Schon der Titel der vorliegenden Veröffentlichung klingt verheiĂungsvoll: Die Welt als Klassenzimmer! Das löst vermutlich bei den am BildungsgeschĂ€ft Beteiligten vielfĂ€ltige Assoziationen aus: Entdeckendes Lernen, das die engen Grenzen des Klassenraums sprengt und öffnet und die Schule in die Alltagswelt oder die Alltagswelt in die Schule holt. Der Untertitel grenzt diesen weiten Erwartungshorizont ein: es geht um die Erhebung und Darstellung der subjektiven Theorien von LehrkrĂ€ften ĂŒber auĂerschulisches Lernen, richtet die Perspektive also auf die Lehrenden. Ein Blick ins Inhaltsverzeichnis und das Vorwort zeigt das spezifische Anliegen der Veröffentlichung: es handelt sich um eine Qualifikationsschrift im Bereich Erziehungswissenschaft und Psychologie der UniversitĂ€t Siegen. Mit der Siegener Variante qualitativer Forschung wurden durch halbstandardisierte Interviews und Struktur-Lege-Sitzungen die subjektive Theorien katholischer ReligionslehrkrĂ€fte erhoben, die an einem sehr besonderen Lernort, nĂ€mlich in der Kirche, unterrichten.
In dem Eingangskapitel werden der konzeptuelle Rahmen der Studie und das Forschungsinteresse begrĂŒndet und dargestellt: Die Verfasserin verfolgt zwei Ziele: Sie möchte zum einen durch Erhebung der Sichtweisen von GrundschullehrkrĂ€ften den Diskurs um auĂerschulisches Lernen bereichern, andererseits möchte sie das Forschungsprogramm Subjektive Theorien durch die Konstruktion und Anwendung von Methoden zur Erhebung und Analyse weiterentwickeln (15ff). Die Wahl des Kirchenraums als auĂerschulischer Lernort wird bereits hier reflektiert und dieser als hervorragend geeignet ausgewiesen, da er LehrkrĂ€ften den gröĂtmöglichen Spielraum bei der Schwerpunktsetzung eröffne und man somit ihre subjektiven Theorien gut herausarbeiten könne (12).
Im zweiten Kapitel wird eine komprimierte, detaillierte Analyse des Begriffs âAuĂerschulisches Lernenâ in mehreren thematischen Unterkapiteln vorgenommen. Detailliertes Wissen zu Begriffsbestimmung und Historie, zu aktuellen Konzepten, zu der Rolle von LehrkrĂ€ften als Expertin bzw. Experte wird referiert. Im dritten Teilabschnitt (45ff) wird der Frage nachgegangen, was den Kirchenraum als besonderen Lernort auszeichnet. Die Verfasserin vermag es zwar, die unterschiedlichen Dimensionen des Kirchenraums (liturgisch, spirituell, auratisch und kulturell) darzulegen, verengt die Perspektive aber von vornherein auf die Funktion als Lernort (19ff). Hier wĂ€re aus theologischer Sicht zu fragen gewesen, ob nicht gerade die auratische Dimension als Ort des Heiligen einer unterrichtlichen Verzweckung als Lernort diametral entgegensteht. Die Differenz von profanem AuĂenraum und sakralem Innenraum verweist darauf, dass KirchenrĂ€ume eben gerade nicht Teil der Alltagswelt sind. Gleichwohl muss man der Verfasserin bescheinigen, dass sie sich sehr umfĂ€nglich in Konzepte der KirchenraumpĂ€dagogik eingearbeitet hat und einen guten Ăberblick ĂŒber die Forschungslage anbietet, aus der nach einem weiteren, Elemente der Kognitionspsychologie aufgreifenden Grundlagenkapitel zu Subjektiven Theorien zwei Fragestellungen extrahiert werden (89): Beabsichtigt ist erstens die Erforschung der subjektiven Theorien von ReligionslehrkrĂ€ften ĂŒber UnterrichtsgĂ€nge im Kirchenraum anhand individueller Theorien und ĂŒberindividuellen Inhalts-Struktur-Kombinationen und zum zweiten die Rekonstruktion dieser Theorien im Spannungsfeld von Konzepten auĂerschulischen und binnenschulischen Lernens durch die LehrkrĂ€fte. Folgerichtig widmet sich das vierte Kapitel den Entscheidungen und BegrĂŒndungen des Forschungsdesigns und der Methoden. In kleinschrittiger Differenziertheit und Ă€uĂerster Sorgfalt gibt die Verfasserin den Nachweis ihrer wissenschaftlichen methodologischen Kompetenz; sie erlĂ€utert den Ablaufplan und dokumentiert die verwendeten Methoden der Datengewinnung und Auswertung durch Interviewleitfaden, Strukturlegemethode, qualitative Inhaltanalyse in Auseinandersetzung mit den Kriterien qualitativer Sozialforschung. Die EigenstĂ€ndigkeit der Verfasserin zeigt sich insbesondere in der Modifikation der Strukturlegemethode, die sie als âSiegener Varianteâ in Anlehnung an ihren Forschungsstandort bezeichnet (115ff): Aus den Interview extrahierte Aussagen werden auf Karten verschriftet und von den Befragten in einer videographierten Sitzung zu einer Struktur gelegt, zugeordnet und kommentiert.
Dem schlieĂt sich das Hauptkapitel der Arbeit an, in dem auf mehr als 150 Seiten die subjektiven Theorien der acht Probandinnen und Probanden strukturiert und mit beeindruckender PrĂ€zision aufgezeigt werden. Besonderes Gewicht erhĂ€lt dabei die Lehrerin Hanna (141-181), an deren Beispiel die Verfasserin entfaltet, wie insgesamt neun Cluster aus dem Interview gewonnen werden konnten, wie diese von der Probandin eigenstĂ€ndig in eine Beziehung gebracht wurden, um dann von der Forscherin analysiert und interpretiert zu werden. Die Darstellung der Subjektiven Theorien aller Beteiligten erfolgt in Kurzform anhand von differenzierten Clusterkarten (181-211). In der Analyse identifiziert die Verfasserin drei verschiedene Ordnungsprinzipien der Probanden, um die verschiedenen Aussagen erkenntnisleitend miteinander zu verbinden: Prinzip Lernort Kirchenraum, Prinzip zeitliche Abfolge des Unterrichtsprozesses und als drittes Prinzip, dass keine ordnende Strategie dominant auftritt. Bemerkenswert sind die Analysen, die anhand verschiedener Parameter â wie dem persönlichen Bezug zum Lernort, auĂerschulischen Lernsettings, den Zielen von UnterrichtsgĂ€ngen, der Verbindung von Klassenzimmer und auĂerschulischem Lernort, dem Umgang mit Vorerfahrungen der SchĂŒlerinnen und SchĂŒler und der Zusammenarbeit mit Expertinnen und Experten â nunmehr ĂŒberindividuelle Strukturen herausarbeiten (223-301). Diese werden in dem Abschlusskapitel (303-352) gebĂŒndelt und zusammengefasst, dabei wird auch die Methode einer kritischen WĂŒrdigung unterzogen.
Hier macht die Verfasserin deutlich, wie stark die eigene Beziehung zum Ort Kirche auch die unterrichtlichen Zielperspektiven der Probandinnen und Probanden prĂ€gt und dass die besondere Aura des Ortes auch vielfĂ€ltige methodische ZugĂ€nge einschlieĂt, die ĂŒber kognitive Erkenntnisse hinausgehen und die sinnlich-Ă€sthetische Erfahrung in den Vordergrund rĂŒcken, dies auch, um angesichts verĂ€nderter religiöser Sozialisationsbedingungen durch originale Begegnung positive BezĂŒge zur Kirche als Institution zu entwickeln. Speziell diese Ergebnisse können der religionspĂ€dagogischen Forschung anschlussfĂ€hige Impulse liefern, ob sich die erhobenen Kategorien dementsprechend auf andere auĂerschulische Lernorte ĂŒbertragen lieĂen, mĂŒsste diskutiert werden.
ErwartungsgemÀà besteht ein GroĂteil der Arbeit aus der Darlegung der zugrunde liegenden Methoden zur Datenerhebung, Auswertung und Darstellung der Ergebnisse und dĂŒrfte damit eher die Interessen von Forschenden als von Praktikerinnen und Praktikern ansprechen. Hervorzuheben ist, dass die Verfasserin die Arbeit interdisziplinĂ€r zwischen Erziehungswissenschaft und Psychologie verortet und darĂŒber hinaus Fragestellungen der ReligionspĂ€dagogik einbezieht. Allerdings ist zu konstatieren, dass sie einige Spezifika der religionspĂ€dagogischen Forschung trotz ihres ansonsten sehr breit ausgefĂŒhrten und dokumentierten wissenschaftlichen Kenntnisstandes eher randstĂ€ndig berĂŒcksichtigt. Dies betrifft insbesondere die Rolle und das SelbstverstĂ€ndnis von ReligionslehrkrĂ€ften als besondere LehrkrĂ€fte, die aufgrund der spezifischen Konstitution des Religionsunterrichtes als âres mixtaâ zwischen Staat und Religionsgemeinschaft immer in einem SpannungsverhĂ€ltnis zwischen den Institutionen Schule und Kirche stehen. Dies hĂ€tte durchaus stĂ€rker berĂŒcksichtigt werden mĂŒssen, zumal es ja den Untersuchungsgegenstand âLernort Kircheâ betrifft. Es ist daher erstaunlich, dass die Verfasserin bei der Darstellung des Forschungsstandes die breite Anzahl von empirischen Studien zu ReligionslehrkrĂ€ften â insbesondere von den Forschungsgruppen um Andreas Feige und Werner Tzscheetsch â nicht berĂŒcksichtigt.
Nach meiner EinschĂ€tzung vermag es die Verfasserin hervorragend, multiperspektivisch anhand der doppelten Fragestellung qualitative Verfahren der Sozialforschung auf erziehungswissenschaftliche und psychologische Forschungslogiken anzuwenden. Wer selbst in Forschungsprojekten involviert ist, wird in den sorgfĂ€ltigen Referaten und Analysen sowie der ausfĂŒhrlichen Bibliographie sehr hilfreiche DenkanstöĂe bekommen. Wer aber aufgrund des plakativen Titels Anregungen fĂŒr eine Ăffnung des Unterrichts auf die Lebenswelt hin erwartet, dĂŒrfte enttĂ€uscht werden. Man kann der Verfasserin wĂŒnschen, dass sie losgelöst von den ZwĂ€ngen wissenschaftlicher Formalismen ihre Ergebnisse lesefreundlicher und pointierter einer breiteren Leserschaft prĂ€sentieren könnte.
EWR 17 (2018), Nr. 4 (Juli/August)
Die Welt als Klassenzimmer
Subjektive Theorien von LehrkrĂ€ften ĂŒber auĂerschulisches Lernen
Bielefeld: transcript 2017
(394 S.; ISBN 978-3-8376-4020-5; 49,99 EUR)
Ingrid Wiedenroth-Gabler ( Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ingrid Wiedenroth-Gabler: Rezension von: Katharina, Kindermann,: Die Welt als Klassenzimmer, Subjektive Theorien von LehrkrĂ€ften ĂŒber auĂerschulisches Lernen. Bielefeld: transcript 2017. In: EWR 17 (2018), Nr. 4 (Veröffentlicht am 30.08.2018), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383764020.html
Ingrid Wiedenroth-Gabler: Rezension von: Katharina, Kindermann,: Die Welt als Klassenzimmer, Subjektive Theorien von LehrkrĂ€ften ĂŒber auĂerschulisches Lernen. Bielefeld: transcript 2017. In: EWR 17 (2018), Nr. 4 (Veröffentlicht am 30.08.2018), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978383764020.html