EWR 18 (2019), Nr. 1 (Januar/Februar)

Alfred SchÀfer/Christiane Thompson (Hrsg.)
Angst
Paderborn: Ferdinand Schöningh 2018
(164 Seiten; ISBN 987-3-506-78249-6; 39,90 EUR)
Angst Das Interesse an Auseinandersetzungen mit dem Thema Angst ist derzeit groß. Erst jĂŒngst wurde in einem Beitrag der Sendung Zeitfragen vom 11.10.2018 im Deutschlandfunk Kultur [1] eine Auswahl an BĂŒchern zum Thema diskutiert, die auf der diesjĂ€hrigen Frankfurter Buchmesse vorgestellt wurden. Dabei wurde deutlich, dass Thematisierungen von Angst einerseits Perspektiven auf gesamtgesellschaftliche ZusammenhĂ€nge umfassen. Angst wird hier als prĂ€gend fĂŒr die Verfasstheit der Gesellschaft und als Ausdruck des sozialen und politischen Klimas veranschlagt. Andererseits gibt es eine Vielzahl an Publikationen, die Angst, Phobien und Panik als Herausforderungen fĂŒr den Einzelnen zur Geltung bringen und zur BewĂ€ltigung dieser Herausforderungen Hilfestellungen anbieten. Angst, so wird hieran sichtbar, verweist auf ein Spannungsfeld, das sich zwischen Individuum und Gesellschaft aufspannt.

Dieses Spannungsfeld greift nun auch der ebenfalls in der genannten Sendung diskutierte, von Alfred SchĂ€fer und Christiane Thompson herausgegebene Sammelband mit dem Titel „Angst“ auf. Das in diesem Jahr im Ferdinand Schöningh Verlag als neunter Teil der Reihe „PĂ€dagogik – Perspektiven“ erschienene Buch umfasst neben der Einleitung insgesamt fĂŒnf BeitrĂ€ge, die sich aus erziehungswissenschaftlicher (Sanders, KrĂŒger), soziologischer (Ahrens), philosophischer (Demmerling) und medientheoretischer Perspektive (Koch) dem PhĂ€nomen der Angst widmen.

In ihrer Einleitung entfalten SchĂ€fer und Thompson den leitenden Gedanken des Sammelbandes: Angst sei, so die These, in eine Moderne eingeschrieben, deren auf AufklĂ€rung und Humanismus fußendes Menschenbild im Lichte der Naturwissenschaften des 19 Jhd. erodiere (11, 16). Angst resultiere in der Folge aus der Einsicht, dass der Mensch nicht die Natur beherrsche, sondern diese ihn umfasse. In Anbetracht der daraus hervorgehenden Unsicherheit werde Freiheit, da sie immer auch eine bedrohliche Öffnung darstelle, zum zentralen Bezugspunkt der Thematisierung von Angst in einer sich ausdifferenzierenden Moderne. Den Bezug zu aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen stellen SchĂ€fer und Thompson ĂŒber den Verweis auf Adornos Überlegungen zum ‚autoritĂ€ren Charakter‘ her. Der Befund, dass die den Nationalsozialismus ermöglichende Angstkonstellation fortdauerte, erlaube die Frage danach, inwiefern Angst auch fĂŒr heutige Gesellschaften eine zentrale Rolle spiele. Die Autor*innen fragen vor diesem Hintergrund nach der existenziellen Tragweite moderner Kontingenzerfahrungen, die sowohl mit voranschreitenden Ökonomisierungs-, Globalisierungs- und Individualisierungsprozessen als auch mit Prozessen der Entdemokratisierung verbunden seien.

Das von SchĂ€fer und Thompson skizzierte Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft gewinnt nun anhand der von Jörn Ahrens und Christoph Demmerling bereitgestellten BeitrĂ€ge, die beide erstmals 2013 in dem von Lars Koch veröffentlichten interdisziplinĂ€ren Handbuch „Angst“ [2] erschienen sind, an Kontur. Die BeitrĂ€ge geben einen guten ideengeschichtlichen Überblick ĂŒber soziologische und (existenz-)philosophische Auseinandersetzungen mit Angst und stellen insofern die Grundlage einer weiterfĂŒhrenden erziehungswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema des Sammelbandes dar. Ahrens geht in seinem Text von dem Befund aus, dass es trotz der konstitutiven Bedeutung der Angst sowohl fĂŒr das Individuum als auch fĂŒr die Gesellschaft bislang keine ausgearbeitete Soziologie der Angst gebe. Dennoch zeichnet er in seiner sorgfĂ€ltig argumentierenden Auseinandersetzung nach, dass unterschiedliche Facetten von Angst in der Soziologie schon immer eine Rolle gespielt haben.

Ahrens geht dem PhĂ€nomen Angst zunĂ€chst in seiner Bedeutung fĂŒr den Begriff der Vergesellschaftung sowie fĂŒr die Soziologie Durkheims, Simmels, Webers und Elias nach, um dann die paradoxe Abwesenheit der Angst in der Risikosoziologie sowie die Bedeutung der Angst fĂŒr die Genese des Selbst zu thematisieren. Schließlich plĂ€diert er fĂŒr eine weitergehende, systematische Auseinandersetzung mit Angst in der Soziologie, die 2017 mit dem Buch „Soziologie der Angst“ [3] von Max Dehne nachgeliefert wurde.

Die im Beitrag von Ahrens anklingende Frage nach der Bedeutung der Angst fĂŒr die Subjektgenese steht im Beitrag Demmerlings zur Existenzphilosophie im Zentrum. Das PhĂ€nomen der Angst, so stellt Demmerling heraus, spiele als „GrundgefĂŒhl menschlichen Lebens und menschlicher Existenz“ (90) fĂŒr das SelbstverhĂ€ltnis des Menschen und sein VerhĂ€ltnis zur Welt eine zentrale Rolle. Im Blick auf Schelling, Kierkegaard, Jaspers, Heidegger und Sartre verdeutlicht Demmerling, dass sich die Bedeutung der Angst fĂŒr die Subjektwerdung aus dem je unterschiedlich gefassten VerhĂ€ltnis von Freiheit und Angst ergibt. Seinem Beitrag gelingt es dabei nicht nur, die existenzphilosophischen Thematisierungen von Angst ideengeschichtlich einzuordnen und ihr VerhĂ€ltnis zu einander zu skizzieren, sondern auch, die „eigentĂŒmliche Spannung“ (108), die dem GefĂŒhl der Angst enthalten ist, zu veranschaulichen.

Die BeitrĂ€ge von Jens Oliver KrĂŒger und Olaf Sanders greifen, wenn auch indirekt, die in der Einleitung von SchĂ€fer und Thompson formulierte These auf, dass Angst im pĂ€dagogischen Diskurs zumeist als kontraproduktiv fĂŒr Lernen und Bildung angesehen werde und positiv konnotierte ‚Überredungsbegriffe‘ (Reichenbach) dominieren wĂŒrden. In Abgrenzung zu einem solchen Diskurs und in der BefĂŒrchtung, eine Angst ignorierende PĂ€dagogik verdrĂ€nge die RealitĂ€t, wird Angst mit Adorno als eine Möglichkeit aufgefasst, sich mit der RealitĂ€t auseinanderzusetzen.

Sanders fokussiert in diesem Sinne die Frage nach Bildungsangst vor dem Hintergrund eines transformatorischen Bildungsbegriffs. Dabei fasst er Bildungsangst als die Angst, „Bildungsprozesse mitzuvollziehen“ (65). Am Begriff der Bildungsmigration sowie im Blick auf den Zusammenhang von Bildung und Scheitern, Anerkennung, Wahn, Freiheit und Unbestimmtheit bezieht Sanders das PhĂ€nomen der Angst auf unterschiedliche Facetten des VerhĂ€ltnisses von Bildung und Fremdheit. Sanders Text, so sagt er selber, will nicht mehr sein als ein „Schleifen ziehender Versuch“ (ebd.), das Thema Bildungsangst zu umreißen. Bei aller (intentional?) fehlender Systematik bietet er dabei in seinem kursorischen Vorgehen eine Vielzahl interessanter Anschlussmöglichkeiten, Bildung angesichts der ihr konstitutiv zugrundeliegenden Konfrontation mit dem Fremden in ihrem unausweichlichen Zusammenhang mit Angst zu betrachten. Fraglich bleibt allerdings, inwiefern die von Sanders aufgeworfenen Probleme Big Data, Posthumanismus, AnthropozĂ€n und Globalisierung tatsĂ€chlich die ‚SchlĂŒsselprobleme‘ der heutigen Zeit sind und inwiefern diese mit dem dargelegten VerstĂ€ndnis von Bildung in einem Zusammenhang stehen.

In KrĂŒgers Analyse von Verschiebungen, Überschneidungen und (Re)konstellierungen im Diskurs um Schulangst rĂŒckt das Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft auf einer Metaebene ins Zentrum. KrĂŒger zeichnet fĂŒnf diskursive Konstellationen als je spezifische, historisch wie auch gesellschaftliche situierte Thematisierungen von Schulangst nach. So werde Schulangst in den 1970er Jahren zunĂ€chst pathologisiert (Schulkrankheit) und empirisiert (Störfaktor fĂŒr Leistung) (I). Der Diskurs verschiebe sich dann hinsichtlich der Perspektivierung der Schule als druckerzeugende und angstbegĂŒnstigende Institution (II). In der Folgezeit bewegt sich der Diskurs im Spannungsfeld von Leistungsoptimierung und Leistungskritik (III). FĂŒr die 1980er Jahre konstatiert KrĂŒger eine individualisierende Perspektive auf Schulangst (IV). Zuletzt werde Schulangst vornehmlich in Ratgebern thematisiert. Das PhĂ€nomen erscheine im Zuge dessen ursachenlos, gestaltlos und dekontextualisiert (V). KrĂŒgers Analyse zeigt, dass die Thematisierungen von Schulangst zwischen Individuums- und Gesellschaftsbezug changieren. Der Text zeichnet insofern auf anschauliche Weise die Logik der diskursiven Hervorbringung eines pĂ€dagogischen Problems nach. Dabei ist der Befund hervorzuheben, dass der Schulangstdiskurs durch eine „immanente Unruhe“ (132) gekennzeichnet ist, „die ihn gleichzeitig ungreifbar und produktiv erhĂ€lt“ (ebd.).

Der den Band abschließende Beitrag von Lars Koch kann als Ausblick auf das erkenntnistheoretische Potential der Auseinandersetzung mit Angst gelesen werden. Koch nimmt das Buch „Die Arbeit der Nacht“ von Thomas Glavinic zum Anlass, Angst im Zusammenhang mit medialen Formierungen von SubjektivitĂ€t zu betrachten und im Zuge dessen eine ‚Medientheorie der Störung‘ zu schĂ€rfen. MedialitĂ€t versteht er dabei im Anschluss an Dieter Mersch als Konstituens der menschlichen Welt. Die Formierungskraft der Medien, so die zentrale These Kochs, wird dabei erst in der Störung bemerkbar (141). Der Ausfall der Medien im Roman Glavanics mache deutlich, dass es sich bei der SouverĂ€nitĂ€t des Menschen um ein Phantasma handelt. Die Medien erscheinen so als das ImaginĂ€re, das die menschliche IdentitĂ€t stabilisiert. Insofern ist der Roman, wie Koch herausarbeitet, imstande, metapolitische und medientheoretische Überlegungen mit einer Depotenzierung des Subjekts zu verbinden und diese zu veranschaulichen.

Dem Sammelband gelingt es, eine in sich kohĂ€rente und dennoch breite Perspektive auf PhĂ€nomene der Angst zu eröffnen. Im Fokus der BeitrĂ€ge steht die Frage nach dem Spannungsfeld zwischen und dem Zusammenhang von subjektivem Angstempfinden und kollektiven Angstkonstellationen als Ausdruck einer durch Kontingenz herausgeforderten Moderne. Die unterschiedlichen Perspektiven stellen dabei Einblicke in disziplinĂ€r je spezifische Auseinandersetzungen mit dem GefĂŒhl der Angst dar, was jedoch nicht zulasten der thematischen Klarheit des Bandes geht. Die diskursiv dominante Bearbeitung der Angst als ein menschlicher Affekt, der vor allem unter psychologischen Gesichtspunkten eine „instrumentelle Überwindung“ (10) erfordert, wird dabei ausgespart. Der Sammelband weist angesichts dessen auf das theoretische Potential der Auseinandersetzung mit dem GefĂŒhl der Angst, auch fĂŒr die Erziehungswissenschaft. So rĂŒcken im Blick auf Angst Unsicherheit, Fremdheit und Kontingenz als Dimensionen des PĂ€dagogischen in den Fokus. Angst lĂ€sst sich so zum einen auf die erzieherischen Praktiken konstitutiv enthaltene Möglichkeit zu scheitern beziehen. Zum anderen gibt Angst Aufschluss ĂŒber die Stellung des Subjekts in sozialen Konstellationen. Dabei verweist Angst als Antwort auf Fremdheitserfahrungen auf die Möglichkeit der VerhĂ€ltnissetzung und kann somit auch fĂŒr Fragen nach Bildungsprozessen fruchtbar sein. Kritisch ist allerdings anzumerken, dass erziehungs- und bildungstheoretische Fragestellungen lediglich angedeutet werden. Dass sich diesen weiter nachzugehen durchaus lohnt, macht insbesondere der Beitrag des Medienwissenschaftlers Lars Koch deutlich

[1] Deutschlandfunk Kultur – Zeitfragen (11.10.2018). Wenn einen die Panik ĂŒberkommt. SachbĂŒcher zum Thema Angst. Online unter: [https://www.deutschlandfunkkultur.de/sachbuecher-zum-thema-angst-wenn-einen-die-panik-ueberkommt.976.de.html?dram:article_id=430304]
[2] Koch, Lars (Hrsg.) (2013): Angst. Ein interdisziplinÀres Handbuch. Stuttgart: J.B. Metzler.
[3] Dehne, Max (2017): Soziologie der Angst. Konzeptuelle Grundlagen, soziale Bedingungen und empirische Analysen. Wiesbaden: Springer VS.
Lars Wicke (MĂŒnster)
Zur Zitierweise der Rezension:
Lars Wicke: Rezension von: SchĂ€fer, Alfred / Thompson, Christiane (Hg.): Angst. Paderborn: Ferdinand Schöningh 2018. In: EWR 18 (2019), Nr. 1 (Veröffentlicht am 22.03.2019), URL: http://klinkhardt.de/ewr/987350678249.html