Themen im Zusammenhang mit Bildung und Flucht/Neuzuwanderung wurden vor Mitte der 2010er in den Erziehungs-/Bildungswissenschaften und der Migrationsforschung nur marginal behandelt. Seither hat sich das Forschungsinteresse stark verändert, wie die Zunahme von Fachkonferenzen, Forschungsgruppen und Publikationen zeigt. Die Herausgeber:innen dieses Sammelbandes betonen, dass sich zahlreiche Studien in den letzten Jahren „mit der Perspektive zugewanderter junger Menschen beschäftigt und mit der Frage auseinandergesetzt [haben], auf welche Art und Weise junge Zugewanderte das Bildungssystem sowie weitere Teilsysteme wie das Arbeitssystem oder auch Asyl- und Migrationssystem in Deutschland und Österreich erleben“ (12).
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, was den hier rezensierten Sammelband „Bildung im Kontext von Flucht und Migration. Subjektbezogene und machtkritische Perspektiven“ mit seinen 14 Beiträgen (exklusive der Einleitung) auszeichnet. Wie ordnet er sich in die bisherige Forschungs- und Publikationslandschaft ein, ergänzt oder bereichert diese mit neuen Impulsen, Perspektiven oder Erkenntnissen und an wen richtet er sich (z.B. Forschung, Lehre/Studium, Praxis)? Bevor diese Fragen aufgegriffen werden, wird der Entstehungskontext beleuchtet und ein kursorischer Überblick über die Beiträge gegeben, die zwei zentralen Themenblöcken zugeordnet werden.
Wie die Herausgeber:innen einleitend deutlich machen, spiegeln sich in den Beiträgen Diskussionen, Perspektiven und Erkenntnisse, die im Rahmen der zwischen 2017 und 2021 von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Nachwuchsforschungsgruppe „Bildungskontexte und (Aus-)Bildungswege von jungen Geflüchteten im Spannungsfeld von Ein- und Ausgrenzung“ geführt bzw. geteilt wurden (13).
Der erste, vier Beiträge umfassende Block „Theoretische und methodologische Perspektive“ (13) wird mit einem englischsprachigen Aufsatz eröffnet. In diesem sensibilisiert Peter Mayo für die globalen Verstrickungen von Fluchtursachen (insb. Klimakrise, EU-Wirtschaftspolitik). Mit Bezug auf Gramsci stellt er fest, dass durch „misplaced alliances“ (27) eine globale Solidarisierung der Arbeiter:innenklasse verhindert wird. Er erläutert zentrale Elemente einer Bildung, die dafür geeignet erscheint, ein inklusives „working class“-Verständnis zu etablieren, das notwendig ist, um globale Ungleichheitsverhältnisse zu überwinden. Fabian Georgi und Albert Scherr setzen sich jeweils über unterschiedliche Argumentationslinien kritisch mit der Aufgabe von Wissenschaft im Kontext von Flucht und Migration auseinander. Beide plädieren für eine stärkere „Auseinandersetzung mit dem Theorieangebot der Gesellschaftstheorie“ (60) innerhalb des interdisziplinären Flucht- und Flüchtlingsforschungskontexts und der erziehungswissenschaftlichen Migrationsforschung. Scherrs Kritikpunkte an Forschungen sind etwa, dass sich diese oft implizit oder explizit an politischen Themen abarbeiten und den moralischen Anspruch erheben, zur „Verbesserung der Situation“ (54) für Geflüchtete in einer gewünschten Weise beizutragen. Scherr argumentiert für eine klarere Trennung zwischen Forschung und politischem Engagement – wobei Wissenschaftler:innen mehr Ressourcen und Energie in letzteres investieren sollten (60). Der Block schließt mit einem Beitrag von Fenna tom Dieck und Lisa Rosen, die das Potential der konstruktivistischen und reflexiven Grounded Theory für machtkritische Analysen von qualitativen Daten hervorheben. Da sie exemplarisch auf Beobachtungsprotokolle aus ihrer Forschung an Schulen in Italien zurückgreifen, werden machtkritische Kodierungen und Interpretationen sehr anschaulich.
Die Beiträge des zweiten Blocks, der in vier thematische Abschnitte gegliedert ist, diskutieren auf der Grundlage empirischer Befunde „die Relevanz von Bildung im Kontext von Flucht:Migration“ (14). Sie weisen einen stärker subjektbezogenen Charakter auf und basieren überwiegend auf Daten aus Dissertationsprojekten. Miriam Scheffold und Lisa Gulich beschäftigen sich jeweils mit den (Bildungs-)Biographien „junger geflüchteter Frauen“ bzw. „geflüchteter Lehrer:innen“. Anhand biographisch-narrativer Interviews werden gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse, wie die fehlende Anerkennung von Qualifikationen, und der Umgang bzw. das „Ankämpfen gegen diese“ (106) herausgearbeitet.
Drei weitere Beiträge beschäftigen sich mit der Relevanz von Sprache(n) und Übersetzungspraktiken im schulischen und außerschulischen Bereich. Natascha Khakpour entwickelt unter Rückgriff auf Gramsci und Hall einen theoretischen Rahmen, in dem „Deutsch-Können als machtvolle, hierarchisierende und kontingente Signifizierungspraxis“ (118) erscheint. Daran anschließend diskutiert sie anhand des Auszugs eines Schüler:innen-Interviews die machtvolle Bedeutung des Lobens einer Lehrerin („Seht, wie sie gelernt hat. Ihr müsst auch so lernen!“, 120). Auf Basis einer ethnographischen Beobachtung einer Online-Schulung für ehrenamtliche „Kulturdolmetscher(:innen)“ mit „Migrationshintergrund“ in Sachsen zeigt Fenna La Gro auf, wie in den Konzepten eine „national-kulturelle Idee von abgrenzbaren Kulturen“ (135) zum Ausdruck kommt. An die kulturalisierten Kulturdolmetscher:innen wird implizit die Erwartung gestellt, eine „eigentlich unmögliche Aufgabe“ zu lösen, nämlich „ein gesellschaftliches Problem durch individuelles Handeln aufzulösen“ (138). Unter Einnahme einer professionalisierungs- und linguizismuskritischen Perspektive analysieren Ioanna Lialiou, Carolin Rotter und Nicolle Pfaff, wie für geflüchtete, außerhalb Deutschlands qualifizierte Lehrkräfte, die an deutschen Schulen unterrichten, die „sprachliche Perfektion“ (149) als Norm und Zielmarke ihren Professionalisierungsprozess bestimmt.
Drei weitere Beiträge betrachten Beschulungspraktiken. Stephanie Warkentin und Anna Cornelia Reinhardt beschäftigen sich im Rahmen ethnographischer Forschungen jeweils mit Fragen zur Bildungsteilhabe von Schüler:innen in Vorbereitungsklassen, die Reinhardt als „komplexe Übergangssituation“ konzeptualisiert (177).
Sie zeigen anhand von Interviewauszügen mit Schüler:innen bzw. Protokollen, in denen Handlungen und Interaktionen von Lehrpersonen fokussiert werden, welche machtvolle „Gatekeeperposition“ Lehrpersonen „an der Übergangsschwelle“ (187) von Vorbereitungs- zu Regelklassen einnehmen. Demgegenüber positionieren sich jedoch einige Schüler:innen auch als „mündiges, handlungsfähiges Subjekt“ und beanspruchen ihr „Recht zur Mitgestaltung und Mitbestimmung ihrer eigenen Bildungsbiografie“ (170). Cristina Diz Muñoz und Juliane Engel wenden sich Erwachsenen zu, die in ihrer Kindheit oder Jugend eine Schulerfahrung in einer segregierten „Ausländerregelklasse“ (191) gemacht hatten. Die methodische Besonderheit besteht darin, dass Daten mittels narrativ-biographischer Interviews und darüber hinaus mit „videographic walks“ erhoben werden, bei denen ehemalige Schüler:innen und Forscher:innen Schul- und Unterrichtsräume gemeinsam besuchen und filmen. Das damalige Erleben und die biographischen Auswirkungen werden vulnerabilitätstheoretisch kontextualisiert.
Unter dem Abschnitt „Intersektionale Zugänge als Forschungs- und Praxisperspektive“ werden die letzten beiden Beiträge zusammengefasst. Aus einer rassismuskritischen Perspektive diskutiert Ellen Kollender die prekäre Bildungssituation syrischer Kinder und Jugendlicher in der Türkei. Auf Basis der Analyse bildungspolitischer Dokumente und von Interviews mit Vertreter:innen bildungsrelevanter Organisationen in Istanbul stellt sie u.a. fest, dass bzgl. „der Bildungssituation von geflüchteten Kindern und Jugendlichen an der EU-Außengrenze […] über Rassismus sowie hieraus resultierende Bildungsausschlüsse zumeist geschwiegen“ werde (224). Für den Beitrag von Julia Cholewa und Annette Korntheuer erscheint die Abschnittsüberschrift besonders passend.
Ausgehend von dem Vorhaben, Beratungsinteraktionen in Jobcentern zu beobachten, und dem Wissen über Diskriminierungsvulnerabilitäten in diesen Settings, gehen Cholewa und Korntheuer der Frage nach, wie „Intersektionalität als analytische Strategie in der Sozialarbeitsforschung verstanden und angewendet werden kann“ (232).
Im Hinblick auf die Einordnung des Sammelbandes in die Publikationslandschaft lässt sich festhalten, dass seine Relevanz darin besteht, dass die sprachlich sehr anschaulich gestalteten Beiträge mit verschiedenen Schwerpunktsetzungen eine Bandbreite an Möglichkeiten aufzeigen, wie Forschung im Bereich Bildung und Flucht/Migration machtkritisch reflektiert und gestaltet werden kann. Zudem schärfen die empirischen Einblicke in die Herausforderungen und Auseinandersetzungen geflüchteter Personen mit und innerhalb unterschiedlicher Machtverhältnisse das Bewusstsein für soziale Ungleichheitslagen und verdeutlichen gleichzeitig die Handlungsfähigkeit von potenziell vulnerabilisierten Personen. Die Lektüre ist vor allem für diejenigen empfehlenswert, die ein Dissertations- oder Forschungsprojekt planen oder bereits durchführen. Einige der Beiträge eigenen sich auch für die universitäre Lehre, insb. erziehungswissenschaftliche Masterstudiengänge.
Wer jedoch auf der Suche nach konkreten Lösungsvorschlägen oder -maßnahmen für die Praxis ist, wird hier nicht fündig. Vielmehr liegt der Wert dieses Bandes in der Sensibilisierung für komplexe Machtverhältnisse und Erfahrungen geflüchteter Personen in Bildungssettings, die Reflexionsgrundlagen für die Forschung sowie das pädagogische Handeln im Nexus Bildung und Flucht/Migration schaffen.
EWR 23 (2024), Nr. 3 (Juli)
Bildung im Kontext von Flucht und Migration
Subjektbezogene und machtkritische Perspektiven
Bielefeld: transcript Verlag 2024
(250 S.; ISBN 978-3-8376-6311-2; 45,00 EUR)
B. Johanna Funck (Bremen)
Zur Zitierweise der Rezension:
B. Johanna Funck: Rezension von: Bettina, Fritzsche, / Natascha, Khakpour, / Christine, Riegel, / Miriam, Scheffold, / Stephanie, Warkentin, (Hg.): Bildung im Kontext von Flucht und Migration, Subjektbezogene und machtkritische Perspektiven. Bielefeld: transcript Verlag 2024. In: EWR 23 (2024), Nr. 3 (Veröffentlicht am 14.08.2024), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383766311.html
B. Johanna Funck: Rezension von: Bettina, Fritzsche, / Natascha, Khakpour, / Christine, Riegel, / Miriam, Scheffold, / Stephanie, Warkentin, (Hg.): Bildung im Kontext von Flucht und Migration, Subjektbezogene und machtkritische Perspektiven. Bielefeld: transcript Verlag 2024. In: EWR 23 (2024), Nr. 3 (Veröffentlicht am 14.08.2024), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383766311.html