EWR 12 (2013), Nr. 6 (November/Dezember)

Verena Gangl
Metamorphosen der DiÀtetik und Psychohygiene zur Gesundheitserziehung
Eine historisch-systematische Untersuchung
WĂŒrzburg: Ergon-Verlag 2013
(340 S.; ISBN 978-3-89913-981-5; 48,00 EUR)
Metamorphosen der DiĂ€tetik und Psychohygiene zur Gesundheitserziehung Die vorliegende Studie ist im Jahr 2012 unter dem Titel „Vergessen, verdrĂ€ngt oder vereinnahmt – GrenzgĂ€nge zwischen den Disziplinen“ an der UniversitĂ€t Graz als Dissertation angenommen worden. Von ihrem Zugang her ist die Untersuchung der Allgemeinen und Historischen PĂ€dagogik zuzuordnen, zugleich soll ein kritischer Beitrag zu der sich im Etablierungsprozess befindlichen Teildisziplin GesundheitspĂ€dagogik geleistet werden, denn: „In all den Diskussionen rund um die Thematik ‚GesundheitspĂ€dagogik‘ lĂ€sst sich 
 die merkwĂŒrdige Tendenz beobachten, dass der Begriff ‚Erziehung‘ mittlerweile entweder ĂŒberhaupt vermieden oder sehr verkĂŒrzt verwendet wird“ (43).

Im Zentrum der Analyse steht ein VerstĂ€ndnis von GesundheitspĂ€dagogik, das die verdrĂ€ngte „existentiell-anthropologische Perspektive“ (38) von Gesundheit und Erziehung wieder zur Geltung bringen möchte. Als konkretes Untersuchungsinteresse wird in diesem Zusammenhang betont: „Davon ausgehend, dass Gesundheit im dritten Jahrtausend als Ressource fĂŒr erhöhte LebensqualitĂ€t gilt, stellt sich die Frage, was die PĂ€dagogik zu ihrer Förderung beigetragen hat“ (23). Beide Anliegen – die existentiell-anthropologische Dimensionierung und das praktische Förderinteresse – gilt es, beim Lesen des Bandes ebenso im Auge zu behalten wie auch den grundlegenden (im ursprĂŒnglichen Titel der Dissertation noch ausdrĂŒcklich genannten) historisch-systematischen und auch historiografisch interessanten Anspruch, eine Geschichte der DiĂ€tetik und Psychohygiene „anhand von vergessenen, verdrĂ€ngten oder vereinnahmten ProtagonistInnen und Strukturen“ (20) schreiben zu wollen.

In fĂŒnf Kapiteln (einschließlich Einleitung) legt Verena Gangl die Systematik ihrer Untersuchung dar: Kapitel 2 beschĂ€ftigt sich mit „Gesundheit als pĂ€dagogische[r] Herausforderung“, Kapitel 3 mit „DiĂ€tetik und PĂ€dagogik – Maßgebliche[n] Traditionen“, Kapitel 4 mit der „Psychohygiene als soziale[r] Weltbewegung“ und das abschließende Kapitel 5 mit der – aktuellen – Frage nach der „Renaissance: DiĂ€tetik und Psychohygiene heute“.

Historisch (und auch historiografisch) sensibel wird zunĂ€chst der Wandel nachgezeichnet, dem das VerstĂ€ndnis von Gesundheitserziehung (als DiĂ€tetik und Psychohygiene) seit der Antike unterliegt. Im zweiten Kapitel werden u.a. einschlĂ€gige (Nachschlage-)Werke seit Mitte des 20. Jahrhunderts einer allgemeinen PrĂŒfung unterzogen mit dem Ergebnis, dass „Gesundheit kein selbstverstĂ€ndliches Thema der pĂ€dagogischen Historiografie bzw. im Rahmen des pĂ€dagogischen Grundwissens“ sei (61). Im dritten Kapitel wird die antike DiĂ€tetik u.a. unter RĂŒckgriff auf wichtige Publikationen aus den 1970er und 1980er Jahren (H. Schipperges, T. Henkelmann/D. Karpf, P. Becker) sowie unter Verweis auf wichtige Vertreter aus der Geschichte der PĂ€dagogik wie auch der Gesundheitserziehung (I. Kant, B. C. Faust, Philanthropen, J. H. Pestalozzi, A. Grotjahn u.v.a.) als eine durch „medizinische Vorstellungen von Hygiene und ihre Entartung in der Rassenhygiene“ (128) vergessene Tradition rekonstruiert. Im vierten Kapitel werden, ausgehend von der amerikanischen Mental-Health-Bewegung im 19. Jahrhundert, Verbindungslinien zwischen den Entwicklungen der Psychologie und Psychiatrie im deutschsprachigen und im US-amerikanischen Raum bis in die Gegenwart hinein gezeichnet. Dabei wird dem Zusammenhang zwischen ReformpĂ€dagogik und Psychoanalyse im 20. Jahrhundert (S. Bernfeld, A. Aichhorn) besondere Aufmerksamkeit gewidmet. AusfĂŒhrlich rekurriert wird auf den österreichischen Mediziner Erwin Ringel und dessen Kampf gegen die Suizidproblematik bei Kindern und Jugendlichen Mitte des 20. Jahrhunderts sowie einige weitere (Gegenwarts-)Vertreter. Im fĂŒnften Kapitel werden, resĂŒmierend, VerknĂŒpfungen zwischen den historischen Traditionen der DiĂ€tetik und Psychohygiene sowie der modernen Bindungs-, Resilienz- und GlĂŒcksforschung (J. Bowlby, C. Wustmann, A. Bucher u.a.) hergestellt. Dieses Kapitel mĂŒndet in den – angesichts des eingangs erwĂ€hnten praktischen Förderinteresses der Studie – wichtigen (und doch zugleich etwas hilflos wirkenden) Appell, auf der Suche nach dem „guten Leben“ (263) die Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen zu stĂ€rken und die Elternbildung und -beratung zu intensivieren (vgl. 266f). Denn: „Ohne Erziehung“ seien „die Diskussionen um die Aufgabe des Begriffs in der Debatte rund um Gesundheit obsolet“ (268).

Die systematischen Befunde bleiben hinter der FĂŒlle an historischen Quellen- und Literaturbelegen zurĂŒck. Möglicherweise kann in einer so groß angelegten Studie wie der vorliegenden auch nicht beides gleichermaßen geleistet werden.

So erfĂ€hrt die interessierte Leserin/der interessierte Leser zwar von zahlreichen, in der Geschichte der DiĂ€tetik und Psychohygiene „vergessenen“, „verdrĂ€ngten“ oder „vereinnahmten“ Vertretern, wie beispielsweise Ernst Freiherr von Feuchtersleben (128ff) oder Elisabeth Rotten (164ff), und AnsĂ€tzen, so z.B. der Existenzphilosophie in den Gesundheitswissenschaften (vgl. 65), doch unterbleibt neben den im zweiten Kapitel eher eklektisch genannten Aspekten (61-75) eine weitergehende und systematische BeschĂ€ftigung mit der hier aufgeworfenen Frage nach dem VerdrĂ€ngten. Denn: Welche Personen bzw. welche Inhalte sind wann, warum und vor allem in welchen ZusammenhĂ€ngen ausgeblendet worden? Und worin oder in welchen (disziplingeschichtlichen, politischen, sozialen) Konstellationen zeigen sich die Merkmale des Vergessens, VerdrĂ€ngens bzw. Vereinnahmens? Hier lĂ€uft die Untersuchung Gefahr, den eigenen Fokus ahistorisch auf die von ihr untersuchten AnsĂ€tze und Theorien zu applizieren. Denn die Tatsache, dass Bollnow innerhalb der jungen Disziplin Gesundheitswissenschaften nicht rezipiert wird, ist wohl genauso wenig verwunderlich wie das Faktum, dass das in der zweiten HĂ€lfte der 1980er Jahre initiierte WHO-Programm zur Gesundheitsförderung den historischen Vorstellungen zur DiĂ€tetik und Psychohygiene keinen Stellenwert einrĂ€umt (vgl. 72).

Auch wird die – postulierte – existentiell-anthropologische Fundierung eines GesundheitsverstĂ€ndnisses lediglich in AnsĂ€tzen ausgefĂŒhrt. Wichtig seien, so schreibt Verena Gangl unter Verweis auf Bollnow, die „erzieherische Haltung“, „die pĂ€dagogische AtmosphĂ€re“ sowie der „erlebte[ ] 
 und vital erschlossene[ ]“ Raum (vgl. 66f, i. O. Hervorhebungen). Unter Bezug auf M. J. Langeveld und H. Döpp-Vorwald werden die Geborgenheit des Hauses („Dort leben wir im Mit-einander-Sein“ 68) und „das Ganze der erzieherischen Aufgabe“ (266) betont. Dennoch bleiben die AusfĂŒhrungen, systematisch gesehen, auch in dieser Hinsicht eklektisch und in ihrem appellativen Charakter fĂŒr die Untersuchung weitgehend folgenlos. Eine systematische Sichtung und kritische GegenĂŒberstellung der vorhandenen – reduktionistischen – (Gegenwarts-)AnsĂ€tze (vgl. 61ff) und des hier geforderten existentiell-anthropologischen GesundheitsverstĂ€ndnisses wĂ€ren ebenso wĂŒnschenswert gewesen wie die Darlegung der Konsequenzen einer solchen Betrachtungsweise fĂŒr PĂ€dagogik und GesundheitspĂ€dagogik.

Selbst die vor dem Hintergrund existenzphilosophischer und anthropologischer PrĂ€missen geĂ€ußerte Relativierung der Notwendigkeit einer Teildisziplin GesundheitspĂ€dagogik lĂ€sst die Leserin/den Leser etwas ratlos zurĂŒck, wenn es heißt: „Die hier dargestellte Sichtweise provoziert die legitime Frage, ob die PĂ€dagogik eine weitere Teildisziplin wie GesundheitspĂ€dagogik braucht. Aus wissenschaftspolitischen GrĂŒnden durchaus nachvollziehbar, aus inhaltlichen GrĂŒnden bleibt aber zu hinterfragen, ob die Förderung von psychischer und körperlicher Gesundheit und die Vermittlung von Lebenskonzepten nicht ohnehin in allen Feldern der PĂ€dagogik ihren Platz haben muss“ (53). Schließt sich denn beides aus? Und: MĂŒssen (personale) Intentionen und (systemische) Funktionen, zu denen Ausdifferenzierungsprozesse von Wissenschaftsdisziplinen in der SpĂ€tmoderne gehören, nicht grundsĂ€tzlich voneinander unterschieden werden?

Dank fleißiger Recherchen und jahrelanger Vorarbeiten der Verfasserin erweist sich das Buch als eine wahre Fundgrube fĂŒr historische Details, Quellen- und Literaturhinweise. In dieser Hinsicht kann die Untersuchung durchaus als ErgĂ€nzung zu den neueren, in der Erziehungswissenschaft seit den 1990er Jahren vorgelegten historisch-systematischen Studien zur Gesundheitserziehung/-pĂ€dagogik (J. Bennack, C. V. Haug, G. Henner, M. Imboden, T. Krei, A.M. Stroß u.a.) gesehen werden. Gleichwohl stellt sich die Frage, wie ĂŒberzeugend der Übergang von der historischen Darstellung zur Systematisierung der Ergebnisse in der vorliegenden Analyse gelungen ist und inwiefern das hier artikulierte praktische Interesse, die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen zu fördern, im Rahmen einer solchen Studie ĂŒberhaupt ausreichend zur Geltung gebracht werden kann. Im Sinne einer positiven Herausforderung formuliert, lĂ€sst sich festhalten: Die von Verena Gangl so bezeichnete existentiell-anthropologische Fundierung des aktuellen Diskurses zur Gesundheitserziehung wie auch die weitergehende kritische Sichtung und Systematisierung des hier in akribischer Weise zusammengetragenen Materials stehen noch aus; sie könnten sowohl den allgemeinpĂ€dagogischen als auch den gesundheitspĂ€dagogischen Diskurs befruchten.
Annette M. Stroß (Karlsruhe)
Zur Zitierweise der Rezension:
Annette M. Stroß: Rezension von: Gangl, Verena: Metamorphosen der DiĂ€tetik und Psychohygiene zur Gesundheitserziehung, Eine historisch-systematische Untersuchung. WĂŒrzburg: Ergon-Verlag 2013. In: EWR 12 (2013), Nr. 6 (Veröffentlicht am 03.12.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978389913981.html