Der von Katrin Kraus herausgegebene Sammelband fokussiert in seinem Titel auf Bildung von Lehrerinnen und Lehrern als âGrundlage dafĂŒr, dass sie die Herausforderungen der Schule in unserer Gesellschaft annehmen und in einem guten Sinne gestalten könnenâ (7). Der Fokus der Betrachtung liegt dabei auf der Schweiz, wie es der Klappentext des Buches auch explizit ausweist.
Der Sammelband beginnt mit dem systematisch gehaltenen Beitrag âLehrerinnen- und Lehrerbildung und die Berufspraxis â Anmerkungen zu einem vielfach missverstandenen VerhĂ€ltnisâ von Hermann J. Forneck. Der Beitrag greift die Theorie-Praxis-Problematik unter dem Stichwort der âEvidenzbasierungâ pĂ€dagogischen Handelns auf (15) und legt eine konzise Analyse vor: Der Autor arbeitet heraus, inwiefern Evidenzbasierung âstandardisierte Kontextbedingungenâ voraussetze (19) womit âEvidenzen auf einer Ebene generiert [wĂŒrden], die oberhalb der Ebene des konkreten pĂ€dagogischen Handelns liegtâ (19). Entsprechend, so die These des Beitrags, werde durch individualisierende Kontextualisierung im Praxisfeld weniger Evidenz als vielmehr Varianz erzeugt. In einem weiteren Schritt analysiert der Autor, inwiefern empirischer Bildungsforschung zudem ein âpraktisches Erkenntnisinteresseâ innewohnt, weil sie âeinen besseren Unterricht und damit eine Vorstellung gelingender Bildung bzw. gelingenden Lernensâ anstrebe (19). Lernen, so resĂŒmiert der Autor, sei entsprechend âkein empirischer Gegenstand, sondern einer des Sein-Sollens, dem die Praxis noch nicht genĂŒgtâ (21). In der âTriangulation von Theorie, Empirie und handlungsorientierter KonstruktivitĂ€tâ (20) sieht der Autor einen âmethodologischen Paradigmenwechsel im Bereich erziehungswissenschaftlicher Forschungâ (21), der die wissens- und geltungstheoretisch ungeklĂ€rte Vermittlung von vermeintlicher Evidenzbasierung und Handlungsorientierung durch empirische Bildungsforschung aufzubrechen vermag.
Der Beitrag âEpistemische Kulturen und Kompetenzerwerb an PĂ€dagogischen Hochschulenâ von Jan Weisser versucht mit dem Begriff der âepistemischen Kulturenâ, der âdie Evolution kognitiver Leistungen ─ Verfahren und Methoden, geprĂŒftes Wissen, neue Ideen und AnsĂ€tzeâ in den Blick nehmen soll (28), das Studienangebot PĂ€dagogischer Hochschulen auf Kompetenzerwerbsprozesse hin zu beschreiben. Inwiefern die vom Autor eingerĂ€umten Unklarheiten des Kompetenzbegriffs (35) fĂŒr die theoretisch gehaltene Analyse ein Problem darstellen, bleibt dabei offen. Stattdessen wird erlĂ€utert, wie aus Sicht des Autors âKompetenzerwerb in Modullandschaftenâ (38) PĂ€dagogischer Hochschulen unter den Rahmenbedingungen der Bologna-Reform vonstattengeht.
âZum VerhĂ€ltnis von Lehrpersonenbildung und Hochschuldidaktikâ schreibt Markus Weil und fordert, âdass einer Lehrpersonenbildung, die auf Hochschulbildung angesiedelt ist, eine entsprechende Hochschuldidaktik zur Seite zu stellen istâ (53). Sie könne dabei âan Lehrpersonenbildung anknĂŒpfen und muss sich ĂŒber singulĂ€re methodische Ăberlegungen hinaus zu ihr ins VerhĂ€ltnis setzenâ (54). Sicherlich lohnt es sich, diesem Gedanken Weils weiter nachzugehen. Dazu erscheint es allerdings unabdingbar, zunĂ€chst noch genauere theoretische und empirische KlĂ€rungsarbeit zu leisten.
Begriffliche KlĂ€rung oder empirische Analysen stehen auch nicht im Zentrum des Beitrages âInklusion als Impuls fĂŒr Organisationsentwicklung an Hochschulen. Das Beispiel des Studiengangs Organisationsentwicklung und Inklusion der Hochschule Neubrandenburgâ von Steffi Kraehmer, wenngleich der Inklusionsbegriff als âgesellschaftsorientiertes und menschenrechtsbasiertes Paradigmaâ eingefĂŒhrt wird (57). Der Beitrag verfolgt vielmehr das Ziel, âInklusion als Thematik aufzugreifen und als Impuls fĂŒr Organisationsentwicklung im Hochschulbereich zu nutzenâ (58). Dieser programmatischen Ausrichtung des Textes sind vermutlich Aussagen wie âViele Akteurinnen und Akteure gewinnen dem Inklusionsansatz [...] etwas Positives abâ (59) oder Appellen wie âInklusion fordert eine aktive Gesellschaft, die in den Unterschieden der Menschen eine Bereicherung siehtâ (59) geschuldet, die eher affirmativ-normativen als theoretischen bzw. empirischen Charakter tragen. Inklusion erfordere, so die Autorin, âChange Managementâ (65), auf das hin die Gestaltungselemente des von ihr vorgestellten Studiengangs ausgerichtet sind, wie abschlieĂend dargelegt wird.
âDie Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern: vom Staatsmonopol zum handelbaren Gut?â von Lucien Criblez liefert eine historische Perspektive auf die Lehrerbildung in der Schweiz vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Ein Schwerpunkt liegt zum einen in der Betrachtung der 1960er und 1970er Jahre, wo die Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern als Staatsaufgabe begriffen wurde und zum anderen in der seit den 1990er Jahren vollzogenen Wende hin zu Marktorientierung und Dezentralisierung. âMarkt oder Staat â oder: Ist die Weiterbildung der Lehrerinnen und Lehrer ein âhandelbaresâ Gut?â (84), so spitzt Criblez die Frage zu und zeichnet unter dieser Ăberschrift aktuelle Entwicklungen im Rahmen von GATS, dem âGeneral Agreement on Trade in Servicesâ nach (84f.). Sein ResĂŒmee lautet: âIst (Weiter-)Bildung ein international handelbares Gut, ist weder ein kantonal geschĂŒtzter Markt fĂŒr Weiterbildungsangebote noch ein staatliches Monopolangebot aufrechtzuerhaltenâ (85)? Ein weiterer Reformschub stĂŒnde bevor, so der Autor. Interessant wĂ€re freilich auch die inhaltliche Bearbeitung der von ihm aufgeworfenen Frage, z. B. unter RĂŒckgriff auf bildungstheoretische Kategorien.
Bildungstheoretische Reminiszenzen scheinen hingegen im Beitrag âLesesozialisation verstehen und das Lesen verstĂ€ndig unterstĂŒtzen. Aufgaben fĂŒr Lehrerinnen und Lehrerâ von Andrea Bertsch-Kaufmann auf. âDas eigene im Anderen des Textes wiederkennend sind Lesende erst einmal bei sichâ heiĂt es zur LiteralitĂ€t als Norm (94), womit auf âPersönlichkeitsbildung im humboldtschen Sinnâ (95) angespielt wird. Der Beitrag geht auf gesellschaftliche Rahmenbedingungen ein, die gegenĂŒber der bĂŒrgerlichen Lesekultur zu New Literacies fĂŒhrten (101) und resĂŒmiert, jugendliche Lesepraktiken seien âanders und besser als ihr Rufâ (104). Der Beitrag widerspricht somit âeiner kulturpessimistischen EinschĂ€tzung jugendlichen Leseverhaltensâ, der âoft mit Bezug auf PISA vorgenommen wirdâ (104).
Mit seinem Beitrag âSchulinternes QualitĂ€tsmanagement fördert den Unterricht am besten, wenn es sich selbst begrenztâ zeigt Wolfgang Beywl, was schulisches QualitĂ€tsmanagement zentral von QualitĂ€tsmanagement in ökonomischen Kontexten unterscheidet und stĂŒtzt sich dabei auf den Gedanken, dass sich âUnterricht [...] in stĂ€ndiger Koproduktion von Lehrenden und Lernendenâ vollziehe (113). QualitĂ€tssicherung könne daher nicht wie âin standardisierter Produktionâ verfahren (114). Koproduktionsprozesse seien schlieĂlich âunvermeidbar in hohem Masse personen- und situationsabhĂ€ngigâ (115). Planung geschehe entsprechend, so der Autor, âimmer in der Gewissheit um das Risiko des Scheiternsâ (115). âGelungene Selbstbegrenzung des schulinternen QualitĂ€tsmanagementsâ sei daher âin allen seinen Ebenen auf das Notwendige beschrĂ€nktâ (125), womit der Autor die Standardisierungsproblematik des ersten Beitrags im Rahmen des UnterrichtsqualitĂ€tsdiskurses konkretisiert.
Der Band schlieĂt mit dem Beitrag âDie Gesellschaftlichkeit der Erziehung. AnsĂ€tze, Rezeption und ResonanzrĂ€ume der erziehungstheoretischen Positionen von Anna Siemsenâ von Katrin Kraus. Mit Anna Siemsen fĂŒhrt die Autorin zentrale GedankengĂ€nge der in der Erziehungswissenschaft wenig rezipierten âTheoretikerin des Sozialismus und Professorin der Erziehungswissenschaftâ (132) vor. So zeichnet die Autorin Siemsens gesellschaftstheoretische Sicht auf Erziehung in die âResonanzrĂ€umeâ Frauenbewegung (134ff), ReformpĂ€dagogik (137f) und BerufspĂ€dagogik ein und zeigt u. a., wie Siemsens GedankengĂ€nge anti-rationalistischen Impulsen der ReformpĂ€dagogik und der Berufsbildungstheorien wehren. Durch eine Auseinandersetzung mit ihrem Werk könne, so das Fazit, das âVerhĂ€ltnis von Individuum, Gesellschaft und Erziehungâ (141) verstĂ€rkt in den Blick gerĂŒckt werden. Die KlĂ€rung dieser VerhĂ€ltnisbestimmung ist freilich von jeher Kernbestand nachaufklĂ€rerischen pĂ€dagogisch-systematischen Denkens, was im Beitrag allerdings nicht weiter thematisch wird.
Die Reflexion dieser von Kraus angesprochenen VerhĂ€ltnisbestimmung dĂŒrfte in der Tat ein zentraler Beitrag zur âBildung von Lehrerinnen und Lehrernâ sein, um die âHerausforderungen in Schule, Hochschule und Gesellschaftâ, wie es im Titel des Sammelbandes heiĂt, adĂ€quat in den Blick nehmen zu können. Der Band lĂ€sst entsprechend systematische BeitrĂ€ge zur Themenstellung erwarten, was er allerdings in dieser Form nicht an allen Stellen einzulösen vermag, vor allem dort nicht, wo einzelne BeitrĂ€ge sowohl theoretische als auch empirische KlĂ€rungen vermissen lassen. Wo sie vorgenommen werden, bieten sie, wie der erste Beitrag anschaulich demonstriert, anregende Impulse fĂŒr die in den Blick genommenen Herausforderungen.
EWR 15 (2016), Nr. 1 (Januar/Februar)
Bildung von Lehrerinnen und Lehrern
Herausforderungen in Schule, Hochschule und Gesellschaft
Opladen / Berlin / Toronto: Budrich UniPress 2015
(145 S.; ISBN 978-3-86388-705-6; 22,90 EUR)
Martin Harant (TĂŒbingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Martin Harant: Rezension von: Kraus, Katrin (Hg.): Bildung von Lehrerinnen und Lehrern, Herausforderungen in Schule, Hochschule und Gesellschaft. Opladen / Berlin / Toronto: Budrich UniPress 2015. In: EWR 15 (2016), Nr. 1 (Veröffentlicht am 04.02.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978386388705.html
Martin Harant: Rezension von: Kraus, Katrin (Hg.): Bildung von Lehrerinnen und Lehrern, Herausforderungen in Schule, Hochschule und Gesellschaft. Opladen / Berlin / Toronto: Budrich UniPress 2015. In: EWR 15 (2016), Nr. 1 (Veröffentlicht am 04.02.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978386388705.html