EWR 15 (2016), Nr. 4 (Juli/August)

Anke Wegner / Ǐnci Dirim (Hrsg.)
Mehrsprachigkeit und Bildungsgerechtigkeit
Erkundungen einer didaktischen Perspektive
Opladen / Berlin / Toronto: Barbara Budrich 2016
(322 S.; ISBN 978-3-8474-0669-3; 39,90 EUR)
Mehrsprachigkeit und Bildungsgerechtigkeit Der Herausgeberband von Anke Wegner und Ǐnci Dirim ist Band 1 der neuen Reihe „Mehrsprachigkeit und Bildung“. In ihm wird eine didaktische Perspektive auf das Verhältnis von migrationsbedingter Mehrsprachigkeit und Bildungsgerechtigkeit entfaltet. 29 Autor_innen stellen in 18 Beiträgen zum mehrsprachigen Lernen in Deutschland, Ă–sterreich, der Schweiz, Frankreich und Burkina Faso damit verbundene Positionen, Konzepte und empirische Studien als Chance auf mehr Bildungsgerechtigkeit nach Krassimir Stojanovs Kategorisierung [1] dar. Ziel des Bandes soll es sein, „mit Bezug auf den bildungswissenschaftlichen Diskurs zu eruieren, inwiefern die Kategorie Bildungsgerechtigkeit eine fĂĽr die Didaktik der migrationsbedingten Mehrsprachigkeit angemessene Kategorie darstellt“ (10). Die Zielgruppe des Sammelbandes sind „Kolleginnen und Kollegen […], die didaktische Konzepte zum Umgang mit migrationsbedingter Mehrsprachigkeit unter verschiedenen theoretischen Perspektiven reflektieren möchten“ (10).

Dieser erste Band soll „ein Forum für den Beginn dieser Auseinandersetzung“ (24) bieten, wozu vier Abschnitte dienen. Im ersten Abschnitt „Einführung: Mehrsprachigkeit und Bildungsgerechtigkeit“ werden „grundlegende, allgemeine Prinzipien […] für den schulischen und hochschulischen Kontext“ (17) dargestellt. Abschnitt 2 „Mehrsprachigkeit und Bildungserfolg“ zeigt konkret die „Ermöglichung des Bildungserfolgs mehrsprachiger Schülerinnen und Schüler“ (19). In Abschnitt 3 „Mehrsprachigkeit und Teilhabe an Schule und Gesellschaft“ sind „ausgewählte[r] Facetten der Teilhabe an Schule und Gesellschaft sowie ihrer Gestaltung“ (20) dargestellt. Abschnitt 4 „Mehrsprachigkeit und Anerkennung“ schließt mit Beiträgen, „die sich Aspekten der Anerkennungsgerechtigkeit zuordnen lassen“ (22).

Im einführenden Artikel benennen Natascha Khakpour und Magdalena Knappik die „mangelnde Passung von monolingualem Bildungssystem zu multilingualer gesellschaftlicher und schulischer Realität“ (31) und diskutieren den als leeren Signifikanten unterdefinierten Begriff der Bildungsgerechtigkeit. Nur mit einem solchem scheint eine Deutschförderung, die für die monolinguale Gesellschaft qualifiziert, so widerstandslos positiv besetzbar. Da Bildungsgerechtigkeit nach Stojanov (2007; [2]) neben Verteilungs-, auch Teilhabe- und Anerkennungsgerechtigkeit beinhaltet, gilt es „die für die Ungleichheit verantwortlichen Strukturen und Herrschaftsverhältnisse aufzudecken und zu irritieren“ (32). Claus Melter plädiert für eine diskriminierungs- und diversity-reflexive, inklusive Hochschuldidaktik. „Unbestimmte Containerbegriffe“ (49) sind in ihrer Türöffnerfunktion mit o.g. Signifikanten vergleichbar. Bildung wird von ihm als Ermöglichung im Sinne des Capability-Approaches eingeordnet. Bildungsgerechtigkeit, Diversity und (Mehr-)Sprachigkeit sind in Antidiskriminierungsverhältnissen, also menschenrechtsorientiert, gefragt. Entlang der sechs zentralen Differenzlinien des radikalen Diversityverständnisses bietet das Social Connection Model of Responsibility nach Iris Marion Young (2006) einen Lösungsansatz für epochaltypische Schlüsselprobleme nach Klafki (1997). Hans-Jürgen Krumm fordert in seinem programmatischen Artikel Mehrsprachigkeit als kulturelles und soziales Kapital nach Bourdieu (1983) zu nutzen: Schule soll sprachdiverser werden, die sprachlichen Identitäten der Lernenden stärken und Mehrsprachigkeit als Schlüssel zur Sprachbewusstheit nutzen. Sozioemotionale Effekte von Mehrsprachigkeit interdisziplinär zu untersuchen, fordern Sven Oleschko und Zuzanna Lewandowska. Während die Soziologie in der Bildungsübergangsforschung Erfolgserwartungen der Beteiligten, die Linguistik Mehrsprachigkeit, Bildungssprache und Sprachkontaktphänomene fokussiert, bietet die Psychologie verschiedene Erklärungsansätze für Stigmatisierungen. Bildungsgerechtigkeit als Topos sollte Lernende und Lehrende stärker individualisiert in den Blick nehmen.

Im zweiten Abschnitt werden exemplarisch kleinere (Explorations-)Studien von der Primarstufe bis zur Elternarbeit fĂĽr die Sprach(en)wahrnehmung bei der Förderung und / oder Anschlusskommunikation vorgestellt, auf die im Rahmen dieser Besprechung nicht im Einzelnen eingegangen wird. Es zeigt sich häufig eine andere Erwartung der Forschenden als die von den SchĂĽler_innen oder ihren Eltern artikulierte. Im dritten Abschnitt zur Teilhabe werden Konzepte wie family literacy, Sprachnarrationen als Prozesse der Identitätsrekonstruktion und translatorisches Handeln stärker zur Ausbildung bzw. Anerkennung empfohlen. Anke Wegner und Ǐmci Dirim betrachten dann allgemeindidaktische Perspektiven mit Bezug auf Sprachigkeit und Translanguaging. Das Prinzip einer „reflexiven sprachlichen Normativität“ (199f) bietet nach ihrer Ansicht die Chance, fĂĽr das Differenzmerkmal Sprache und die intersektionale Merkmalskombination Sprache und Migration zu sensibilisieren und generell den Blick zu wechseln, „wobei der Fokus stärker auf die Schule und den Unterricht in Hinblick auf die Wahl allgemein- und fachwissenschaftlicher Vorgehensweisen gerichtet wäre als auf die Herkunftsmilieus“ (217).

Der letzte Abschnitt erscheint zweigeteilt. Einige Beiträge zeigen ernüchternde Ergebnisse in Projekten zum sprachenoffenen Fremdsprachenunterricht. So sollten etwa mit dem von Ann-Birte Krüger vorgestellten Schulprojekt „Sprach- und Kulturbrücke“ individuelle Mehrsprachigkeit und schulische Integration vor allem durch Sprachvergleichskurse gefördert werden. Die Schüler_innen nahmen allerdings kaum eine positive Wertschätzung ihrer Erstsprachen wahr, denn sie „selbst vertreten einen Kulturbegriff, der keine Brücken zu benötigen scheint, da sie ihre kulturelle Identität als ein Ganzes erleben und nicht auf Einzelaspekte reduziert werden wollen“ (251). Andere Beiträge greifen wieder theoretische Überlegungen auf. Kerstin Göbel und Lars Schmelter schlagen sechs mehrsprachigkeitsorientierte Unterrichtsansätze und entsprechende Aufgabenkonzeptionen vor. Diese bauen auf DESI-Ergebnissen und nachfolgenden Projekten auf, die Mehrsprachigkeitsvorteile belegten. Eine flächendeckende Umsetzung der Mehrsprachigkeitsdidaktik fehlt bislang. Dafür würden Aufgaben gebraucht, die es erlauben, Mehrsprachigkeits- und interkulturelle Bildungsforschung miteinander zu verknüpfen. Heidi Rösch kombiniert reflexive Diversität, DaZ- und Mehrsprachigkeitsdidaktik. Sie, die einzige, die mit einer individualisierten Ich-Perspektive als Autorin wahrnehmbar ist, fordert „Multiperspektivität hinsichtlich unterschiedlicher Identitätskonzepte“ (290). Sprachen als Differenzlinien werden benannt, bevor DaZ-Angebote als notwendige Nachteilsausgleiche, Mehrsprachigkeit als Language Awareness-Konzept erläutert werden. Am Ende steht eine rassismuskritische Analyse des Begriffs Zweitsprache von Dragan Miladinovic. Nach seiner Auffassung konstruieren Begriffe Gegenstandsbereiche und definieren auf diese Weise das „Wir“ und das „Nicht-Wir“. Insofern sei der Zweitsprachenbegriff eine Ausgrenzungskategorie.

Die Herausgeberinnen liefern insgesamt plurale Sichten auf die Chancen zu mehr Bildungsgerechtigkeit durch Mehrsprachigkeit und weiter zu verbessernde Chancen für alle Lernenden in adäquaten Angeboten, ohne selbst auf den eingangs als mangelnd dargestellten empirischen Prüfungen zu bestehen. Zahlreiche Möglichkeitsformulierungen im Konjunktiv überwiegen auch in diesem Sammelband. So wird zwar ein breiter Überblick über verschiedene Ansätze zu mehr Wertschätzung und Lehr-Lernqualität geschaffen, doch es bleibt den Lesenden überlassen, die Beziehungen zwischen z.T. konträren Aussagen einzelner Artikel zu erkennen und zu reflektieren. Offene Fragen wären hierbei die Erwünschtheit von mehrsprachiger Bildung, der separaten DaZ-Förderung bei den damit ggf. diskriminierten – weil als Andere herausgestellten – Kindern und Jugendlichen. Auch sprachliche Fragen, die mit verschiedenen Hypothesen des Spracherwerbs arbeiten, z.B. Kontakt- (79), Kontrast- (95), Interdependenzhypothese (96), sind nach wie vor unerklärt. Es bleibt zu wünschen, dass in den nächsten Bänden der neuen Reihe Leerstellen und Diskussionsanstöße wieder aufgenommen, vertieft diskutiert und empirisch belegt werden. Dies erscheint besonders wichtig, wenn es wie hier um Beurteilungskategorien wie „Angemessenheit“ und „Gerechtigkeit“ gehen soll, die eben meist individuell hinterlegt und für die – auch hier – keine empirisch ersichtlichen Bewertungsmaßstäbe offengelegt werden. In der theoretischen Auseinandersetzung liefert der Sammelband dafür wichtige Impulse für das Weiterdenken.

[1] Stojanov, K.: Bildungsgerechtigkeit. Rekonstruktionen eines umkämpften Begriffs. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011.

[2] Stojanov, K.: Bildungsgerechtigkeit im Spannungsfeld zwischen Verteilungs-, Teilhabe- und Anerkennungsgerechtigkeit. In: Wimmer, M. (Hrsg.): Gerechtigkeit und Bildung. Paderborn u.a.: Schöningh 2007; 29–48.
Astrid Neumann (LĂĽneburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Astrid Neumann: Rezension von: Wegner, Anke / Dirim, Ǐnci (Hg.): Mehrsprachigkeit und Bildungsgerechtigkeit, Erkundungen einer didaktischen Perspektive. Opladen / Berlin / Toronto: Barbara Budrich 2016. In: EWR 15 (2016), Nr. 4 (Veröffentlicht am 02.08.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978384740669.html