EWR 9 (2010), Nr. 3 (Mai/Juni)

Emil E. Kobi
Grenzgänge
Heilpädagogik als Politik, Wissenschaft und Kunst
Bern; Stuttgart; Wien: Haupt 2010
(200 S.; ISBN 987-3-2580-7539-6; 24,90 EUR)
Grenzgänge Das Buch des Schweizer Heilpädagogen Emil E. Kobi beinhaltet die erstmalige Veröffentlichung eines Referates, das von Kobi im Jahre 2009 gehalten wurde, sowie neun bereits publizierte Texte. Es handelt sich dabei um thematische Auftragsarbeiten für Tagungen und Zeitschriften, wie im von Johannes Gruntz-Stoll geschriebenen Vorwort zu erfahren ist. Von ihm stammt auch die Idee der Veröffentlichung dieser Sammlung relativ aktueller Aufsätze, wobei die Auswahl der Beiträge Emil E. Kobi selbst vornahm. Die interessierte heilpädagogische Leserschaft kennt Kobis Bücher und Aufsätze in renommierten (wissenschaftlichen) Zeitschriften oder hätte zumindest Zugang zu ihnen und könnte sie kennen. Daher ist die nochmalige Veröffentlichung von Aufsätzen Kobis zu begrüßen, die großteils in Publikationsorganen erschienen sind, die der breiten Fachöffentlichkeit nicht bekannt bzw. schwer zugänglich sind.

Die Texte erschienen erstmalig zwischen 2002 und 2009, wobei ein deutlicher Überhang (die Hälfte) an Publikationen aus dem Jahre 2005 stammt. Die Reihenfolge der Beiträge entspricht nicht dem erstmaligen Erscheinungsjahr. Die fünf Aufsätze aus dem Jahr 2005 stehen am Beginn des Buches. Der erste Text beinhaltet Kobis „Vorstellungen über Erziehung und deren Bedeutung für die Praxis“. Im zweiten Text „Sonderpädagogik als Aspekt einer ganzheitlichen Bildung“ wird das Verhältnis von Pädagogik und Sonderpädagogik sowie das Besondere einer Sonderpädagogik im „Schattenwurf und Grenzbereich einer kulturgeschichtlich jeweils maßgebenden (Regel-) Pädagogik“ (24) thematisiert. Im dritten Text geht Kobi der „heilpädagogischen Perpetuum-mobile-Frage“ (39) nach: „Was macht heilpädagogisches Handeln aus?“, im vierten Text „Zur Institutionalisierung und Professionalisierung von Heilpädagogik“ bewegt sich Kobi im Schnittstellenbereich von Heilpädagogik und Sozialpädagogik. Im fünften und letzten Text aus dem Jahre 2005 befasst sich Kobi mit einem speziellen heilpädagogischen Praxisbereich: „Skeptische Diagnostik als Konsequenz einer ‚Heilpädagogik für alle’“. Im darauf folgenden Text aus dem Jahre 2002 setzt sich Kobi mit „Grenzen setzen und überschreiten“ auseinander und hebt die auch „sinn- und wertvollen Funktionen sowie zweckmäßigen Seiten von Grenzen, Schranken Barrieren und Limiten“ (87) hervor. Die negativen Seiten einer Grenzziehung liegen Dialogstörungen zugrunde, um die es Kobi im nächsten Text (2007) geht. „Dialogpartner müssen sich in ihrer und trotz ihrer Ver- und Geschiedenheit gegenseitig bestätigen: Dialogik benötigt den andern um ihrer Existenz willen“ (110; Hervorhebung. i. Orig.).

Um Dimensionen und Erscheinungsweisen des Fremden, Formen der Fremdheitserfahrung, Umgang mit Fremdheit und Fremden u.ä. sowie um Fremdheitsphänomene im pädagogischen Handlungsfeld geht es im folgenden Text (2008 oder 2009) mit dem Titel „Fremdheit“. Kinder, so schreibt Kobi (143), sind generell „Fremdlinge“, insbesondere Kinder mit Behinderung – sie sind „ungebetene Gäste, die heute kommen und durch ihr Bleiben zu Feinden werden können: Sei’s als mittelalterliche Wechselbälge oder als moderne volkswirtschaftliche und genetische Bedrohungen“ (ebd.). In seinem Text „Soziale Verantwortung: ein pädagogisch diffiziler Anspruch“ (o.J./2007) arbeitet Kobi u. a. zwei Aspekte des Verantwortlichsein heraus: den aktiv zugreifenden, personalen Aspekt sowie den pathischen Aspekt einer kosmologisch eingeordneten Verantwortung. Den Abschluss bildet ein im Jahre 2009 gehaltenes und bislang unveröffentlichtes Referat: „Ironie als pädagogische Ingredienz“.

Bevor auf die Inhalte des lesens- und empfehlenswerten Buches eingegangen wird, kann auf einen kritischen Einschub an dieser Stelle nicht verzichtet werden, der sich auf die redaktionelle Bearbeitung bezieht.

Das Buch beinhaltet also zehn Texte, wobei am Ende jedes Beitrages Hinweise über Erscheinungsjahr und -ort der erstmaligen Veröffentlichung zu finden sind. Im Anschluss an den letzten Beitrag ist die in allen Texten zitierte Literatur gesammelt verzeichnet. Dem Literaturverzeichnis folgt eine, wie Gruntz-Stoll (8) im Vorwort ankündigt, „Zusammenstellung der Veröffentlichungen“ Kobis, was die Leserin zunächst erfreut. Denn nach einem flüchtigen Durchblättern könnte man auch durchaus meinen, es handle sich um eine Zusammenstellung aller Veröffentlichungen Kobis – also um Kobis Gesamtwerk auf einen Blick bzw. auf sieben Seiten. Getrübt wird diese Vor-Freude jedoch erheblich aus mehreren Gründen: So enthalten die „Veröffentlichungen von Emil E. Kobi“ (193ff) keine Zeitschriftenbeiträge Kobis. Die Zusammenstellung beginnt mit der Überschrift „Bücher und Buchbeiträge“ – und findet keine Fortsetzung, als hätte man die Zeitschriftenbeiträge einfach vergessen. Wohl aus diesem Grund beinhaltet die Zusammenstellung auch nicht alle in diesem Buch wiederveröffentlichten Aufsätze, nämlich jene, die in Zeitschriften erschienen sind. Es handelt sich mithin – leider – nicht um eine Bibliographie des Gesamtwerkes Kobis, aber immerhin um Bücher und Buchbeiträge ab dem Jahre 1963 (Kobis Dissertation) bis ins Jahre 2009: 101 Veröffentlichungen aus 46 Jahren, wobei Werke in mehreren Auflagen als eine Veröffentlichung (mit daneben stehendem Hinweis auf die letzte Auflage) aufgelistet und gezählt sind. Darüber hinaus irritiert der Umstand, dass das Erscheinungsjahr bei zwei Texten in der Zusammenstellung abweicht von den Hinweisen, die man unmittelbar am Ende des jeweiligen Textes findet. Ärgerlich ist weiterhin, dass nicht wenige Quellenangaben in den jeweiligen Texten im Literaturverzeichnis schlicht fehlen. Zudem – und damit sei dem Unmut über die redaktionelle Bearbeitung genug Ausdruck verliehen – lässt die Interpunktion (fehlende Wort- und Satzzeichen wie Bindestriche, Punkte, Trennstriche, Gedankenstriche) im Literaturverzeichnis sowie in der Zusammenstellung der Veröffentlichungen sehr zu wünschen übrig.

Doch nun zum Inhaltlichen: Der Titel des Buches „Grenzgänge“ ist trefflich gewählt, da Kobi in gewisser Weise immer schon ein Grenzgänger und Querdenker war und ist. So bezeichnet sich Kobi denn auch selbst als „territorial wie beruflich lebenslänglicher Grenzgänger“ (87), als „fakultative Randfigur und Borderliner“ (ebd.). Er greift zielsicher heilpädagogisch relevante Entwicklungen in Wissenschaft und Politik auf, um unermüdlich das zu beschreiben, was er als Kerngeschäft der Heilpädagogik ansieht.

Heilpädagogik, so schreibt Kobi, „hat ihren Ort in Wirklichkeits-Differenzen, die mit den Möglichkeiten der allgemein-pädagogischen Konvention nicht mehr zu überbrücken sind.“ (14) Sie hat ihren „gesellschaftspolitisch zugewiesenen Ausgangspunkt zunächst in einer Teratologie, d. h. eine Lehre vom Missgestalten, Normabweichenden, Unerwünschten“ (46). Sie findet „über gesellschaftliche Desintegrationsprozesse zu ihrem Auftrag, sich mit sozial Unerwünschtem und personal Ungewünschtem zu beschäftigen“ (46; Hervorhebung i. Orig.). Allerdings kann der pädagogische Auftrag „nicht in der definitiven Aufhebung der Differenzen zwischen individuellem Sosein und ideellem Einssein liegen – und seien diese noch so belastend und störend, wie im Feld der Behindertenpädagogik. Ansonsten mutierte Pädagogik zur Theologie einer Erlösungslehre, was dreiste Vermessenheit wäre. Heilpädagogik heilt nicht und besorgt kein Heil. Sie betreibt ihr Meliorationsgeschäft, immer wieder aufs Neue, in konkreten, individualen und personalen Praxisfiguren epochal wechselnder gesellschaftshistorischer Verhältnisse. Sie wälzt den Stein des Sisyphos, indem sie sich mit der Gestaltung und Wandlung immanent und gattungsmäßig unaufhebbarer Differenzen, Dilemmata, Antinomien im konkreten Individualfall menschlichen Daseins beschäftigt.“ (12; Hervorhebung i. Orig.). Oder anders geschrieben: Heilpädagogik „beschäftigt sich […] positiv mit der Frage, wie eine konkrete Gesellschaft und Epoche das aus deren Sicht Erwartungs-, Norm- und Wertwidrige, das Unzweckmäßige, Gestörte und Unproduktive […] zu kultivieren, d. h. sich damit in ein integrales Verhältnis zu setzen vermag. Nicht: Was machen wir dagegen? – Sondern: Was machen wir daraus? Behinderung und Leiden werden somit da zu einem Kulturfaktor, wo sie als solche kultiviert (‚gepflegt’, formiert) und ins Dasein eingebaut werden“ (Kobi 2010, 46; Hervorhebung i. Orig.).

Kobi sieht das Kerngeschäft der Heilpädagogik darin, „Devianzen und Erwartungswidrigkeiten im Sosein eines Menschen als systemisches Integral dem Persönlichkeitsganzen des betroffenen Individuums und dieses seinerseits der Soziäetät einzugliedern“ (45) – das versteht er unter Kultivation. Heilpädagogik, wie Kobi sie in vielen seiner Schriften beschreibt, ist „nicht in erster Linie im reparativ-normalisierenden, sondern im kultivatorisch-integrativen Sinne ‚heilend’ (sinnstiftend, aussöhnend, verganzheitlichend)“ (ebd.; Hervorhebung i. Orig.). Heilpädagogik, wie Kobi sie „in ihrem existenziellen Kern“ (83) versteht, „wendet sich nicht-sein-Sollendem, Abweichendem, Schwachem […] zu, nicht erst, falls und insofern es sich als positiv veränderbar (therapie-, förder-, bild-, erziehbar) erweist, sondern schlicht: Weil es da ist […]. Die Voraussetzungslosigkeit der Heilpädagogik besteht darin, dass sie nichts voraussetzt als die Existenz dieses Menschen“ (ebd.; Hervorhebung i. Orig.).

Grundlegend für Kobis Denken ist die subjektive Personhaftigkeit: Heilpädagogen/innen haben sich für Kind und Erzieher/in nicht als „neutrale“ (18) oder als „neurale“ (111) Systeme zu interessieren, „sondern als Personen im Kontext ihrer Lebensverhältnisse“ (18, 111). Heilpädagogik hat „dezidiert (Päd-)Agogik – personales Geleit – zu sein“ (36; Hervorhebung i. Orig.). Und an anderer Stelle steht sein fast schon programmatisch zu verstehender Satz: „Sache der Pädagogik ist, was nicht Sache ist. Erziehung ist nicht social-engineering, sondern handlungsbetonter Appell an die Person“ (17; Hervorhebung. i. Org.).

Kobi scheut sich nicht bloß, „trendwidrig und zeitgeistfern“ (87) heilpädagogische Dogmen zu konterkarieren – er tut dies mit spürbar leidenschaftlicher Lust. Zu denken ist etwa an die integrationspädagogischen Forderungen nach der Abschaffung des Behinderungsbegriffes (Stichwort: Dekategorisierung) sowie der Heilpädagogik als Wissenschaft: „Um die Selbstabschaffung der Heilpädagogik wurde es postmodern freilich wieder stiller, zumal deren Realisation im hybriden Gebilde einer so genannten ‚Integrationspädagogik’ stecken blieb, die den Kategorien von Normal- und Sonderschülern lediglich eine dritte der ‚Integrationsschüler’ (auch ‚Gutachtenkinder’, ‚I-Kinder’ geheißen) beifügte“ (72). Oder: „Kategorisierungen und Klassifikationen werden durch gutmenschelnde Globalität denn auch nicht aufgehoben; sie verschieben sich lediglich vom Kopf in den Bauch, ins viel beschworene Spürorgan des Gutmenschen“ (76).

Die Fülle an wörtlichen Zitaten lässt erahnen, was eine/n Leser/in bei der Lektüre dieses Buches erwartet – sowohl inhaltlich als auch stilistisch. Ein letztes Zitat: „Heilpädagogik hat […] die dynamische Balance zu halten zwischen einer Profanierung des Transzendenten und einer Transzendierung der Profanen“ (48). Kobis Liebe und Lust an Sprachwitz und Wortspielen zeichnet seine Art zu schreiben aus. Deswegen genießen Leser/innen Kobis essayistisch anmutende Texte mit Sätzen, die zuweilen 10 Zeilen oder länger sind – oder haben es schwer damit. Die Rezensentin gehört zu den Genießer/innen und stellte bei der Lektüre des Buches mit Behagen fest: Ein Kobi, wie er leibt und schreibt.
Andrea Strachota (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Andrea Strachota: Rezension von: Kobi, Emil E.: Grenzgänge, Heilpädagogik als Politik, Wissenschaft und Kunst. Bern; Stuttgart; Wien: Haupt 2010. In: EWR 9 (2010), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.06.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/987325807539.html