat von Christian Heinrich Wolke, wobei der Verfasser, weit entfernt, den apologetischen Charakter der Äußerung Wolkes zu thematisieren, sie als einen objektiven Beweis betrachtet). Ebenso wird die Tragweite der Debatte zur Erziehung zum Menschen oder zum Bürger, die der Verfasser in dem Absatz zur Mehrsprachigkeit des Lernens nur streift, weitgehend missverstanden, wenn man sie von der damals heftig geführten Debatte zum Verhältnis zwischen pädagogischer und politischer Reform trennt. Diese zu berücksichtigen wäre Chalmel leichter gefallen, hätte er sich mit der Problematik des von Aretin thematisierten Bündnisses auf Zeit zwischen Aufklärern und Fürsten auseinandergesetzt, statt zu postulieren, jeder Pädagoge lehne die bestehende Ideologie ab (72). Dies ins Auge zu fassen, hätte auch zu einer Relativierung der manchmal pauschal wirkenden Bemerkungen des Verfassers zur Erziehung der Kleinkinder bzw. zur Rolle der Eltern bei derselben beigetragen. Zu einseitig fällt ebenfalls das Zurückführen der "Pégagogie de l’image" auf den einzigen Einfluss Comenius’ aus. Auch hier hätte die Rezeption neuerer Forschungsergebnisse (z.B. Schmitt 1999) zu einer feineren und tieferen Analyse führen können.

Die Verbreitung des philanthropischen Schulmodells, insbesondere des Dessauischen, ist Gegenstand des dritten Teils der Studie ("Un réseau de philanthropinums dans le couloir rhénan"). Abgesehen davon, dass der Titel dieses Abschnittes nicht sehr glücklich ist, ist Trittau, wo J.H. Campe sein Institut etablierte (120ff.), so weit vom Oberrheingraben entfernt wie Schnepfenthal, wo Salzmann 1784 eine Erziehungsanstalt gründete (123ff). Zudem ist wiederum zu bedauern, dass der Verfasser unerklärlicherweise darauf verzichtet, sowohl neuere Forschungsergebnisse als auch bedeutende Quellen zu benutzen, und dies obwohl die Verwendung der von Hanno Schmitt edierten Briefwechsel Campes die vermeintlich im Kern der Studie stehende Vernetzung illustriert hätte. Gleichfalls ließe sich eine derartige Vernetzung anhand des "Braunschweigischen Journals", das der Verfasser nur lapidar erwähnt, problemlos belegen. Dem Titel des Kapitels entsprechender folgt dann eine auf verschiedenen Werken der Sekundärliteratur beruhende Beschreibung der in Colmar von Pfeffel begründeten Militärakademie.

Den Schwerpunkt des vierten Teils ("De l’éducation des filles à l’école normale") bildet die Darstellung der Rückkehr Simons und Schweighäusers nach Straßburg sowie der Gründung eines Mädcheninstituts und dessen Organisation. Ideengeschichtlich ist zu bedauern, dass die anthropologischen Prämissen der Erziehung von Frauen kaum mehr als angedeutet werden. Mittels einer Analyse dieser Voraussetzungen hätte der Verfasser möglicherweise die Frage klären können, ob die dem Erziehungsplan zugrunde liegenden Thesen zu Frauen bzw. zu ihrer gesellschaftlichen Rolle einzig und allein auf den Philanthropismus zurückzuführen sind, oder ob sie auch unter dem Einfluss der in Frankreich spätestens seit Madame de Lambert sehr regen Debatte standen. Sehr interessant sind hingegen die vom Verfasser entdeckten Archivbestände aus dem Fonds Turckheim (Bibliothèque Nationale et Universitaire de Strasbourg), die einerseits eine aufschlussreiche Darstellung der Überlebensprobleme ermöglichen, mit denen private Erziehungsinstitute konfrontiert wurden, und andererseits die Hilfe verdeutlichen, die freimaurerische Beziehungen in akuten Fällen bedeuten konnte (174).

"Dans la tourmente révolutionnaire", ein biographisch ausgerichtetes Kapitel, zeigt dann, wie das politische Engagement Simons dazu führte, dass er seine pädagogische Tätigkeit in den Hintergrund drängt. Dies vermag allerdings nicht zu erstaunen: galt die pädagogische Reform der Philanthropen als Weg, eine gesellschaftliche Veränderung zu ebnen bzw. vorzubereiten, so verlor sie zwangsweise an Bedeutung, sobald die Gelegenheit einer politischen Revolution gegeben war. Anlässlich der Reorganisation des Schulwesens und insbesondere der Gründung der Ecoles Normales in Frankreich zur Zeit des Konvents und des Directoires versuchte Simon, seine Vorschläge durchzusetzen, allerdings, wie der Verfasser selbst bemerkt, ohne Erfolg (230). Ebenfalls erfolglos bemühte sich Simon um die Aufnahme seiner Schulbücher durch den Erziehungsausschuss des Konvents (233ff).

Diese Feststellung ist weit davon entfernt zu beweisen, dass der Philanthropismus eine Erscheinung war, die weit über die Grenzen Deutschlands Bedeutung erlangte; sie markiert vielmehr, wie eingeschränkt der Einfluss der philanthropischen Pädagogik im engeren Sinne in Frankreich blieb (was sich ebenfalls an Campes Bemühung um 1802 beweisen ließe). Ebenso wenig erreicht diese Studie eine klare Analyse der intendierten und prinzipiell unumstrittenen Vernetzung von Erscheinungen wie Freimaurerei, wirtschaftlichem Denken usw.

Der oft schwerfällige und teils unnötig wissenschaftlich anmutende Stil trägt nicht zu einer flüssigen Lesbarkeit der Studie bei. Schwerwiegender als einzelne Grammatikfehler (37 und 133) ist allerdings, dass sie den gängigen Standards einer wissenschaftlichen Arbeit leider nicht immer entspricht. Abgesehen von dem mangelhaften Stand der Bibliographie und der zum Teil unkritischen Darstellung der Quellen, auf die bereits hingewiesen wurde, ist sehr zu bedauern, dass die Titel zuweilen falsch zitiert werden (vgl. z. B. die Angaben zur Monographie von Werner Milch, 268), dass im Text Kurzverweise auf Monographien oder Aufsätze vorgenommen werden, die in der Bibliographie nicht aufgeführt werden (74 und 195), dass wichtige Thesen ohne Beleg aufgestellt werden (159) und dass Sätze wortwörtlich wiederholt werden (16 und 149).

War der Ansatz dieser Studie sehr interessant, so wird sie weder inhaltlich noch formal den selbstgestellten Ansprüchen gerecht. Es ist sehr zu hoffen, dass bald eine neue Studie zum Philanthropismus in Frankreich erscheint, die von dieser Bewegung ein weniger fragmentarisches Bild zeichnet.

[1] Es bleibt unklar, warum Chalmel keinen Gebrauch gemacht hat von den mittlerweile einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung stehenden Archivalien aus Dessau oder etwa von den Studien Michael Niedermeiers.
[2] Vergleiche hierzu u.a.:
Richard van Dülmen: Die Gesellschaft der Aufklärer: zur bürgerlichen Emanzipation und aufklärerischen Kultur in Deutschland. Frankfurt am Main 1986.
Ulrich Im Hof: Das gesellige Jahrhundert: Gesellschaft und Gesellschaften im Zeitalter der Aufklärung. München 1982

Erwähnte Literatur:

  • Braunreuther, Kurt: Ãœber die Bedeutung der physiokratischen Bewegung in Deutschland in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunders. Ein geschichtlich-politisch-ökonomischer Beitrag zur ‘Sturm und Drang’ Zeit. In: Wiss. Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin. Gesellschaft und sprachwissenschaftliche Reihe 5, 1955-1956 n°1, S. 15-65.
  • Kemper, Herwart / Seidelmann, Ulrich (Hg.): Menschenbild und Bildungsverständnis bei Christian Gotthilf Salzmann. Weinheim 1995.
  • Kersting, Christa: Die Genese der Pädagogik im 18. Jahrhundert: Campes "Allgemeine Revision" im Kontext der neuzeitlichen Wissenschaft. Weinheim 1992.
  • Schmitt, Hanno: Vom Naturalienkabinett zum Denklehrzimmer. Anschauende Erkenntnis im Philanthropismus. In: - Oelkers, Jürgen (Hrsg.): Die Leidenschaft der Aufklärung. Studien über Zusammenhänge von bürgerlicher Gesellschaft und Bildung. Weinheim u.a. 1999. S. 103-124.
  • Stehle, Bruno: Der Philanthropismus und das Elsasß: Dessau-Straßburg-Colmar-Markirch. Straßburg i.E. 1913.
  • Tribe, Keith: Governing economy: the reformation of German economic discourse, 1750 - 1840. Cambridge u.a. 1988.
  • Weulersse, Georges: Le mouvement physiocratique en France (de 1756 à 1770). Paris 1910.
Christophe Losfeld (Halle/Saale)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christophe Losfeld: Rezension von: Chalmel, Loïc: Réseaux philanthropinistes et pédagogie au 18e siècle, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 1 (Veröffentlicht am 31.01.2005), URL: http://klinkhardt.de/ewr/03910101.html