EWR 20 (2021), Nr. 2 (März/April)

Rita Braches-Chyrek / Tilman Kallenbach / Christina Müller / Lena Stahl (Hrsg.)
Bildungs- und Teilhabechancen geflüchteter Menschen
Kritische Diskussionen in der Sozialen Arbeit
Opladen / Berlin / Toronto: Barbara Budrich 2019
(272 S.; ISBN 978-3-8474-2226-6; 29,90 EUR)
Bildungs- und Teilhabechancen geflüchteter Menschen Der Sammelband mit insgesamt 18 Beiträgen geht auf die im April 2017 erfolgte Tagung „Soziale Arbeit mit Geflüchteten“ an der Otto-Friedrich-Universität in Bamberg zurück. Das Anliegen des Bandes ist es, „Macht- und Herrschaftsverhältnisse auf unterschiedlichen Ebenen und deren Verstrickungen“ im Kontext von Flucht und Sozialer Arbeit zu identifizieren sowie „neue Perspektiven für eine reflexive und kritische sozialpädagogische Forschung“ aufzuzeigen (15).

Die Einführung beginnt mit einem kritischen Rückblick auf die durch „FluchtMigration“ evozierten migrationspolitischen, (zivil)gesellschaftlichen und wohlfahrtsstaatlichen Entwicklungen seit 2015. Diese berühren die Soziale Arbeit etwa in der Reflexion von machtvollen Positionierungen sowie hinsichtlich der Vergewisserung ihrer fachlichen Standards, die nicht zuletzt vor dem Hintergrund der strukturellen Einbindung von „ehrenamtlichem Engagement“ in wohlfahrtsstaatliche und sozialpädagogische Tätigkeitsfelder herausgefordert werden. Insgesamt sei die Soziale Arbeit durch ein Spannungsfeld zwischen der Erfüllung der Interessen des „Post-Wohlfahrtsstaats“ und dem Anspruch der solidarischen Unterstützung von Adressat*innen gekennzeichnet. Damit Soziale Arbeit nicht als politisch-administrative „Handlangerin“ fungiert, werden Analysen von gesellschaftlichen Bedingungen als notwendig erachtet (14f). Die Einleitung lässt allerdings einen Rückbezug zu dem im Obertitel des Sammelbandes aufgemachten Thema der „Bildungs- und Teilhabechancen geflüchteter Menschen“ vermissen.

Die Beiträge, die sowohl forschungsbasiert als auch praxis-beschreibend und -reflektierend sind, und mal mehr, mal weniger konkrete Bezüge zu Feldern der Sozialen Arbeit herstellen, werden in fünf thematische Blöcke unterteilt. Auf drei der Beiträge, die m.E. das eingangs formulierte Anliegen des Bandes besonders treffen, möchte ich näher eingehen.

Ein terminologischer Wandel „Vom ‚Flüchtling‘ zum Geflüchteten?“, wie Mariam Arouna in ihrem so betitelten, sehr lesenswerten Beitrag (35-47) aufgreift – einer von zweien im ersten Block zur Grundlagentheoretischen Perspektivierung –, impliziert nicht zwingend einen Bedeutungswandel. Von „Geflüchteten“ zu sprechen sei nach Arouna begrüßenswert und notwendig, jedoch werde ungeachtet der Terminologie „ein spezifisches Wissen um die Zielgruppe […] andauernd reproduziert“ (37). Arouna unternimmt eine historische Betrachtung der „Kontinuität gesellschaftlicher Flüchtlingskonstruktionen“, die zwischen der Kriminalisierung „Unechter“ und der Viktimisierung „Echter“ oszilliert, wodurch in beiden Fällen nicht-zugehörige Andere produziert werden (41ff). Anhand zweier Auszüge aus Interviews mit Jugendlichen und der darin erfolgten Aushandlung mit der Adressierung als „Flüchtling“ betont Arouna „die Vielschichtigkeit von Handlungsfähigkeit und Positionierungsprozessen“ (45). Perspektiven, „die Geflüchtete als Akteur*innen begreifen“ (46), seien sowohl für die Theoretisierung und Forschung als auch die sozial-arbeiterische Praxis geboten. Zugleich sei die selbstkritische Soziale Arbeit gefordert, machtvolle Mechanismen, die hierarchische Verhältnisse hervorbringen, zu erkennen, zu kritisieren und ggf. zu zerstören. Wünschenswert wären mehr Belege zu den Ausführungen.

In einem von drei Beiträgen im zweiten Block Kinderrechte und Partizipation stellt Mitherausgeberin Christina Müller heraus (67-77), dass Kinder mit Fluchterfahrung trotz vielschichtiger Lebensrealitäten die besondere Verschränkung der sozialen Kategorie „Kind“ mit der „Eingebundenheit in das Gemeinsame Europäische Asylsystem […] als schicksalhafte Gemeinsamkeit“ teilten (67). Die (westliche) Anerkennung von Kindheit als Schutz- und Schonraum ende mit der Volljährigkeit – auf die Problematik von anschließenden Erziehungshilfen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB VIII) geht Juri Kilian in einem späteren Beitrag im dritten Block Ausgewählte empirische Ergebnisse ein (141-148). Durch die Kategorisierung als „begleitete“ oder „unbegleitete“ Minderjährige ergeben sich weitere Differenzierungen: Da ihr Status nicht von den Eltern abhängt, erscheinen Letztere als „relativ privilegiert“ und würden als „Subjekte mit eigenen Rechten, Bedürfnissen und Wünschen“ wahrgenommen (70). Zudem seien sie im Fokus der öffentlichen Diskussionen und Forschung, wohingegen über die Lebensbedingungen von Sorgeberechtigten begleiteten Minderjährigen eine nur „unzureichende empirische Basis“ (73) vorliege. Anzumerken ist, dass einige der angesprochenen Regelungen im Asylkontext aufgrund von Veränderungen im Jahr 2019 wieder obsolet sind. Zudem zeigen sich einige Fehler in den Literaturbelegen.

Im vierten Block werden mit drei Beiträgen intersektionale Perspektiven vertieft. Auf Basis der Erfahrungen eines Forschungsprojekts zur außerschulischen „Bildungsteilhabe von Jugendlichen mit Fluchterfahrung“ (167-181) reflektieren Norbert Frieters-Reermann, Nadine Sylla und Marianne Genenger-Stricker zunächst Machtverhältnisse im Forschungsprozess und geben anschließend einen Einblick in ihre Forschungsergebnisse: Mitte 2016 wurden Gruppendiskussionen mit insgesamt 60 geflüchteten Jugendlichen zum Freizeitverhalten und Erfahrungen mit außerschulischen Bildungsangeboten und weitere zwölf ethnografischen Alltagsbegleitungen durchgeführt. Im Anschluss wurden Fachkräfte und Ehrenamtliche befragt (168). Die Autor*innen heben drei, mit der Forschung verbundene Spannungsfelder hervor, die sich auf die Reproduktion von problematischen Kategorien, Macht- und Dominanzverhältnissen sowie Sprach- und Ausdrucksbarrieren beziehen. Sie bieten damit Denkanstöße für die Gestaltung von Forschungsprojekten im Kontext Flucht und Soziale Arbeit. Im zweiten Teil des Artikels strukturieren die Autor*innen die Forschungsergebnisse hinsichtlich der Zugangsmöglichkeiten und -barrieren für die Bildungsteilhabe auf fünf Ebenen und leiten zusätzlich Reflexionsanstöße für die außerschulischen Bildungsorte ab.

Der fünfte Block zu politischen Positionierungen bildet den Abschluss des Sammelbandes. In den vier Beiträgen werden Positionierungsmuster von Studierenden oder Ehrenamtlichen sowie die Proteste geflüchteter Menschen ab 2012 untersucht und Konsequenzen für eine (selbst-)kritische Soziale Arbeit abgeleitet.

Angesichts des kritischen Anspruchs, der sich m.E. in diesem Band auch erfüllt, finde ich verwunderlich, dass sich kein erkennbarer gemeinsamer sprachlicher Nenner oder eine anfängliche Explikation zur Nutzung von Begriffen im Kontext des Phänomens „FluchtMigration“ finden lässt. Überraschend ist, dass sowohl bei der Einführung als auch in einem späteren Beitrag ohne Distanzierung die Metapher „Flüchtlingswelle“ genutzt wird, wodurch Flucht und Schutzsuchende als ‚Naturkatastrophe‘ apostrophiert und der historische und aktuelle Beitrag von Aufnahmeländern an den Fluchtursachen (z.B. Waffenlieferungen, (neo-)koloniale Ausbeutung) weitgehend ausgeblendet wird. In einem anderen Beitrag wird eine ähnliche Bezeichnung zwar in Anführungszeichen gesetzt, jedoch nicht weiter auf die mit dem Begriff verbundene Problematik eingegangen. In wissenschaftlichen Beiträgen ist dies m.E. besonders schwerwiegend, da derartige Begriffe dadurch eine spezifische, wissenschaftliche Legitimation erfahren. Dies legt – u.a. den Adressat*innen des Sammelbandes, insbesondere Studierende, Lehrende, Forschende und im Feld der Sozialen Arbeit Tätige –, nahe, solche als legitim identifizierten Begriffe zu reproduzieren.

Dennoch: Die Beiträge bieten gute Einblicke und Reflexionsanstöße für unterschiedliche Forschungs- und Tätigkeitsfelder im Nexus von (Flucht-)Migration und Sozialer Arbeit. Damit ergänzen sie in sinnvoller Weise die insbesondere in den letzten drei Jahren erschienenen gesellschaftskritischen Publikationen im Diskursfeld „FluchtMigration“.
Barbara J. Funck (Bremen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Barbara J. Funck: Rezension von: Braches-Chyrek, Rita / Kallenbach, Tilman / Müller, Christina / Stahl, Lena (Hg.): Bildungs- und Teilhabechancen geflüchteter Menschen, Kritische Diskussionen in der Sozialen Arbeit. Opladen / Berlin / Toronto: Barbara Budrich 2019. In: EWR 20 (2021), Nr. 2 (Veröffentlicht am 28.04.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978384742226.html