Mit dem Konzept der Kontaktzone nach James Clifford und Mary Louise Pratt entwickelt Nora Sternfeld theoretische Grundlagen und methodische Überlegungen für die Geschichtsvermittlung in Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Ausgehend von Erfahrungen in einem erinnerungspädagogischen Projekt mit Jugendlichen an einem Wiener Gymnasium stellt sie Zugänge für eine zeitgemäße Bildungsarbeit mit den Relikten der NS-Verbrechen und den Nachwirkungen der NS-Ideologie vor. Postnazismus und Migrationsgesellschaft bilden dafür das Bedingungsgefüge. Sternfeld verwendet die Bezeichnung „Nazismus“ für die NS-Weltanschauung und politische Bewegung und schließt damit an eine international üblich gewordene Konvention an. Dies ist für die vorliegende Arbeit nachvollziehbar und plausibel, bleibt aber aus meiner Sicht dennoch problematisch. Mit der Reduktion des Nationalsozialismus auf Nazismus verschwindet die sozialpolitische, völkisch besetzte Komponente in der Selbstbezeichnung der NS-Bewegung und damit jenes Element, das zur Attraktivität derselben wirkungsvoll beigetragen hat. Andererseits wird mit der weiteren Verwendung der Bezeichnung Nationalsozialismus der Missbrauch des Sozialismusbegriffs durch die NS-Ideologie reproduziert. Nazismus wiederum ist im deutschen Sprachgebrauch allzu eng mit dem Sprechen über „Nazis“ verbunden, das immer ein distanzierendes Sprechen geblieben ist, so als seien diese fremd und von außen gekommen. Deshalb bleibt auch diese Begrifflichkeit neben anderen ein Versuch angemesseneren Sprechens, ohne das bereits erreichen zu können.
Entscheidend für die Arbeit von Sternfeld ist die Kontextualisierung des gegenwärtigen Umgangs mit den Erinnerungsorten der NS-Massenverbrechen. Globalisierung, Transnationalisierung und Migration sind in der erinnerungskulturellen Theoriebildung seit einigen Jahren in der Diskussion [1]. Davon ausgehend schlägt Sternfeld vor, die Wissensproduktion im Bereich der Geschichtsvermittlung migrationsgesellschaftlich neu zu positionieren. Dies erfolgt auf der Grundlage einer kritischen Migrationsforschung, die dualistische Konzepte durchkreuzt und die Positionierung von Migranten/-innen als Andere dekonstruiert [2]. Sternfeld orientiert sich an der rassismuskritischen Migrationspädagogik nach Paul Mecheril [3] und vermeidet von Anfang an eine Untersuchung herkunftsbedingter Geschichtszugänge. Mit der konsequenten Anwendung rassismuskritischen Denkens und postkolonial begründeter othering-Reflexion führt Sternfelds Arbeit eine machtreflexive Komponente in die Arbeit der Geschichtsvermittlung ein. Die in der Gedenkstättenpädagogik und Geschichtsdidaktik immer wieder eingeforderte Multiperspektivität [4] wird auf die ungleichen Ausgangsbedingungen der Beteiligten in Bildungsprozessen bezogen. Das aus der postkolonialen Museumstheorie hervorgegangene Konzept der „contact zone“ bezieht sich auf „asymmetrical relations of power such as colonialism, slavery, or their aftermaths, as they are lived out in many parts of the world today“ (Pratt, zit.: 47). „Kontaktzonen sind also vermachtete Handlungsräume“ (48) und die Art des Kontakts, die auf dem historischen Hintergrund und in den aktuellen sozialen Verhältnissen möglich ist, kann als „uneven reciprocity“ bezeichnet werden (Clifford, zit.: 52). Die Kontaktzone steht insofern als „normativer Begriff“ für ein anderes Museum (53). Was Sternfeld hier museumstheoretisch aufgreift und für die „postnazistische“ Geschichtsvermittlung anwendet, enthält aus meiner Sicht darüber hinaus bildungstheoretische Implikationen. Die immer wieder verdrängten und nach der Rezeption der Machtanalysen Michel Foucaults zunehmend thematisierten Machtimplikationen des Bildungsbegriffs [5] treten mit diesem Konzept hinsichtlich ihrer Bedeutung für Bildungsprozesse und Vermittlungsformen in den Fokus. An späterer Stelle bezieht sich Sternfeld auf einen gebrochenen Bildungsbegriff, der Lehrende mit ihren eigenen Verstrickungen in Herrschaftsverhältnisse konfrontiert (139f).
Um auf die Konflikthaltigkeit von Geschichtsvermittlungsprozessen einzugehen, greift Sternfeld den demokratietheoretischen Ansatz des Agonismus nach Chantal Mouffe auf [6]. Kontakt- und Konfliktzonen eröffnen „einen Raum für verändernde Praxen innerhalb hegemonialer Verhältnisse“ (60). Diesen Anspruch auf die Veränderung der kritisierten Machtkonstellationen betont die Verfasserin an mehreren Stellen, wenn sie auf ihre eigene Parteilichkeit hinweist und damit offen legt, dass es sich hier um eine engagierte Theoriebildung für eine Vermittlungspraxis handelt, die weder gegenüber ihrem historischen Gegenstand noch gegenüber den Teilnehmenden neutral bleiben kann und will. Das Dreieck von Offenheit, Reflexivität und Dissens bildet dafür den Rahmen, wobei alle drei Prinzipien auf Grenzen stoßen, wenn es bei der Thematisierung des Holocaust darum geht, Position zu beziehen.
Nach der ausführlichen theoretischen und konzeptionellen Begründung skizziert Sternfeld den Forschungsstand zu historischem Lernen anhand der Leitvokabeln Geschichtsbewusstsein, Geschichtskultur, historische Identität und historische Kompetenz, die insbesondere in der Geschichtsdidaktik Anwendung gefunden haben. Die Unterschiede von unterrichtsbezogener Geschichtsdidaktik und außerschulischer politischer Bildungsarbeit werden hier nicht genauer entfaltet. Die Umbrüche in der Geschichtsdidaktik seit den 1990er Jahren betrachtet Sternfeld hinsichtlich des Anspruchs der Multiperspektivität und des Kontextes Migrationsgesellschaft. Hinter der pädagogisch verbreiteten Forderung, Teilnehmende dort abzuholen, „wo sie stehen“, sieht Sternfeld „eine weitere Methode, einen prädeterminierten Stoff trickreich an die Leute zu bringen, die dabei eben oft erst dort hingestellt werden, wo sie vermeintlich stehen“ (86). Es handelt sich aus ihrer Sicht „um eine Orientierung an der Lehre“ (ebd.), die den Prozess des Lernens nicht wirklich ernst nimmt. Demgegenüber kommt es in der Kontaktzone darauf an, den Fragen der Lernenden, die auch als Forschende verstanden werden, verpflichtet zu sein. Dies wäre auch der Anspruch einer kritischen Bildung, die den Begriff des Lernens in Frage stellt, der im Titel der Studie auftaucht. Doch um eine Kontrastierung von Bildung und Lernen geht es hier nicht, denn beides kann herrschaftsaffirmativ verstanden werden. Erst durch die Art und Weise der Vermittlung der Gegenstände und erst dadurch, dass bestimmte Gegenstände als bedeutsam erachtet werden, wird Kritik real erfahrbar.
Die Bedeutung der Holocaust Education thematisiert Sternfeld in einem eigenen Kapitel und geht auf die Motive ihrer Entstehung im US-Kontext ein, bevor sie die Rezeption in Deutschland und Österreich schildert. Betont wird hier die Bedeutung der „Kontextgebundenheit von Bildungsansätzen zu den Massenverbrechen der Nazis“ (110). In den Nachfolgestaaten des NS-Staates geht es in besonderer Weise um die Auseinandersetzung mit Täterschaft und Mittäterschaft in den Familien der Teilnehmenden an Geschichtsvermittlungsprozessen. Aus dieser Verwandtschaft ergeben sich problematische Empathien und Umdeutungen, mit der jede Erinnerungsarbeit in Österreich und Deutschland – und nicht nur hier – in besonderer Weise konfrontiert ist. Gesellschaftspolitische Ansprüche an diese Arbeit werden insbesondere an die Gedenkstättenarbeit herangetragen [7]. Die Gedenkstättenpädagogik als relativ junge Disziplin bewegt sich im Spannungsverhältnis von Gedenken und Wissensvermittlung, was Sternfeld anhand der Frage „Was hat das mit mir zu tun?“ entfaltet. Dabei problematisiert sie die menschenrechtspädagogischen Anforderungen an Gedenkstättenarbeit und deren Transnationale Anwendungen als „gouvernementale Europäisierung“ (132), wobei diese zugespitzte Kritik derartige Ansätze nicht einfach verwirft. Eher geht es um ein Nachdenken über deren affirmative Wirkungen und um die Gefahr des Verschwindens von Kritik in der Gedenkstättenpädagogik, wenn diese zur Selbstvergewisserung über bestehende Demokratien eingesetzt wird.
Teil II der Studie stellt Erfahrungen, methodisches Vorgehen und Konsequenzen aus dem Projekt „Und was hat das mit mir zu tun?“ vor, das 2009 bis 2011 von einem „transdisziplinären Projektteam“ (153) mit Schüler/-innen in der Gedenkstätte Karajangasse am Brigittenauer Gymnasium in Wien durchgeführt wurde. Die ehemalige Volksschule wurde 1938 zum Gestapo-Gefängnis umfunktioniert. Viele von den überwiegend jüdischen Gefangenen waren in den Klassenräumen interniert und wurden von hier in das KZ Dachau deportiert. Erst in den späten 1980er Jahren wurde die Geschichte der Schule aufgearbeitet und mit einer Ausstellung zu einem Ort politischer Bildung. Die zwanzigjährige Geschichte von Ausstellungserweiterungen ist in dem aktuellen Projekt zu einem wichtigen Element für Einblicke in schulische Erzählstrategien und Überlieferungsformen geworden. Gemeinsam mit einem Wiener Gestaltungsbüro sind zwölf Interventionen in die bestehende Ausstellung / Gedenkstätte entwickelt worden. Bemerkenswert in der folgenden Darstellung sind die von den beteiligten Schüler/-innen formulierten eigenen Recherchefragen, wie bspw. „Welche Rolle spielte die Türkei im Zweiten Weltkrieg?“ „Warum begann der Balkankrieg?“ „Wer profitierte von Arisierungen?“ „Wie ambivalent ist Assimilation?“ (167).
Auf der Basis der Fragen entstanden Interventionen in die Ausstellung, die ihr thematisch und formal etwas hinzufĂĽgten. Auch die Frage nach der Rolle der Gedenktafel vor Ort ist dabei bearbeitet worden und damit die Ebene der erinnerungskulturellen Aneignung des historischen Ortes.
Die Darstellung des Projekts legt Sternfeld im Spannungsfeld von Öffnungen und Schließungen an und zeigt, wie Geschichtsvermittlung in einer agonistischen Kontaktzone erfolgen kann. Schließungen thematisiert sie beim Umgang mit Antisemitismus und Rechtsextremismus. Dabei bezieht sie sich allerdings mehr auf den sozial- und erziehungswissenschaftlichen Diskurs als auf die konkreten Projekterfahrungen. Deutlich wird dennoch, dass antisemitische und rechtspopulistische Äußerungen der Teilnehmenden am Projekt die Auseinandersetzung mit Schließungen herausgefordert haben. Wie dabei Opferkonkurrenzen und Bezüge zum Nahostkonflikt artikuliert worden sind, erfahren die Lesenden jedoch nicht. Beide Muster in den aktuellen Erscheinungsformen des Antisemitismus werden als wesentliche Themen einer antisemitismuskritischen Pädagogik vorgestellt. Die Bedeutung, die den Schließungen zukommt, illustriert die Konflikthaltigkeit der Kontaktzone und bildet ein Korrektiv gegenüber der Tendenz zur Idealisierung von „offenen Räumen“ und vielfältigen Geschichtsbeziehungen. Öffnungen für Vielfalt werden in der vorliegenden Studie keineswegs als Lösungsformel vorgeschlagen – und darin liegt ein wichtiger Impuls für die politische Bildung und die Gedenkstättenpädagogik. Weder Transnationalisierung noch Multiperspektivität erlösen die Bildungsarbeit von den Verwerfungen einer Gewaltgeschichte, die in der Gegenwart nachwirkt.
Über die gedenkstättenpädagogische und geschichtsdidaktische Relevanz hinaus führt Nora Sternfeld mit dem Konzept der agonistischen Kontaktzone einen Ansatz ein, der für das Bildungsverständnis insgesamt anregend und herausfordernd ist. Der darin enthaltene explizite Bezug auf Erfahrungen von Unterwerfung und Ungleichwertigkeit konfrontiert jedes Nachdenken über Bildung mit seiner eigenen Gewaltgeschichte und bietet zudem einen systematischen Ansatzpunkt an, um die asymmetrischen Positionierungen in pädagogischen Interaktionen offen zu legen. Dass diese Interaktionen in Kontexten von Verbrechensgeschichte, deren Aufarbeitungen und Umdeutungen stattfinden, lässt sich nicht nur an Orten des Gedenkens und Erinnerns bewusst machen, sondern ist von allgemeiner Bedeutung für Bildungstheorie und Bildungsarbeit. Insofern ist Sternfelds Studie nicht nur für Geschichtsvermittelnde und Bildungsarbeiter/-innen in Gedenkstätten interessant, sondern zugleich für Erziehungswissenschaftler/-innen, die Anknüpfungspunkte für die Aktualisierung kritischer Bildung suchen.
[1] Levy, D. / Sznaider, N.: Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001; Kroh, J.: Transnationale Erinnerung. Der Holocaust im Fokus geschichtspolitischer Initiativen. Frankfurt a. M. / New York: Campus 2006; Lenz, C.: Mind the gap! Sprechen ĂĽber den Holocaust zwischen nationalen und universellen Narrativen. In: Zeitschrift fĂĽr Genozidforschung, 7. Jg., Heft 2 / 2006, 45-66.
[2] Mecheril, P. et al.: Migrationsforschung als Kritik. Konturen einer Forschungsperspektive. Wiesbaden 2013: VS.
[3] Mecheril, P. / Melter, C.: Gewöhnliche Unterscheidungen. Wege aus dem Rassismus. In: dies. u. a.: Migrationspädagogik. Weinheim: Beltz 2010, 150-178.
[4] Ohliger, R.: „Am Anfang war …“: Multiperspektivische Geschichtsvermittlung in der Einwanderungsgesellschaft. In: Georgi, V. B. / Ohliger, R. (Hrsg.): Crossover Geschichte. Historisches Bewusstsein Jugendlicher in der Einwanderungsgesellschaft. Hamburg: Edition Körber Stiftung 2009, 109-127.
[5] Pongratz, L. A. et al. (Hrsg.): Nach Foucault. Diskurs- und machtanalytische Perspektiven der Pädagogik. Wiesbaden 2004: VS.
[6] Mouffe, Ch.: Ăśber das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007.
[7] Knigge, V.: Zur Zukunft der Erinnerung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 25 / 26 / 2010, 10-16; Haug, V.: Staatstragende Lernorte. Zur gesellschaftlichen Rolle der NS-Gedenkstätten heute. In: Thimm, B. et al. (Hrsg.): Verunsichernde Orte. Selbstverständnis und Weiterbildung in der Gedenkstättenpädagogik. Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel 2010, 33-37.
EWR 13 (2014), Nr. 5 (September/Oktober)
Kontaktzonen der Geschichtsvermittlung
Transnationales Lernen ĂĽber den Holocaust in der postnazistischen Migrationsgesellschaft
Wien: zaglossus 2013
(258 S.; ISBN 978-3-902902-02-03; 19,95 EUR)
Astrid Messerschmidt (Darmstadt/Karlsruhe)
Zur Zitierweise der Rezension:
Astrid Messerschmidt: Rezension von: Sternfeld, Nora: Kontaktzonen der Geschichtsvermittlung, Transnationales Lernen ĂĽber den Holocaust in der postnazistischen Migrationsgesellschaft. Wien: zaglossus 2013. In: EWR 13 (2014), Nr. 5 (Veröffentlicht am 10.10.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978390290202.html
Astrid Messerschmidt: Rezension von: Sternfeld, Nora: Kontaktzonen der Geschichtsvermittlung, Transnationales Lernen ĂĽber den Holocaust in der postnazistischen Migrationsgesellschaft. Wien: zaglossus 2013. In: EWR 13 (2014), Nr. 5 (Veröffentlicht am 10.10.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978390290202.html